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Der 360er

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Der 360er war eine Straßenbahn: die Linie 360. Sie war die Verlängerung der Linie 60, die es heute noch gibt, an die südliche Stadtgrenze des ehemaligen Groß-Wien. Die alte Babenberger-Stadt Mödling war bis 1954 „Haupt­stadt“ eines Außenbezirks von Wien: des 25. Wiener Gemeindebezirks. Dorthin konnte man mit dem 360er fahren: zuerst von Mauer aus, einem Dorf oben auf dem Maurer Berg, ab 1883 mit Dampfantrieb bis Perchtolds­dorf und schließlich ab 1887 bis Mödling.

1954 wurden die äußeren Gemeinden von Groß-Wien dem Bundesland Niederösterreich zugeordnet. Politisch bedeutete dies eine Stärkung des „schwarzen“ Niederös­terreich. Denn in den Umlandgemeinden von Wien hatte die christlich-soziale Österreichische Volkspartei ein treues Wählerpotenzial: in der alteingesessenen Wein­hauerschaft und in den zugezogenen, manchmal „neureichen“ oder im Laufe der Krisen des 20. Jahrhun­derts verarmten „gutbürgerlichen“ Familien. Die Abtren­nung dieser Gemeinden vom „roten“ Wien brachte aller­dings einige Nachteile für die Anbindung der Peripherie dieses Lebensraumes an das Wiener Stadtzentrum. Die Erwartung einer eigenständigeren kulturellen und wirt­schaftlichen Entwicklung erwies sich bald als provinzielle Illusion.

Für den 360er blieb dieser Eingriff nicht ohne Folgen. Die Endstation der Linie 60 und damit die Umsteigestelle in den 360er wurden 1963 von Mauer nach Rodaun verlegt. Und 1967, am 30. November, kam dann überhaupt das Ende für den 360er. Nachdem man wenige Jahre vorher noch Millionen in die Modernisierung der Strecke und in den Neubau einer Umkehrschleife samt Stationsgebäude in Rodaun investiert hatte, beschloss die Stadt Wien, die Subventionen für die Wiener Straßenbahn im „schwarzen“ Niederösterreich einzustellen. Die betroffe­nen Gemeinden waren nicht bereit, diese Zuschüsse für den Fortbetrieb zu übernehmen. Seither fährt eine Bus­linie die Strecke ab. Die Trasse wurde teilweise für die Anlage einer Durchzugsstraße, der B 13, verwendet. Es gibt nur mehr wenige Stellen, die noch erahnen lassen, dass hier einmal Schienen im Boden lagen. An zwei Stellen sind noch Schienenreste zu sehen: bei der ehemaligen Haltestelle Perchtoldsdorf-Brunnergasse, wo sich auch der Betriebsbahnhof, die Remise, befunden hatte, und bei der Station Brunn-Felsenkeller. Jemand, der den 360er einst tagtäglich selbst benützt hatte, weiß allerdings fast auf den Zentimeter genau, wo zwischen Rodaun und Mödling die Schienen lagen.

Der 360er war – von außen betrachtet – eine Art Lebe­wesen. Die Menschen lebten entlang der Strecke mit ihm zusammen wie mit einem Haustier. Man hörte ihn kommen, vor allem wenn er die lange, leicht bergauf führende Gerade nach der Trennung von der Trasse der Kaltenleutgebner Bahn hinaufbrauste. Wo er den Damm der Ersten Wiener Hochquellenwasserleitung in Perchtoldsdorf erreichte, musste er sich – wieder mit entsprechendem Getöse – einbremsen. Er: das war ein Triebwagen samt einem oder zwei angehängten Wag­gons. Zuletzt fuhr meist nur noch ein Triebwagen allein. Aber das war schon gewissermaßen am „Sterbebett“ der Linie.

Die Station „Perchtoldsdorf-Wienergasse“ war eine der Ausweichstellen für die ansonsten eingleisig geführte Strecke. Die Garni­turen mussten daher hier über zwei Weichen fahren. Nicht mehr ganz Kind, aber auch noch nicht mit der selbst verordneten Herablassung des Jugendlichen gegenüber Terminen ausgestattet, war man schnell und motiviert genug, ihn noch zu erwischen, wenn man aus der Ferne das Getöse seines Herannahens wahrnahm. Das war der Augenblick der Entscheidung über: in die Schule zu spät kommen oder nicht. Mehr Spielraum ließ der Schulweg nach Mödling nicht. Hatte man ihn noch erwischt, konnte man den Rest getrost ihm allein überlassen. Verspätun­gen gab es nicht. Weshalb auch? Es gab weder stark befahrene Straßen noch neuralgische Kreuzungen entlang seiner Trasse. Alles lief auf die Minute genau ab. An den Ausweichstellen traf er fast immer genau mit dem Gegenzug zusammen. Außer es gab vielleicht gerade ein­mal ein Schneechaos; oder ein besonders schöner Sonn­tag lockte tausende Wiener in den südlichen Wienerwald hinaus. Aber das störte die Schüler nicht. Sonntag war keine Schule.

An den ersten Schultagen im Gymnasium Mödling baute man auf dringendes Anraten der Eltern noch eine gehö­rige Zeitreserve ein und fuhr etwas früher als notwendig. Aber bald hatte man die Wegzeit im Griff. Es ging bequem auch noch mit dem nächsten Zug. Die Verlässlichkeit des 360ers ließ Zeitreserven entbehrlich erscheinen. Schließ­lich fuhr man auch mit dem letztmöglichen Zug, der das Eintreffen im Klassenzimmer gerade noch mit dem Glockenzeichen für die beginnende erste Schulstunde ermöglichte. Die Strecke von der Endstation bis zur Schule musste man in diesem Fall allerdings wie mit „Sie­ben-Meilen-Stiefeln“ durchschreiten. Was für ein gesun­der Frühsport!

Jeder Waggon hatte ursprünglich noch einen Schaffner oder eine Schaffnerin. Sie verkauften Fahrscheine und achteten darauf, dass beim Ein- und Aussteigen nichts passierte. Es waren Respektspersonen in Uniformen: Sie waren die Mannschaft der Wiener Verkehrsbetriebe, eines Riesenunternehmens, eigentlich keines Unterneh­mens, sondern eher einer Behörde.

Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, wurde bis Mittag nicht gefahren. Da wurde marschiert. Man gehörte zum Kern der Sozialisten, wie die Sozialdemokraten damals in Österreich noch ungeniert hießen, ohne dass daran jemand Anstoß genommen hätte – ein bisschen Häme aus der „anderen Reichshälfte“ vielleicht ausgenommen. Die Belegschaft repräsentierte das „rote Wien“: Man war sozialistisch mit einem sozial-demokratischen und einem kommunistisch-halbdemokratischen „Flügel“: eine öster­reichische Version des Marxismus, dem dadurch die Speerspitze des radikalen welt-revolutionä­ren Kommu­nismus abgestumpft war. Die Wiener Stra­ßenbahner waren einmal Mitglieder einer stadt- und staats­tragenden Insti­tution. Sie waren es, die durch ihre Zurückhaltung Wien mit Wirkung auf ganz Österreich gegen einen General­streik und vielleicht sogar Putsch der radikalen Kommu­nisten im Jahr 1950 verteidigt hatten. Man hatte den Zusammenschluss der marxistischen Linken in Öster­reich, vor allem in dem bis 1955 sowjetisch besetzten Ostösterreich verhindert und damit zur Frei­heit des Lan­des wesentlich beigetragen. Das stärkte das Selbstbe­wusstsein und ließ es aus den blau-roten Unifor­men und unter den Amtskappen hervorströmen. Man war nicht Gelegenheitsarbeiter irgendeines „Mac-Jobs“, sondern man hielt den Betrieb des jungen Staates Öster­reich mit seiner wiedererlangten Freiheit aufrecht.

Daran dachten die jungen Schülerinnen und Schüler auf ihren Fahrten natürlich nicht. Sie hatten ihre eigenen Sorgen. Zwischen sieben und acht Uhr früh wurde im 360er hart gearbeitet: Es wurden Hausübungen nachge­holt bzw. abgeschrieben, Prüfungen vorbereitet und die Inhalte der Schultaschen kontrolliert. Dafür war es wohl schon zu spät, aber man wusste wenigstens, was fehlte, und konnte für den Bedarfsfall über Ausreden nachden­ken. Erfahrungen über Lehrer wurden ausgetauscht und Pläne für den Nachmittag geschmiedet. Unzählige Kartenpartien liefen auf den Rücken der Schultaschen ab, die auf den Knien balanciert wurden. Mancher hatte auch noch das Frühstück nachzuholen. Der 360er war – von innen betrachtet – ein fahrendes Wohnzimmer.

Die Buben schauten sich verstohlen die Mädchen an und umgekehrt. Jeder Kontakt wurde beobachtet. Wer traute sich wen anzusprechen. Welche Folgen konnte das haben? – Vielleicht ein paar Hänseleien derer, die nicht zum Zuge kamen oder so taten, als wäre dies unter ihrer Würde. Später entwickelten sich Freundschaften. Viel­leicht lag im 360er sogar der eine oder andere Grundstein für eine lebenslange Beziehung. Die Älteren wurden respektiert, bewundert oder auch gefürchtet.

Dass es in den Stationen auch Raufereien zwischen Gleichstarken und Prügel für Schwächere gab, gehörte regelmäßig zum Schulalltag. Bitter schmeckte erst Jahre später die Erinnerung daran, dass meist von der Natur durch auffälliges Aussehen und mit körperlichen Schwä­chen gestrafte Schüler manchmal einer Lust an Gewalt ausgesetzt waren. Das konnte nicht ohne Wirkung auf die spätere Persönlichkeit geblieben sein – weder für die Schläger noch für die Geschlagenen. Zuschauen oder Wegschauen war für die nicht Betroffenen selbstver­ständlich wie das Pausenbrot. Merkwürdig war allerdings auch, dass es immer wieder dieselben waren, die – be­wusst oder unbewusst – um Ohrfeigen bettelten und diese auch prompt – von ebenso immer wieder densel­ben – bekamen.

Man kannte jeden Winkel der Strecke, man kannte das Personal, man registrierte, wenn einmal wer neu im Dienst war, man wusste, wer den Triebwagen flotter lenkte, die Kurven oder Stationen später anbremste, bei wem sich die Fahrgäste anhalten mussten, um nicht durcheinandergewirbelt zu werden. Die Waggons ächz­ten und sangen in engen Kurven, der Motor des Triebwa­gens heulte zeitweise auf, die Bremsen verursachten Schleifgeräusche und ratterten über Kies, der zusätzlich beim raschen Anbremsen vom Fahrer auf die Schienen gestreut werden konnte.

Am Anfang hatten die Waggons noch Plattformen mit ständig geöffneten Türen. Man konnte daher auch auf dem Trittbrett stehend mitfahren und sich in den Fahrt­wind „hängen“. Die Schaffner sahen das nicht gerne, es war natürlich gefährlich, daher aber auch geeignet für allerlei Mutproben und Imponiergehabe.

Für die Fahrer vorne im Führerstand – es gab noch keine Fahrersitze – war es ein luftiges und im Winter bei Schneesturm ein entsprechend eisiges Terrain. Im Wageninneren, hinter den Schiebetüren, die mit beiden Händen durch gleichzeitiges Ziehen nach rechts und links zu öffnen waren, konnte es dagegen auch im Winter gemütlich warm sein. Man wusste auch, unter welchen Sitzen sich die Heizungen befanden, und konnte – je nach Bedarf – diese Sitze ansteuern oder vermeiden. Die Sitze selbst bestanden aus Holz, keine Spur noch von Plastik oder gar Polsterung.

Die Stationen waren Kommunikationszentren. Viele Anschlagtafeln berichteten die Neuigkeiten von Sport­clubs, alpinen Vereinen, Seniorenvereinen, Jugendverei­nen, politischen Parteien, Kinos und Geschäften. Nicht selten stand im Umfeld der Station ein Kiosk, in dem eine alte Frau Süßigkeiten oder Blumen verkaufte, oder eine Tabak Trafik. Die Tabak Trafiken wurden von der „Tabak­regie“ – so hieß das staatliche österreichische Tabakwa­ren-Unternehmen – vorzugsweise an Kriegsinvalide ver­pachtet. Sie waren in der Regel auch Lotto- und Toto­schein-Annahmestellen und verkauften Fahrkarten, Schreibwaren und vor allem Zeitungen und Zeitschriften. Da war in der Früh oft allerhand los. Mit dem 360er verschwanden auch die Trafiken von ihren einträglichen Standorten.

Die Stationen waren Wartestellen. Warten war nicht Unglück, sondern geradezu natürlicher Bestandteil des Lebens. Man wartete auf den nächsten Zug. Man wartete auf die Tante, wenn sie aus Wien zu Besuch „heraus“ kam. Man wartete auf den Freund, auf die Freundin. Man wartete nicht lange, aber man wartete oft, weil Warten eben dazugehörte zum Leben, noch nicht Systemfehler im gehetzten, nach Beschleunigung drängenden Fluss der Dinge war. Es war ein Innehalten, ein Ausruhen, ein Sammeln, wie sich naturbelassene Gewässer abschnitts­weise ein bisschen ausruhen, bevor die Strömung neuen Anlauf nimmt.

Wie viele Ideen mögen auf einer Straßenbahnhaltestelle geboren worden sein? Man machte den ersten Blick in die Zeitung, die man eben gekauft hatte. Man machte einen Blick in die mitgebrachten Unterlagen. Man beobachtete die anderen Wartenden. Man traf monate­lang, jahrelang die gleichen Leute. Mit manchen hat man nie ein Wort gewechselt. Mit anderen entspann sich eine Straßenbahnbekanntschaft. Man wartete gemeinsam – bis der Zug in die Station einfuhr und die Gesellschaft wechselte, weil drinnen schon die alten Freunde warte­ten.

Die Strecke nach Mödling führte überwiegend abseits der Hauptstraßen mitten durch Villensiedlungen, teilweise auch noch an unbebauten Grundstücken vorbei. Die waren wild verwachsen, das Gestrüpp manchmal undurchdringlich. Es gab mehr als einmal Mordalarm, weil man in dem Dickicht eine Leiche gefunden hatte. Auch ein Kind war einmal dabei. So nahe an einem fürch­terlichen Tatort vorbeizufahren, ließ ein schauriges Gefühl aufkommen. Der 360er wurde, weil dieses Ambi­ente für ein Stadtverkehrsmittel nicht üblich war, auch „Dschungeltramway“ genannt. Der Dschungel ist heute weitgehend gerodet, säuberlich verbaut oder in gepflegte Parklandschaften verwandelt.

Die „Dschungeltramway“ gehört der Geschichte an, aber sie ist nicht vergessen. In der ehemaligen Endstation in Mödling stand lange Zeit ein alter Waggon und sagte: „Seht her, so war es vor noch gar nicht langer Zeit, als ihr noch Kinder wart.“ Jetzt ist auch er schon ins Altersheim, das für Straßenbahnen Museum heißt, gezogen.

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