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Vogelkind

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Der kleine Junge hat einen aus dem Nest gefallenen Vogel entdeckt. Einen ganz jungen Vogel, wie er glaubt. Er hätte ihn gerne zu sich mit nach Hause genommen. Traut sich aber dann doch nicht. Mama und Papa würden ihn wieder beschimpfen, vielleicht sogar verprügeln, wenn er mit dem Vogel ankommt.

Die Eltern mögen keine Tiere. Zumindest keine lebendigen. Die stinken nur und machen Dreck, meint die Mama.

Er will den kleinen Vogel aber mitnehmen. Aber muss er ihn zuerst tot machen. Dann können Mama und Papa doch nichts dagegen haben - oder?

Also nimmt er einen Stein der da herumliegt und schlägt ihn dem Vogel auf den Kopf. Einmal, zweimal, dreimal. Dann ist er tot.

Er hat vorher noch einmal ganz leise und erbärmlich gepiepst und ihn angeschaut. Jetzt ist sein Kopf voller Blut und der kleine Schnabel ist ganz verdreht. Lukas weint. Das Vogelbaby tut ihm jetzt leid. Aber lebend hätte er ihn ja nicht mitnehmen dürfen.

Er nimmt ihn also vorsichtig in die Hand; er will ihm ja nicht noch mehr wehtun und rennt mit ihm nach Hause. Seine Hand ist blutig und ein wenig Vogelblut tropft auch auf seine Hose. Jetzt tut ihm das tote Vogelkind furchtbar leid. Er weint heiße Tränen.

Mama ist entsetzt, als er mit dem Vogel ankommt. Er wollte ihn eigentlich in seinem Zimmer verstecken, aber Mama hat das Blut auf seiner Hose gesehen.

„Was hast Du jetzt schon wieder gemacht, du Unglückskind?“, keift sie ihn sofort an. „Was hast Du da in der Hand?“

Also zeigt er ihr den Vogel. Sie kriegt einen Schreikrampf, reißt ihm das tote Tier aus der Hand und schmeißt es zum Fenster hinaus.

Dann lässt sie eine ihrer endlosen Litaneien los. Was für ein undankbarer und fürchterlicher Fratz er doch wäre. Sie tue alles für ihn und er mache nur alles kaputt und dreckig. Er hört nicht hin. Er hat das schon zu oft über sich ergehen lassen müssen. Er ist nur froh, wenn sie endlich damit aufhört.

Der Papa hingegen sagt zu ihm meist gar nichts. Er beutelt ihn nur bei jeder Gelegenheit so fest an den Ohren, dass er Kopfweh kriegt. Und er kriegt oft Kopfweh. Wenn ihm der Kopf zu stark wehtut, pinkelt er sich an. Immer! Er kann es nicht zurückhalten.

Dann nennen sie ihn Dreckferkel und er muss mit der nassen Hose zur Strafe in eine Kiste. Da muss er bleiben, bis seine Sachen wieder trocken geworden sind.

Die Kiste steht im Keller und Papa sperrt sie ab, wenn er drinnen hocken muss.

Dort ist es immer finster. Ratten und Mäuse huschen herum. Er hört sie und fürchtet sich. Er stellt sich vor, das wären verkleidete Monster. Grausige, zähnefletschende Monster, die ihn beißen oder gar fressen möchten!

Manches Mal hat er so viel Angst, dass er auch in die Hose kackt. Er will das nicht, aber kann es einfach nicht zurückhalten. Dann riecht es in der Kiste noch unangenehmer als sonst.

Wenn Papa ihn dann nach Stunden befreit und seine Bescherung riecht, dann geht es ihm noch mehr an den Kragen.

Er muss sich nackt ausziehen, sich waschen und dann auf die Straße stellen. Sie hängen ihm noch dazu ein Schild um den Hals „Ich bin ein Hosenscheißer.“

Er muss so immer mindestens eine ganze Stunde auf der Straße stehen und schämt sich entsetzlich. Die Nachbarn sehen ihn, die Kinder aus der Nachbarschaft und auch noch andere Leute.

Man lacht ihn aus und verspottet ihn. Das tut weh. Sehr weh sogar. Er hat keine Freunde oder Spielkameraden. Mit einem so übel riechenden Hosenscheißer will halt niemand was zu tun haben.

Wenn er dann wieder in die Wohnung darf, kriegt er noch Kopfnüsse von Papa. Der sagt dann immer „leichte Schläge auf den Hinterkopf heben das Denkvermögen.“

Wenn es nur leichte Schläge wären. Nein! Sind sie nicht. Und das Kopfweh kommt wieder. Immer wieder!

Die Eltern melden ihn später an der Universität an. Er soll studieren. Er wäre gerne Tierarzt geworden. Er liebt Tiere.

Doch der Papa sagt nein. Er solle gefälligst Jus nehmen und sich dann bemühen, in den Staatsdienst aufgenommen zu werden. Dort gäbe es schon so viele Idioten, da würde er nicht auffallen.

Also studiert er Jus. Mit sehr wenig Begeisterung. Auch einige Beziehungen knüpft er während des Studiums an. Keine davon hält und in keiner kommt es zu einer engeren Verbindung.

Die Mutter ist dauernd hinter ihm nach und erzählt seinen Freundinnen, was er doch für ein komischer Kauz wäre. Auch seine Hosenscheißerei erwähnt sie, boshaft grinsend, manches Mal dabei. Klar, dass sich dann niemand mehr mit ihm ein zweites Mal verabreden will.

Dann kommt die Revolution. Begeistert schließt er sich ihr an. Insbesondere weil er hofft, die alten und überholten Strukturen - damit meint er hauptsächlich seine Eltern - hinweg fegen zu können. Es gelingt ihnen auch. Das Volk ist mehrheitlich an ihrer Seite.

Es tut ihm auch kein Bisschen weh, das seine Eltern unter den Ersten sind, die man nach dem Umsturz in eines der neu erbauten Umerziehungscamps steckt. Er weiß nicht, ob sie noch am Leben sind und wenn ja, wie sie dort vegetieren. Kein einziges Mal noch hat er sich danach erkundigt. Es interessiert ihn einfach nicht.

Über den ihm zugeteilten Job im Ministerium für Staatssicherheit ist er glücklich und bringt bei der Planung eines neuen Gefängnisses für Staatsfeinde gerne auch seine negativen Erfahrungen aus der Kindheit mit ein. Begeistert werden sie angenommen.

Er nimmt sich vor, alles zu tun, was in seiner Macht liegt, um zukünftig gegen Staatsfeinde - wirkliche und vermeintliche - vorzugehen. Er ist ein wichtiger Bestandteil des neuen Systems geworden.

So etwas wie Mitgefühl kennt er nicht.

Hat er nie kennengelernt.

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Die Renegatin

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