Читать книгу Dracula junior - Jonathan Cole - Страница 8
Drittes Kapitel, in dem Vlad viel Geld in einem kleinen Horrorladen lässt und Lilith zwei kleine Särge im Gepäck hat
Оглавление»Muss ich unbedingt mitkommen?«, fragte Dorian lustlos. »Ich hasse Shopping.«
»Natürlich kommst du mit«, entgegnete sein Vater. »Du brauchst sicher auch noch ein paar Sachen für die Reise.«
Dorian seufzte. Er wusste, wann Widerstand zwecklos war. Sie verließen das Familienschloss. Vlad holte den uralten Bentley aus der Garage, der nur mit Mühe ansprang. Der Auspuff knallte, und eine schwarze Wolke breitete sich hinter ihnen aus. Dorian wartete nur darauf, dass die Kiste eines Nachts endgültig den Geist aufgab.
Mit vierzig Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit erreichten sie nach einer halben Stunde ein kleines Dorf, das außer einer Tankstelle, einer Kneipe und einer Bank nichts zu bieten hatte.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Dorian skeptisch.
»O ja.« Vlad bog in die Tankstelle ein, aber anstatt vor einer Zapfsäule stehen zu bleiben, fuhr er in den Hinterhof ein. Jetzt sah Dorian den Aluminiumanbau.
»Victorias kleiner Horrorladen«, stand auf dem Schild über der Tür.
»Hier bekommen wir alles, was wir brauchen«, sagte Vlad und stieg aus.
Dorian folgte seinem Vater. Eine Ladenglocke ertönte, als sie die Tür öffneten. Dorian blickte nach oben und entdeckte eine Traube aus silbernen Totenschädeln, die bimmelte, wenn jemand den Laden betrat.
Das Geschäft sah innen viel vornehmer aus, als Dorian erwartet hatte. Funkelnde Kronleuchter hingen von der Decke. Aus unsichtbaren Lautsprechern ertönte leise klassische Musik. Dorians Füße versanken in einem weichen blutroten Teppich.
Bei ihrem Eintreten erhob sich eine Frau aus einem schwarzen Ledersessel.
Vermutlich war es die Ladeninhaberin Victoria. Sie war sehr groß und schlank und trug ein langes schwarzes Seidenkleid, das mit Pailletten besetzt war. Sie glitzerten bei jeder Bewegung.
»Willkommen bei Victoria, meine Herren! Womit kann ich dienen?«, fragte die stark geschminkte Frau freundlich und entblößte beeindruckende Reißzähne. Lidschatten und Lippen waren dunkelviolett.
»Wir wollen eine weite Reise machen«, antwortete Vlad. »Erst mit dem Flugzeug, dann mit einem Kreuzfahrtschiff.«
»Ich verstehe«, sagte Victoria. »Sie brauchen etwas Elegantes fürs Kapitänsdinner.«
Dorian verdrehte die Augen. Er brauchte überhaupt nichts Elegantes!
Vlad war jedoch hingerissen. Dorian beobachtete mit Schrecken, wie sein Vater es genoss, sich beraten zu lassen. Eine halbe Stunde später standen Dorian und Vlad einander in fast identischen schwarzen Anzügen gegenüber.
»Die Herren sehen fantastisch aus«, versicherte ihnen Victoria. »Zum Anbeißen, alle beide.«
Vlad lächelte geschmeichelt. Er wandte sich an seinen Sohn. »Wie findest du mich, Dorian?«
Dorian hätte gern etwas anderes gesagt, aber er konnte Victorias Worte nur wiederholen. Der Anzug stand seinem Vater sehr gut. Victoria hatte Geschmack. Dorian hoffte, dass sein Anzug ihm ebenso gut stand. In diesem Moment hätte er sich gern im Spiegel betrachtet.
»Du siehst viel älter aus als dreizehn,« meinte Vlad. »Ich würde dich für siebzehn halten.«
Victoria nickte bestätigend.
Dorian fühlte sich auch gleich wie siebzehn. Vielleicht war der Laden doch nicht so schlecht.
»Wir nehmen die Anzüge«, entschied Vlad.
Victoria überredete ihn noch zu einigen neuen Hemden und Socken für sie beide. Dorian bekam sogar neue schwarze Schuhe aus feinstem Lackleder. Danach wandten sie sich den Regenumhängen zu. Es gab bodenlange aus wasserabweisender Seide. Sie besaßen eine weite Kapuze, die man bei Bedarf mit einem schwarzen Samtband enger schnüren konnte. Vlad ließ sich zwei in ihren Größen einpacken. Außerdem kaufte er je zwei Paar Handschuhe aus weichem Leder, einmal in Schwarz und einmal in Dunkelgrau.
»Eine gute Wahl«, sagte Victoria. »Auf einem Kreuzfahrtschiff kann man bei stärkerem Seegang schon einmal nass werden.« Sie zeigte Vlad und Dorian ein wasserfestes Smartphone. Vlad war sofort begeistert, aber Dorian schüttelte den Kopf.
»Meins ist noch ziemlich neu, und ich bin sehr zufrieden«, murmelte er.
Vlad hingegen schien im Kaufrausch zu sein. Victoria führte ihn und Dorian in einen kleinen Nebenraum.
»Und hier sind die Reisesärge«, sagte sie geschäftstüchtig. Dorian kam sich vor wie in einem Beerdigungsinstitut. Neben den normal großen Modellen gab es auch eine Reihe Minisärge, die kleiner waren als eine Schuhschachtel.
»Sind die für Haustiere?«, fragte Vlad.
»Oh nein.« Victoria lachte. »Diese Minis sind sehr praktisch, falls Sie die Reise in Gestalt einer Fledermaus antreten.«
Dorian erinnerte sich an die Flugreise nach Italien, die er in Liliths Kosmetikköfferchen verbracht hatte. So ein Minisarg war garantiert bequemer und luxuriöser. Vlad ließ sich bereits ein solches Modell vorführen. Es bestand aus Ebenholz und hatte goldene Verzierungen. Victoria klappte den Sarg auf und zeigte Vlad, wie weich die Innenpolsterung war.
»Reine Seide, wahlweise in Weiß, Blutrot oder Schwarz«, sagte sie. »Und sehen Sie: Dieser Sarg besitzt an der breiten Seite sogar eine Schublade.«
»Wozu ist die denn da?«, wollte Dorian wissen.
»Sie können etwas Heimaterde hineinstreuen, dann werden Sie während der Reise den allerbesten Schlaf finden«, antwortete Victoria und lächelte ihn an.
Vlad überlegte kurz. Das Modell war recht teuer, aber die goldenen Verzierungen funkelten so schön, dass er davon regelrecht hypnotisiert wurde.
»Nehmen wir«, sagte er.
Sie kauften noch allerlei Mittel gegen Reiseübelkeit, Flugangst, Taucherkrankheit und Malaria. Als Dorian den Betrag auf der Registrierkasse sah, wurde ihm fast schwindelig. Doch Vlad zückte nur seine Kreditkarte, die Victoria lächelnd durch den Kartenleser zog. Es rauchte ein bisschen.
Schwer bepackt verließen sie den Laden und verstauten ihre Einkäufe auf dem Rücksitz des Bentleys. Vlad pfiff zufrieden vor sich hin und startete den Motor, der nach einigen Fehlzündungen ansprang. Gemütlich tuckerten sie die Straße nach Hause entlang.
»Hätten wir vielleicht einen dritten Sarg für Lilith kaufen sollen?«, fragte Vlad unvermittelt, als sie kurz an einem Stoppschild halten mussten.
»Lilith wird einen Nachtflug nach Mauritius buchen«, sagte Dorian. »Die Särge nimmt sie ins Handgepäck. Wenn du schon deine Spendierhosen anhast, dann kannst du ihr ja den Flug bezahlen, so dick hat sie es nämlich nicht.«
»Hm«, brummte Vlad. »Ich werde darüber nachdenken. Nettes Mädchen, nicht? Nur ein bisschen plump.«
»Sie ist nicht plump, sie hat ein genetisches Handicap«, verteidigte Dorian seine Freundin, natürlich ohne Vlad zu sagen, dass Lilith eine Halbvampirin war.
»Ach so. Na dann …« Vlad nahm eine scharfe Rechtskurve. »Ich freue mich jedenfalls darauf, dass sie uns auf der Reise begleitet. Dann ist es nicht so langweilig für dich, denn ich werde mich natürlich nicht rund um die Uhr um dich kümmern können.«
»Ist klar«, murmelte Dorian. »Du willst dich ja mit Frauen treffen.«
»Ich will mich nicht mit irgendwelchen Frauen treffen, sondern ich hoffe, dass ich eine Partnerin für die nächsten Jahrhunderte finde«, sagte Vlad.
Es hatte keinen Sinn, noch einmal mit ihm über Aida zu diskutieren. Vlad schien endgültig davon überzeugt zu sein, dass Dorians Mutter unwiederbringlich verloren war und niemals nach Schloss Dracula zurückkehrte.
Dorian dagegen glaubte fest daran, dass seine Mutter noch lebte und dass es einen Grund dafür gab, warum sie sich in den vergangenen drei Jahren weder telefonisch noch per Brief oder E-Mail gemeldet hatte. Vielleicht war diese Hoffnung kindisch, aber Dorian klammerte sich daran wie an einen Strohhalm. Hätte er es nicht fühlen müssen, wenn seiner Mutter etwas zugestoßen wäre? Schließlich waren sie blutsverwandt! Es wurde behauptet, dass Vampire einen stärkeren telepathischen Sinn besäßen als Menschen, wobei der wissenschaftliche Beweis dafür noch fehlte. Wie auch immer. Dorian hoffte jedenfalls, seine Mutter eines Nachts wiederzusehen. Und hatte nicht auch Elena Popescu, Liliths berühmte Mutter, kürzlich behauptet, sie habe Aida in Italien auf der Straße gesehen? Falls es sich nicht um eine Doppelgängerin gehandelt hatte …
Dorian war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht gemerkt hatte, wie sie in die Einfahrt von Schloss Dracula einbogen. Der Wagen hielt, und Vlad zog die Handbremse an.
»Hilf mir, unsere Einkäufe durch die Hintertür zu schaffen«, bat er. »Stoica braucht nicht zu sehen, was wir mitgebracht haben, sonst wirft sie mir wieder vor, ich würde unser Erbe verschwenden.«
Tust du ja auch, schoss es Dorian durch den Kopf, aber er sagte nichts. Lilith würde sich sicherlich freuen, wenn sie hörte, dass Vlad ihr das Flugticket bezahlte. Vielleicht konnte Dorian ihn ja dazu bringen, dass er auch noch ihre Schiffspassage übernahm.
Lilith blinzelte verschlafen, als sie am Flughafen von Port Louis stand und auf ihr Gepäck wartete. In wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen. Einige Vampire, die ebenfalls am Gepäckband standen, ließen ihre Koffer Koffer sein und eilten durch die Halle, um in die verdunkelten Taxis zu steigen, die die Steigenbeißer Hotelkette zur Verfügung stellte. Es war zeitlich wirklich knapp, da sich die Landung um eine halbe Stunde verzögert hatte. Angeblich wegen explosionsartiger Geräusche aus einem Reisesarg. Wie sich herausstellte, hatte der Insasse zuvor einfach nur viel zu viele blähende rote Bohnen gegessen.
Lilith war wieder einmal froh um ihre menschlichen Gene. Für sie bestand keine Lebensgefahr. Sie musste sich mit ihrer empfindlichen Haut höchstens davor fürchten, einen Sonnenbrand abzubekommen.
Lilith kramte ihre Sonnenbrille aus der großen Handtasche und vergewisserte sich, dass die beiden Minisärge noch immer gut verwahrt waren. In einem schliefen Dorian und seine Ratte Merlin, im anderen befand sich Vlad. Die Vampire hatten vor der Reise Fledermausgestalt angenommen. Hoffentlich ging es ihnen gut! Immerhin hatte der Flug mehr als zwölf Stunden gedauert, man hatte einen Zwischenstopp in Wien einlegen müssen (das Flugzeug hatte Treibstoff verloren, nachdem ein Vampirbaby zum Spaß in den Tank gebissen hatte). Lilith hatte während der Reise wie immer mit ihrer Flugangst gekämpft. Dieses Mal hatte sie es mit Entspannungstee und Yogaübungen versucht – vergeblich. Am Ende half nur noch, die Zähne zusammenzubeißen.
Die Zeit in Mauritius war zwei Stunden voraus im Vergleich zu Transsilvanien. Dorian hatte, was die Flugzeit anging, seinem Vater gegenüber etwas gemogelt. Sonst wäre herausgekommen, dass Lilith noch bei Tageslicht in den Flieger gestiegen war. Vlad, der ungern längere Zeit in Fledermausgestalt verbrachte, hatte für die Reise ein starkes Schlafmittel eingenommen, das 24 Stunden wirken sollte.
So konnte sich Lilith eigentlich Zeit lassen, sie musste nur im Laufe des Tages im Steigenbeißer Hotel einchecken. Von dort aus würden alle Passagiere um Mitternacht zur OLD LADY gebracht werden.
Das Gepäckband kreiste noch immer. Endlich kam Liliths purpurroter Koffer, gefolgt von dem riesigen schwarzen Ziehkoffer, in dem sich die Klamotten von Vlad und Dorian befanden. Lilith hievte das schwere Ding mühsam vom Band. Sie stöhnte auf. Hatten die Männer Steine geladen?
»Soll ich dir helfen?«, fragte ein junger Mann, der gesehen hatte, wie sich Lilith mit dem Gepäck abmühte.
»Nicht nötig, danke.« Lilith registrierte, dass ein teurer Fotoapparat um seinen Hals hing. Der Kerl roch förmlich nach Presse. Warum wartete er hier auf dem Flughafen? Lauerte er etwa dieser Raphaela del Monte auf, die ebenfalls auf der Passagierliste der OLD LADY stand?
Lilith war fast ausgeflippt, als sie die Liste gesehen hatte (ja, auch sie hatte sich – mithilfe ihres alten, computervernarrten Freundes Louis – in den Computer der Reederei eingehackt). Raphaela war ihr natürlich ein Begriff. Keine Nacht verging, ohne dass das It-Girl auf Vampinstagram mit seiner Selbstdarstellung nervte. Lilith war von Raphaela abgestoßen und angezogen zugleich. Sie fand Raphaela zwar unsympathisch und immer so aufgekratzt, beneidete sie aber gleichzeitig um ihr Selbstbewusstsein und die Art und Weise, wie sie alle Leute für sich gewinnen konnte. Nun ja, fast alle.
Lilith gab es kaum vor sich selbst zu, aber sie war neugierig auf diese Raphaela. Vor allem wollte sie wissen, wie es Raphaela gelang, sich als Vampirin fotografieren zu lassen. Es wäre so genial, wenn Lilith hinter ihr Geheimnis kommen würde. Denn dann konnte sie vielleicht ihrer Mutter helfen. Elena Popescu war eine berühmte Geigerin. Die Fans verlangten natürlich Autogrammfotos von ihr, und Elena musste sich immer mit fotorealistischen Gemälden behelfen. Als bekannte Musikerin stand sie natürlich im Mittelpunkt des Interesses, und es würde ihr sehr helfen, wenn man sie fotografieren könnte. Bisher war zum Glück noch kein Verdacht aufgekommen, dass Elena eine Vampirin sein könnte. Manche Leute hielten es für eine Künstlermarotte, dass Elena nicht fotografiert werden wollte.
Lilith schleppte den schweren Koffer und ihr eigenes rotes Köfferchen aus der Halle zum Taxistand. Die Taxis mit den getönten Scheiben waren inzwischen alle weg, schade. Die hätten sie kostenlos zum Hotel gebracht. So musste Lilith ein gewöhnliches Taxi nehmen. Sie klopfte an die Scheibe des ersten Wagens der Reihe. Der Fahrer, der Zeitung gelesen hatte, bequemte sich aus dem Auto und öffnete den Kofferraum, um Liliths Gepäck zu verstauen. Als er auch nach ihrer Handtasche greifen wollte, schüttelte Lilith den Kopf.
»Wohin soll’s denn gehen?«, fragte der Fahrer auf Französisch.
»Zum Steigenbeißer Hotel«, antwortete Lilith, die Französisch fließend sprechen konnte. Durch die Reisen ihrer Mutter war auch sie viel herumgekommen.
»Dann steig ein«, sagte der Fahrer.
Lilith musste sich erst an den Linksverkehr gewöhnen. Die Fahrt zum Hotel dauerte eine gute Dreiviertelstunde, wobei Lilith den Verdacht hatte, dass der Fahrer einige Male im Kreis herumfuhr, um mehr Kilometer zusammenzubringen. Endlich hielt das Taxi vor dem Steigenbeißer Hotel, einem relativ neuen, prunkvollen Gebäude. Lilith bezahlte, ohne Trinkgeld zu geben, und schleifte das schwere Gepäck die breite Treppe hinauf, bis ein uniformierter Page auf sie zusprang und sie von ihrer Last befreite.
»Danke«, sagte Lilith, die auf den wenigen Metern ins Schwitzen geraten war. Obwohl es noch früh am Morgen war, strahlte die Sonne schon vom Himmel.
Die Hotelhalle war mit schweren Samtvorhängen verdunkelt, sodass jeder schädliche Sonnenstrahl ausgeschlossen war. Trotzdem war es nicht finster, denn zahlreiche Lampen verbreiteten ein mildes gelbliches Licht.
Lilith genoss die Kühle der Halle. Sie steuerte auf die Rezeption zu, hinter der eine freundliche junge Frau stand.
»Mein Name ist Lilith Popescu«, sagte sie. »Ich habe ein Zimmer für drei Personen reservieren lassen. Wir sind Passagiere der OLD LADY.«
»Einen Moment.« Die Frau sah in ihrem Computer nach und nickte. Sie gab Lilith eine Schlüsselkarte. »Zimmer 423 im vierten Stock. Der Aufzug ist gleich hier rechts.«
»Danke.« Lilith ging zum Lift.
Eine Leuchtanzeige verkündete, dass der Aufzug noch unterwegs war. Lilith wartete geduldig, bis er im Erdgeschoss ankam. Ein melodiöser Dreiklang ertönte, dann glitt die Tür auf. Eine Frau schoss heraus und rempelte Lilith in der Eile an. Aber anstatt sich zu entschuldigen, stürmte sie durch die Hotelhalle.
Lilith sah ihr kopfschüttelnd nach und rieb sich den schmerzenden Arm. Die Frau trug einen riesigen Hut und einen langen dunklen Umhang. Viel war von ihr nicht zu sehen gewesen, trotzdem wurde Lilith das ungute Gefühl nicht los, dass sie ihr irgendwo schon einmal begegnet war. Aber vielleicht täuschte sie sich ja auch.
Wenig später betrat Lilith das Zimmer 423. Es war freundlich und geräumig. In der Mitte stand ein knallroter Doppelsarg. Außerdem gab es noch eine schwarze Ledercouch, die sehr bequem aussah, einen Schreibtisch und einen riesigen Fernseher. An der Wand hingen Bilder von düsteren transsilvanischen Landschaften. Lilith verriegelte die Zimmertür und vergewisserte sich, dass die Fensterläden geschlossen waren und kein Lichtstrahl hindurchdrang. Dann holte sie die beiden Minisärge aus ihrer Tasche und stellte sie auf dem Schreibtisch ab. Sie klopfte bei beiden aufs Holz.
»Alles klar, wir sind da. Ihr könnt rauskommen!«
Dorians Sarg öffnete sich als Erstes. Merlin hüpfte heraus und begann sofort zu schimpfen, wie lang und unerträglich die Reise gewesen war. Lilith ließ ihn reden und beachtete ihn nicht weiter. Sie blickte in den kleinen Sarg auf die Fledermaus, die wie tot in den Polstern lag. Ein kalter Schauder überlief sie. Sie streckte die Hände aus und hob die Fledermaus vorsichtig heraus.
Dorian rührte sich noch immer nicht. Lilith blies ihn vorsichtig an. Endlich, endlich zuckte ein Flügel und begann sich zu dehnen. Dann kam auch Leben in den anderen Flügel. Unversehens flatterte die Fledermaus los, sodass Lilith erschrocken einen Satz zurückmachte.
Dorian umrundete zweimal den Kronleuchter, schwirrte im Zickzackflug durchs Zimmer, verwandelte sich in der Luft zurück und stand plötzlich in seiner richtigen Gestalt vor Lilith. Er hatte noch so viel Schwung, dass er taumelte und sich an Lilith festhalten musste. Es sah aus, als würden sie sich umarmen. Ausgerechnet in diesem Moment schoss Vlad aus seinem Sarg, machte als Fledermaus in der Luft einen eleganten Salto, und dann landete er auch schon in vorbildlicher Haltung auf den eigenen Füßen.
»Dorian, du hörst sofort auf zu knutschen!«, rief er streng.
Lilith und Dorian fuhren auseinander. Merlin hielt sich kichernd den Bauch.
»Wir haben nicht geknutscht!«, verteidigte sich Dorian und strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich hatte nur zu viel Schwung, weil ich nach der langen Reise einen Flugkrampf bekommen hatte.«
Vlad ließ nur die Augenbrauen in die Höhe schnellen. Er drehte sich um, um das Zimmer zu inspizieren, nickte zufrieden und verschwand mit einem »Meine Blase, ihr entschuldigt!« im Badezimmer.
»Uff!«, sagte Lilith und lächelte Dorian an. »Hast du die Reise gut überstanden? Ich dachte schon, du wirst gar nicht wach!«
»Ich war noch im Tiefschlaf«, antwortete Dorian. »Merlin hat auf der Reise total geschnarcht, und ich konnte ewig nicht einschlafen.«
»Ich schnarche nicht!«, krächzte Merlin, der mit eleganten Drehungen an einem Bein des Schreibtisches herunterrutschte. »Das mache ich nie!«
»Das glaubst auch nur du!« Dorian lachte.
»Ich glaube es nicht, ich weiß es«, widersprach Merlin. Er sauste durchs Zimmer, kletterte an dem Doppelsarg hoch und sprang mit einem Salto auf die Polster.
»Wie ist der denn drauf?«, wunderte sich Lilith. »Was hast du ihm zu fressen gegeben?«
»Merlin ist auf Diät und will mehr für seine Figur tun«, erklärte Dorian.
»Guter Vorsatz«, meinte Lilith.
Vlad kam aus dem Badezimmer. Er wirkte nervös und sah auf seine goldene Taschenuhr, die er von seinem Großvater geerbt hatte.
»Hoffentlich verpassen wir nicht das Schiff«, sagte er besorgt.
»Wir haben noch genug Zeit«, beruhigte Lilith ihn. »Wir werden erst um Mitternacht aufs Schiff gebracht.«
»Also in gut fünf Stunden«, seufzte Vlad und steckte die Uhr wieder ein.
Lilith runzelte die Stirn, aber Dorian signalisierte ihr durch heimliche Zeichen, dass er Vlads Uhr manipuliert hatte. In Wirklichkeit blieben ihnen mehr als fünfzehn Stunden, bis die OLD LADY ablegte.
»Wie wäre es, wenn du dich noch etwas ausruhen würdest, Dad?«, schlug Dorian vor.
»Ich würde mir jetzt lieber die Stadt anschauen«, sagte Vlad. »Geschlafen habe ich genug.«
Dorian und Lilith wechselten einen besorgten Blick. Draußen war heller Tag, Vlad konnte nicht in der Stadt herumspazieren!
»Hör mal, Dad«, begann Dorian, »ich bin wirklich hundemüde. Wie wär’s, wenn wir uns beide ein Stündchen aufs Ohr legten? Dann ist noch genug Zeit für eine Stadtbesichtigung.«
Vlad funkelte ihn wütend an. »Warum willst du unbedingt, dass ich schlafe? Denkst du, ich bin schon alt und senil? Bist du deshalb mitgekommen – als mein Babysitter?« Seine Stimme klang drohend.
Lilith befürchtete einen Familienstreit. Sie schob sich schnell zwischen Vater und Sohn.
»Ihre Uhr geht leider falsch, Herr Dracula«, sagte sie. »Sie haben die Zeitverschiebung nicht berücksichtigt. Draußen wird es gerade hell. Wenn Sie jetzt spazieren gehen, werden Sie von der Sonne getötet.« Sie schluckte. »Ich habe es nur mit knapper Not ins Hotel geschafft, weil sich die Landung verzögert hat.« Das war die halbe Wahrheit und eine halbe Lüge.
Vlad war verwirrt. Er holte abermals seine Taschenuhr hervor, um sie zu stellen. »Na dann … also, wie spät ist es denn jetzt?«
»Es ist sieben Uhr morgens«, sagte Lilith. »Sieben Uhr fünfzehn, um genau zu sein«, meinte sie mit einem Blick auf ihr Smartphone.
Vlad brummte und drehte an der Krone seiner Uhr. »Diese ganze Zeitumstellung … vorstellen, nachstellen …« Er war fertig. »Dann haben wir ja wirklich noch Zeit bis zur Abfahrt. Vielleicht sollten wir doch einmal testen, wie man in diesem Sarg liegt.«
»Bestens!«, quietschte Merlin, der sich bereits auf dem Polster ausgestreckt hatte. »Ganz weich und viel Platz! Jede Menge Platz!«