Читать книгу Outsider - Jonathan Wilson - Страница 6
ОглавлениеProlog
Mein größter Augenblick im Sport? Ganz einfach: die letzte Minute in einem Schul-Hockeyspiel gegen Whickham, die einzige Mannschaft im Nordosten, die uns das Wasser reichen konnte. Es stand 0:0, und Whickham hatte eine Strafecke. Das Anspiel kam, zwei Verteidiger stürmten vor, und der Ball wurde vom gegnerischen Mittelfeldmann angenommen. Der hieß Robson und spielte in der englischen Jugendauswahl. Er holte erst zum Schlagschuss aus, entschied sich dann aber doch für einen Schlenzer. Währenddessen ging mir durch den Kopf, dass er außerhalb des Schusskreises war. Ich kann mich noch erinnern, wie der Ball rechts von mir an Höhe gewann und ich dachte, dass ich ihm zumindest hinterherhechten musste, selbst wenn Robson außerhalb des Schusskreises gewesen sein sollte. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen.
Ich überlegte, was das Reglement wohl vorsah, wenn er von außerhalb des Kreises geschossen hatte und der Ball von meinem Stock abprallte. Durch das Helmgitter konnte ich den roten Airtex-Ärmel meines Trikots, meinen dicken weißen Handschuh und das Schwarz und Blau meines Stocks sehen. Als ob ich alle Zeit der Welt hatte, winkelte ich den Stock mit einer Bewegung aus dem Handgelenk an, um den Ball abzufangen. Plötzlich kam die Verbindung von Pfosten und Querlatte in mein Blickfeld. Dann schlug der Ball ungefähr 15 Zentimeter vor dem Torwinkel gegen den Wulst des Stocks. Ich schaute kurz nach unten – auch hier kann ich mich noch genau an meinen Gedankengang erinnern – und war erschrocken, wie weit oben ich mich befand. Mein unmittelbar nächster Gedanke war, wie weh es wohl gleich tat, wenn ich auf dem Boden aufkam.
Es tat aber nicht weh. Zu den wenigen Vorteilen eines Hockey-Torwarts gehört, dass die komplette Vorderseite des Körpers durch fünf Zentimeter dicken, festen Schaumstoff geschützt ist. Ich konnte sehen, wie der Ball davonwirbelte und sich für den Bruchteil einer Sekunde niemand in dessen Richtung zu bewegen schien. In diesem Augenblick herrschte eine herrliche Stille, eine völlige Geräuschlosigkeit. Solch ein Gefühl hatte ich nie zuvor erlebt, und auch danach nur noch ein einziges Mal. Das war beim Cricket – bei einem Hechtsprung auf short midwicket, mit dem ich ein widerspenstiges ninth wicket partnership abschloss. Damit entschied ich eine Low-Scoring-Partie gegen die BBC zugunsten meines Örtchens aus Oxfordshire. Ich sah den Ball in meinen linken Handteller klatschen und dachte sogar kurz: „Genau wie in dem Spiel gegen Whickham!“ Dann schlug ich schmerzhaft auf Schulter und Hüfte auf.
Zwei Geschehnisse, zwölf Jahre auseinander. Für jemanden, der 30 Jahre lang durchschnittlich einmal pro Woche irgendeine Sportart betrieben hat, mag das nicht nach viel klingen. Aber zumindest habe ich dieses Gefühl schon mal selbst erlebt. Ich bin mir sicher, dass richtige Sportler regelmäßig das Gefühl haben, dass die Zeit langsamer abläuft und sie alles unter Kontrolle haben. Ajax Amsterdams Trainer David Endt meinte einmal dazu: „Die Sekunden der ganz Großen dauern länger als die normaler Menschen.“ Es gibt Belege dafür, dass das Gefühl von Kontrolle täuscht, dass es eine Erfindung des Gehirns ist, um sich einen Reflex, der eigentlich in den Muskeln seinen Ausgang nimmt, zu erklären. Wo auch immer das Ganze herkommen mag – ein Gefühl von Kontrolle über kleinste und wahnsinnig schnell ablaufende Veränderungen scheint zentraler Bestandteil sportlicher Höchstleistungen zu sein.
Die Besten der Besten haben dieses Gefühl wohl die meiste Zeit. Beim ersten Mal dachte ich, dass es ein Zustand für die Ewigkeit sei, dass ich durch mein Training nun vielleicht ein Niveau erreicht hatte, auf dem die Zeit und meine Reflexe eine harmonische Einheit bildeten. Ich erläuterte diese Möglichkeit sogar abends im Kleinbus auf dem Weg zu einer Lateinvorlesung in York in einer für meine Zuhörer wohl äußerst ermüdenden Breite. Interessiert hat es keinen. Ich kam mir vor wie die Hobbits, die ins Auenland zurückkehren, wo ein jeder viel zu sehr mit seinem eigenen, alltäglichen Leben beschäftigt ist, um sich für ihre Abenteuer zu interessieren. Aber wer wusste denn schon, welche Höhen ich noch erklimmen konnte? Wenn ich sogar den Schlenzer eines Mittelfeldspielers der englischen Nationalmannschaft aus dem Winkel pflücken konnte, was sollte mich dann noch auf meinem Weg in die englische Auswahl aufhalten?
Eine Woche später hatten wir unser nächstes Spiel, eine Auswärtsbegegnung bei der Hall Cross School in Doncaster. Ich bekam nicht viel zu tun, bis deren Stürmer unmittelbar vor der Pause in den ziemlich bevölkerten Schusskreis eindrehte und aufs Tor schoss. Mir fehlte die Sicht, aber ich warf mich trotzdem. Ich ging davon aus, dass mein langgestreckter Körper den Ball aufhalten würde. Das hätte er wohl auch getan, aber der Stürmer traf den Ball nicht richtig, so dass er durch den winzigen Zwischenraum zwischen meinen Füßen und dem Pfosten rutschte. Am Ende hatten wir 0:4 verloren, und großzügig geschätzt gingen zwei der drei übrigen Tore auf mein Konto. Im Bus Richtung Heimat wurde ich auf den Vordersitz neben dem Lehrer verbannt. Damit war mein Traum von höheren Weihen ausgeträumt. Es bedeutete auch mein Ende als Torhüter. Danach sollte es nie wieder so laufen wie vorher.
Ich spielte die Saison noch zu Ende. Nach einem Jahr als Lehrer in einem tibetanischen Kloster und Tellerwaschen in einem Pub in Sunderland begann ich schließlich mein Studium. An der Uni wollte ich nicht mehr den Ball ständig mit einem Tempo auf mich zuflitzen lassen, bei dem ich auch durch die Schutzpolsterung hindurch noch blaue Flecke bekam. Dafür waren die Augenblicke des Ruhms zu selten, zu vergänglich und interessierten auch niemanden wirklich. Außerdem war mir völlig klar, dass ich über kurz oder lang wieder eine so schlechte Partie abgeliefert hätte, dass sie mir für lange Zeit zu schaffen gemacht hätte. Schließlich waren seit dem Spiel bei Hall Cross mittlerweile auch schon 19 Jahre vergangen, und trotzdem nagte sie immer noch an mir.
Wenn sie dringend jemanden brauchten, stand ich noch ab und zu für die Barnes Beavers im Tor. Mit der Mannschaft spielte ich in der Surrey League. Gegen die Wanderers hatte ich im Battersea Park mal so einen richtig guten, verkaterten Tag. Es war eines der Spiele, in denen einen der Ball immer trifft, egal, was man macht. Zehn Minuten vor dem Abpfiff hatten wir ein torloses Unentschieden dicht vor Augen. Doch dann musste ich mich noch durch ein Eigentor geschlagen geben. Roger, hüftsteif, grauhaarig und Mitte 40, fälschte eine Flanke von der rechten Seite in die kurze Ecke ab, als ich zum Klären herausgekommen war. Seitdem habe ich nie wieder im Tor gestanden: Es ist einfach zu grausam, zu frustrierend.
Vielleicht ist das ja auch der Grund dafür, dass Torhüter tendenziell eher nachdenkliche Typen sind und zur Introvertiertheit neigen. Vielleicht versuchen sie, eine rationale Erklärung für all die Ungerechtigkeiten zu finden, die Menschen unverdientermaßen erleiden müssen. Zu klären bleibt allerdings, ob die Position des Torhüters besonders attraktiv für Schwarzseher ist oder ob sie erst die Position zu Schwarzsehern macht. Ähnlich verhält es sich auch mit der Tatsache, dass Torhüter häufig Individualisten sind.
Ihr Individualismus macht Torhüter nicht zwangsläufig zu Intellektuellen, aber zumindest zu Menschen, die selbstständig denken können. Unter dem Strich liefern Torhüter bessere Interviews als andere Spieler. Vielleicht beschäftigt sich die Literatur in den seltenen Fällen, in denen sie sich mit Fußball auseinandersetzt, ja deshalb so überproportional häufig mit Torhütern. Da gibt es beispielsweise Duffy, einen der bekanntesten fiktiven Detektive der 1980er Jahre: ein zynischer, bisexueller Ex-Polizist. Erfunden hat die Figur Julian Barnes unter seinem Pseudonym Dan Kavanagh. Barnes spielte selbst ab und an im Tor. Sein 1985 erschienener Roman Putting the Boot In, in Deutschland erschienen unter dem Titel Grobes Foul, gehört zu den wenigen Romanen, die die Welt des Fußballs realistisch darstellen. Die war damals ein trostloser, gewalttätiger Ort, wo Hooliganismus grassierte und Neonazis an den Stadioneingängen ihre Pamphlete verteilten. Doch für Duffy gibt es zumindest zu Beginn des Romans noch eine andere, größere Bedrohung: AIDS. Der ohnehin schon pingelige Mann sucht stundenlang seine Haut nach braunen Malen ab, die er für Anzeichen einer Infektion hält, und macht sich gleichzeitig Gedanken um die Inkubationszeit.
Außerdem kickt Duffy in einer Freizeitmannschaft. In der rauen, unverhohlen männlichen Welt des Fußballs ist er ein unsicherer Außenseiter. Und natürlich ist er Torhüter. Das einleitende Kapitel von Putting the Boot In führt in den Fall ein – es geht um einen Spieler des Londoner Drittligisten „Athletic“, der sich absichtlich auf einem Parkplatz die Achillessehne gerissen hat – und zeichnet Duffys Gedanken während eines Kicks nach. Er macht sich Sorgen wegen eines „kleinen, fixen Rotblonden“ auf Außen, der zulangen kann wie ein Innenverteidiger. Außerdem fürchtet Duffy wie andere Keeper auch, „schlecht zu spielen und zu verlieren und seine Mannschaft in Schwierigkeiten zu bringen und getreten zu werden und eine Strafe aufgebrummt zu kriegen und ein Scheißer genannt zu werden“. Aber Duffys Ängste gehen noch tiefer:
„Einer der Gründe, warum er den Torwartjob mochte – und einer der Gründe, warum er sich Sorgen machte – war, dass er alles gern ordentlich hatte. Er liebte das ordentliche Rechteck des Strafraumes; er liebte es, wie sein Revier, sein Polizeibezirk, abgegrenzt war. Für alles, was innerhalb dieses Kastens passiert, bist du verantwortlich, Duffy; er fühlte sich wie ein junger Polyp, der auf seine erste Runde geschickt wird. Er mochte es auch, dass alles in seinem Bezirk Ecken hatte: der Strafraum, der Torraum, der Holzrahmen; sogar das Netz bestand aus Quadraten. Er liebte diese rechten Winkel, sie gaben ihm Sicherheit. Der einzige Ort auf seinem Stück Land, der keine Ecken hatte, war der Elfmeterpunkt. Ein großer, fetter, runder Kreideklecks, der aussah, als ob ein blödes Vieh von Riesentaube sich entschlossen hätte, genau in die Mitte von Duffys Polizeibezirk abzupladdern: plitsch.“
Er ist neurotisch, und er hasst Strafstöße. Damit erinnert er – bewusst oder unbewusst – an den berühmtesten ernsthaften Fußballfilm: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter von Regisseur Wim Wenders. Dieser Film wie auch dessen Romanvorlage von Peter Handke haben massiv beeinflusst, wie der Torwart weithin gesehen wird, ob dieses Verständnis nun korrekt sein mag oder nicht.
In meinem Buch geht es um Torhüter und über das Spiel des Torhüters, aber auch um die Darstellung des Torwarts in der Kultur: von den unglücklichen Figuren in den britischen Filmen Kes und Gregory’s Girl bis hin zum Helden im sowjetischen Singspiel Wratar. Auch wenn es teilweise um technische und taktische Aspekte der Position geht, soll dies kein Trainingshandbuch sein. Vielmehr soll gezeigt werden, wie sich der Torhüter im Laufe der Zeit geändert hat, auch was sein Ansehen in verschiedenen Ländern betrifft. Es geht um das Verhältnis zwischen einem Individuum und der Mannschaft, und es geht darum, wie der Sport die politische Kultur seiner Zeit reflektiert und auf sie reagiert. Das Buch ist auch keine Enzyklopädie der Torhüter, und manch ein hervorragender Torwart taucht gar nicht erst auf oder wird nur nebenbei erwähnt. Hier geht es um diejenigen, die den größten Einfluss auf unsere Vorstellungen von der Lebens- und Gefühlswelt des Torhüters hatten oder aber sie am stärksten in Frage stellten.