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Eine Reise nach Prag

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Schnell wird es Vorstadt gegen Osten. Remisen, Repara­turwerkstätten und mitlaufende Schnellbahngleise be­gleiten dich eine Zeit lang wie die Möwen ein aus dem Hafen laufendes Schiff. Die Donau verschläfst du nicht. Die hohen Praterbäume kündigen sie an. Und sie ist brei­ter geworden, seit dem Kraftwerksbau. „Drüben“ wird die Vorstadt dörflich. Ein Golfplatz inmitten von Apfel­baumplantagen liegt völlig flach da. Er scheint das March­feld herauszufordern: durch sein glattes Grün, das sich von der rauen Oberfläche der Baumwipfel und der Erd­schollen abhebt, und durch ein paar Hügel, künstliche Bo­denwellen wie auf Fahrbahnen, wo sie als Tempo­bremse eingebaut sind.

Ab und zu fließt ein Bahndamm die Strecke entlang, schneidet den Blick in die weite Ebene ab, schützt die Stadtrandsiedlung vor den Blicken der Reisenden und dämpft das Getöse vorbeirauschender Züge. Rostige Gleise tragen sich dann als Begleiter an, von Gras über­wachsen wie die alten Grabsteine auf den Friedhöfen, wo die Familien langsam aussterben. Da führt auch plötzlich ein Gleis weg, hinein in ein Feld wie in ein Niemandsland. Und weiter draußen steht ein Waggon, der dort vergessen wurde. Die jungen Pappeln der Landstraße erinnern an die Koniferen des Südens, freilich nur, wenn sie weit genug weg sind und das Blätterkleid in ihren spit­zen Konturen verbergen können.

Die Stationen sind hier großzügig angelegt, weil viel Platz da ist – ganz anders als im engen Wienerwald auf der westlichen Seite der Stadt. Sie bieten nicht nur Abstell­gleise für alte Zugsgarnituren, sondern auch für deren bunt schillernde Konkurrenten, die Autos der Park-and-Ride-Gäste, die hier geduldig den ganzen Tag auf die Rückkehr ihrer Herrschaften aus der Stadt warten. Hoch darüber schwingen sich die Kabel der Hochspannungslei­tungen. Sie scheinen kein natürliches Bodenhindernis zu kennen, sie müssen nicht ausweichen, hier nicht, weil sich kein Berg entgegenstellt. Aber auch die Häuser am Dorfrand beachten sie nicht und überziehen sie mit ihren elektromagnetischen Feldern und legen den Horizont in Streifen wie ein Landschaftsfoto, das von Kratzspuren durchzogen ist.

Was lebt, zeigt sich hier nicht am hellen Tag, außer den Vögeln, die keine Jäger kennen. Doch die Reglosigkeit in dieser Abfolge von Feldern, Wiesen, Gebüsch und Laub­wald trügt. Hier liefert die Natur noch Artenvielfalt: woh­lige Beruhigung unseres ökologischen Sinnens, aber grau­samer Krieg, jeder gegen jeden, für die Betroffenen, eine Balance des Schreckens: fressen und gefressen werden.

Dürnkrut liegt am Rand eines Wäldchens. Weiter draußen zur rechten Hand begleiten die Auwälder der March und zur linken die Hügelkette, hinter welcher der junge Habs­burger auf dem Königsthron in der Entscheidungsschlacht gegen den brüskierten Ottokar von Böhmen seine schnel­len Reiter versteckt hielt, damit sie, Konvention und Fair­ness zumindest in Frage stellend, den Gegner an der ver­wundbaren Flanke angreifen konnten.

Die Aristokratie in Wien bedauerte den Fall des Böhmen­königs, mit dem man sich gut arrangiert hatte, der sich selbst gut zurechtfand im österreichischen Herzogtum, auch wenn seine Heirat mit der Babenbergerin Margarethe wohl nur der Staatsräson diente. Aber man war eben be­reit, sich mit den Verhältnissen abzufinden, auf beiden Seiten, bis dann der Emporkömmling von der Habichts­burg aus dem fernen Westen auftauchte, von den Kur­fürsten zum deutschen König erkoren, und sich bei der Durchsetzung seiner Machtansprüche partout nicht vom mächtigen Böhmenkönig bremsen lassen wollte. Nun musste man sich neuerlich arrangieren in Wien, da der ehemals kleine Graf siegreich vom Schlachtfeld zurückge­kehrt war und den Böhmen eine königliche Leiche nach Prag geschickt hatte.

Wenn man heute durch diesen Landstrich fährt, spürt man nichts von einem Geschichtsbewusstsein, keinen Stolz, einmal der Schauplatz einer Entscheidung von europäischer Dimension gewesen zu sein – so wie heute vielleicht das kleine Maastricht, das plötzlich, ein paar Jahre lang wenigstens, jeder Euro­päer kannte, freilich ohne zu wissen, wo es denn genau liegt.

Grenzregionen sind keine Schaufenster, vor allem an jenen Grenzen, die noch vor wenigen Jahren ein „Eiser­ner Vorhang“ markierte. Die Buschlandschaft erzählt, dass menschliches Leben und Treiben hier lange unerwünscht waren. Das Gesträuch ist undurch­dringlich, das Gras hoch und aus den Bäumen ragen verdorrte Äste.

Endlich tauchen wieder bewirtschaftete Felder und Vorstadthäuschen auf. Der Bahnhof von Břeclav ist größer als der mancher Lan­deshauptstadt, aber grau und abgenutzt wie eine alte Wohnung in einem Abbruchobjekt. Langsam hoppelt der Zug durch das endlose Bahnhofsareal. Industriegeruch füllt die Luft, schwarze Halden zerriebener Kohle schauen über die Bordwände vorbeiziehender Lastwaggons. In der Ferne protzen die neuen Aufschriften westlicher Kon­zerne, die Besitzergreifung verkündend, bis dann das fla­che Land wieder zwischen die Häuserkolonnen einbricht und breiter wird und schließlich die Siedlungen wieder ganz verdrängt.

Ein Lastwagen wirbelt eine lange Staubfahne auf und zieht sie hinter sich her, wie wenn die staubige Land­straße hier zum Selbstverständnis gehöre. Für die Bahn gibt es neue Gleise und eine neue Oberleitung. Baustellen verlangsamen die Fahrt, die aber bald auf europäisches Eilzugstempo beschleunigt sein wird. Bagger haben schon tiefe Wunden in den Boden gegraben. Eine neue Kulturlandschaft entsteht: Dämme wie mit dem Lineal ge­zogen, Betonpfeiler, die niemand mehr von der Stelle rücken wird, Eisenträger, die silbern vom Zink glänzen, anstatt mit dem rostbraunen Herbstlaub verstecken zu spielen. Schotterhaufen warten darauf, abgetragen und gleichmäßig verteilt zu werden, und in Gräben liegen bunte Rohre und Kabel, deren Farben wohl ihren Inhalt angeben und den Baggern der fernen Zukunft sagen sollen: Hier liege ich, zerstör mich nicht!

Die Baustellen bringen die Fahrpläne durcheinander. Sie werden von den Fahrplangestaltern und Auskunftgebern ignoriert wie die höhere Gewalt einer Überschwemmung oder eines Erdbebens. Verspätungen sind ein Charakter­zug des Verkehrs, die Bahnhöfe haben auf ihren Ankün­digungstafeln eigene Rubriken dafür vorgesehen. Schließ­lich ist der Reisende froh, gut angekommen zu sein. Was macht da eine kleine Verspätung, meist nicht mehr als ein paar lumpige Prozent der ganzen Fahrzeit?

Brünn taucht auf, zunächst wie auf einer Bühne an einer Hügelkette sanft angelehnt, auf welche die tief liegende Herbstsonne wie ein Scheinwerfer strahlt. Hohe Masten wölben sich schützend über ein Betriebsgelände und wie­der sperrt ein riesiger Bahnhof sein Maul auf, mit Unkraut und Sträuchern, aus welchen rostende Waggons ragen und sich gegen das Überwachsenwerden gerade noch wehren können. Brünn hat auch breite Straßen und viel unverbautes Gelände an der Peripherie. Die Bahn kommt dicht an das Zentrum heran. Der Dom steht am höchsten Platz und strahlt Standfestigkeit aus gegenüber den stän­dig herein und hinaus polternden Zügen.

Hier steigen auch Fahrgäste zu. Es gibt noch nicht so viele Autos. Die Bahn hat noch ihren festen Platz im Leben der Men­schen, nicht nur im Nahverkehr. Unheimlich gedul­dige, ja teilnahmslose Gesichter bevölkern die Bahn­steige, abwe­sende Gedanken sind zu lesen, schon am Reiseziel ange­kommen, oder vielleicht noch an dem hängend, was sie gerade verlassen haben. Dazu gesellen sich viele verfal­lende Betriebsgebäude, Zeugen aus einer anderen Zeit, als eine Fabrik noch etwas galt und nicht nur der Markt, dieses unsichtbare und doch allgegenwär­tige Gespenst, das so schnell wieder verschwindet, wenn man es gefasst zu haben glaubt.

Nirgends präsentieren sich die Hüllen von Lokomotiven so rostig wie auf den Abstellgleisen hier. Sie scheinen nicht begreifen zu wollen, dass das Zeitalter der Furcht einflößenden Kolosse dem Zeitalter der Verkleinerung durch Elektrik und Elektronik gewichen ist. Dann plötzlich ein Durchblick auf einen Platz in der Vorstadt mit einem Exemplar der schönsten, saubersten, flottesten Straßen­bahn! So prallen alte und neue Zeiten aufeinander. Neues nistet sich ein in das rostende Chaos, unaufhaltsam, lang­sam, aber beschleunigend.

Hinter Brünn führt die Trasse der Bahn bald in ein Tal, das man altmodisch als lieblich beschreiben könnte. Ein sanf­ter Einschnitt in eine Hügelkette, Häuser, die sich bald zu Dörfern zusammendrängen, sich bald vereinzelt an einen Hang schmiegen, Felder und Wiesen, wo der Talgrund breit genug dafür ist – und immer bunteres, dunkleres Herbstlaub zeugt von rauerem Klima. Fischteiche, Fried­höfe, Gartenhütten, Obstgärten, Hühnerställe und ein­same Fabrikanlagen ergeben eine kuriose Mischung der Spuren menschlichen Treibens. Fernsehantennen, die meisten hoch wie Spinnennetze auf den Dächern, aber auch schon Schüsseln, die in den Weltraum hinaus­schauen können und von dort die irdischen Geschichten im Land verteilen.

Kurim, Tišnov und andere Kleinstädte, auf die der Reisende vom erhöhten Bahndamm hinunterschaut, kommen und gehen. Dazwischen drücken sich viele kleinste Dörfer in Talschneisen zusammen, fast genauso wie im Wie­nerwald. Manchmal erscheint auch ein Bahnhof, der zu keinem Dorf zu gehören scheint, aber die glei­chen verrosteten Waggons am Gebüschrand beherbergt wie sei­ne großen Brüder. Immer öfter verschwindet die Sonne hinter den Hügeln, wie wenn sie mit den Reisen­den spielen wollte, und auf einmal bleibt sie ganz verbor­gen.

Jetzt kommt die Zeit der Lichter, der Laternen, der Auto­scheinwerfer, die ihre Arbeitsschicht antreten. Am Fens­terplatz wird es erst recht verwirrend. Denn Durchblick auf die Landschaft und narrende Spiegelungen im Fenster wechseln einander in kurzen Rhythmen ab. Bald erliegt der Reisende dem tollen Treiben und blendet sich aus, die Augen schließend, sie bei jedem neuen Geräusch wieder aufschlagend, dem Abenteuer wiedergewonnener Aus­sicht nachjagend, wieder zurückfallend in unruhiges Da­hindämmern, bis die Lichter der Großstadt das Ende der Reise ankündigen.

Von Weiten und Zeiten

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