Читать книгу Aficionados - Der Zauber der Giacomettis - - Joshi - Страница 3
Alex Kleid
ОглавлениеAlso wanderte ich durch Carls Kaff. Die Fußgängerzone – menschenleer. Ich ertappte mich dabei, es schon wieder zu machen wie in Berlin: Morgens rumlaufen. Aber dann geschah etwas, das in Berlin nie geschah: Mein Telefon klingelte. „Hier ist die Alex! Leo, wir fahren dann jetzt mal nach Augsburg!“ Es war acht Uhr. Die Alex hatte die Telefonnummer der Besitzerin des Kleids dieser Online-Auktion ausfindig gemacht und gleich noch die Adresse. Keine zwanzig Minuten später saß ich im Auto neben einer Alex, die grinsend aufs Gaspedal trampelte und mir erklärte, wenn ich jetzt abgesagt hätte, wäre sie gestorben. Dass ich aber eine Mann/Frau-Autophobie habe, weil ich mal in der Limousine von Carls Bruder ne halbe Stunde vergessen wurde, mit verschlossenen Türen, der voll aufgedrehten Musik von Rosenstolz und dem Haarspraygestank dieser Pink, die Lavendel nicht von Lauder unterscheiden konnte, interessierte Alex nicht. Ich konnte gerade noch „Landstraße“ japsen und sie tat mir sogar den Gefallen. Als ich dann beim Anblick der grünen Wiesen, abdeckenden Weite und sonnendurchfluteter Wolken über uns meine ersten Vorträge halten durfte, fühlte ich den vertrauten Leo in mir zurückkehren. Ich redete und redete, dass J. M. W. Turner – das J weiß ich nicht immer gleich sofort –, jedenfalls dieser Mullard William Turner in der Tate-Gallery Malwettbewerbe veranstaltet hatte, mit dem Landschaftsmaler Lorrain0, und wenn dessen Wellen braun badeten, malte Turner sie noch gischtiger, und wenn dessen Berge verschneit waren, malte Turner sie noch flockenverdichteter. Dabei stimmte das gar nicht. Lorrain lebte viele Jahre früher, Turner bewunderte ihn nur, ich brachte alles wieder durcheinander, aber – ich fühlte mich besser. Die Alex ließ mich, was ich am besten konnte: quatschen. Das rettete mich. „Bei euch gibt es aber nette Leute“, sagte ich. „Ich finde diese bescheidene Einfachheit inzwischen viel spannender als dieses Rumgeturne auf dem Kunsttrapez da oben.“ „Ja“, triumphierte Alex, „da habe ich Glück gehabt. Bin auch erst zwei Monate hier. Und den Carl kenn ich also auch erst zwei Monate, na was man so kennen nennen beim Sehen kann.“ „Du meinst kennen vom Sehen nennen?“ Meinen Einwurf ignorierte sie. „Erst dacht ich immer, wer ist denn dieser ‘Berli’ und wer ‘Pauli’? Hab echt gebraucht, um dahinter zu kommen.“ Ich stutzte: „Wie, du liest die Textmails von Carl? Eines Carl C. Wildes Textnachrichten liest man doch nicht!“ „Nein, nein“, beruhigte Alex, „die zeigt er immer rum und dabei lacht er so verschmitzt, hat wohl mal mit diesem Berlusconi im Gefängnis gesessen und Pauli is natürlich der Papst, nur damit die Mails, falls die einer knackt, du verstehst …“ Ich schwieg, weil ich gar nichts verstand. Alex erklärte geduldig: „Carl muss sich auch jedes Halbjahr ein neues Auto kaufen, hier im Ort waren Zinnober/Cinnabar führend, jetze aber Blau/Metallic. Also muss er wieder los.“ Das ist doch Porno, dachte ich, Chrom Metallicgesabbere, Auto-Porno, nur Fassade! Was macht der Carl denn hier, was zieht der hier ab? Dann wurde mir klar, dass die uns für Berühmtheiten halten, den Carl und mich. Ach Quatsch, Blödsinn, wir sind berühmt! Na klar, dem Carl war das völlig egal. Während ich in Berlin schon zusammenzuckte, wenn mich einer nur anstarrte, knallte Carl hier seine Storys raus. Der warf hier nur so um sich. „Das erzählt euch der Carl so einfach alles?“, fragte ich ungläubig. Daraufhin wackelte Alex lustig mit den Schultern, wippte am Lenkrad wie Chaka Khan und trat aufs Gaspedal. Als sich der nächste Landstraßenhimmel aufmachte, lachte Alex sogar laut: „Aber Leo, muss er doch, er will doch das Buch verfilmen. Da braucht er jede Aufmerksamkeit. Is n richtiger Werbefilou der Carl, hat euch ja auch nach oben gebracht.“ Tja, das stimmte allerdings, dachte ich resignierend. Carl schien sein Selbstbewusstsein anderen wie eine Plastiktüte überzustülpen, so dass die gar nicht mehr anders konnten, als Erfolg zu haben. „Wieso sollst du eigentlich Regie führen?“ „Ich?“ fragte ich überrascht. „Find ich blöd“, legte Alex nach, „dass du dich auch noch selber spielen sollst.“ „Ich?“ „Du bist doch n bekannter Künstler, da könnt ihr euch doch Stars leisten.“ „Wie meinst du das?“, spielte ich kurz den Beleidigten, „entweder ziehen wir das hier durch mit dieser Berühmtheit oder dampfen Carl und mich wieder auf Normalniveau.“ Alex spielte brav mit: „Entschuldige Leo – ach – Ihr seid ja die Stars. Hach Leo, ich bin sowas nicht gewöhnt“ – und trat wieder einmal kräftig aufs Gaspedal. Jedes Mal ruckte es mich im Beifahrersitz nach hinten, mein Kopf knallte gegen die Nackenstütze, was Alex ebenfalls jedes Mal ein zufriedenes Kichern abrang. Ich musste irgendwie zusehen, das Gespräch zu bremsen, die Fahrt aus der Unterhaltung nehmen, weil die Frau bei jedem ausstöhnenden „Hach“ ihren Fuß auf dieses Pedal drückte. Wem nutzte schon ein Leo mit nem platten Hinterkopf? Oder sah beim Aussteigen jeder so aus, den sie irgendwo hinfuhr? „Genau“, schrie ich gegen das Dröhnen des Motors an, „wir sind die Stars!“, war aber gleich wieder leiser: „Das is doch der Beschiss. Biste erstmal groß, traut sich keiner mehr ran an dich. David Hockney pur; als der sein erstes Millionenbild gemalt hat, da konnte er seinen Freunden keine mehr verkaufen. Du bist zu teuer, jammerten die, und was hat er gemacht? Nich blöde, der Hockney, er versendete die Dinger per Fax.“ „Hockey?“ schrie Alex durch den Motorenlärm zurück. „Nee, H-o-c-k-n-e-y. In den 60ern, seine Swimmingpools, hatte Glück, weil, danach kam dieser Manson und dessen Auffassung von Swimmingpools…, da wollte plötzlich keiner mehr Hockney kaufen, ach, das führt zu weit…die 60er…“ Und da sagte Alex ihren zweiten berühmten Satz, neben „Hallo, hier is die Alex!.“ Sie sagte: „Da war ich noch nicht geborn.“ „Was machst du sonst in Berlin?“, fragte sie, als mir entwöhntem Stadtmenschen sogar vorbeiziehende Pferde und Kühe auf Weiden als kleine Wunderwerke der Schöpfung vorkamen. „Hab mein Haus gekauft, das in dem ich wohne, will doch jeder mal? Hab die sogar alle drinnen wohnen lassen. Und zwei Bibliotheken, muss ich die Bücher nich mehr zuhause stapeln!“ Alex lobte: „Toll, Leo.“ Ich erzählte ihr mein Nicht-Rausgeh-Dilemma und dass ich Serien wie „Boardwalk Empire“ und „Sopranos“ durch zehn Mal hintereinander kucken analysierte. „Nicht sehr spannend“, gab Alex zu. „Wegen Steve Buscemi“, ergänzte ich, „die ‘Sopranos’ wegen…auch wegen Steve Buscemi…“ Da gähnte Alex, hielt sich die rechte Hand vor den Mund und löste diese dazu vom Lenkrad, während die linke da eh die ganze Fahrt noch nicht zugepackt hatte. Panik ergriff mich, wir schlingerten, und ich war drauf und dran einzugreifen, nur wie? Ich klemmte ja selbst zwischen Nackenstütze und Sicherheitsgurt. Ich wunderte mich, dass mir im rechten Gesichtsfeld immer so ein Schatten vor den Augen flatterte, bis ich bemerkte, dass da draußen so ne Drahtstange wie wild hin und her wedelte. Ne alte Antenne, dachte ich, sowas hatte die hier noch – ich sah mich verschüchtert um und bemerkte, dass ich in so ner uralt Schrottkarre gefangen saß, bei der sich unter Alex’ Fahrstil ihre Radioantenne draußen munter einen runterjodelte, die beiden schienen sich zuzugrinsen wie alte Freunde. Wenn meine Antenne nicht wackelt, bin ich nicht glücklich. Ich zeigte auf das Schüttelding, aber Alex ging erst gar nicht drauf ein, schien nicht mal zu merken, dass sie wie ne besoffene Nachtblinde munter über die Landstraße juckelte und sagte: „Da tut dir so n bisschen Realität ja richtig gut, Leo.“ Und Alex beschloss, unsere Augsburgfahrt zum Anfang meiner Therapie zu küren. „Therapie von was?“, fragte ich leicht hysterisch, mir tat schon die rechte Hand weh vom Festklammern. „Was machst du denn da?“ fragte Alex amüsiert und ruckelte in ihrem Fahrersitz herum wie ne flötende Ente auf’m Ententeich. Sie lachte sich eins. „Du siehst aus Leo, entschuldige, aber als wenn du dir da unterm Handschuhfach einen runterholst.“ „Was hole ich?“ fragte ich verängstigt. „Wovon willst du mich therapieren?“ Mir schien, als würde Schweiß meine Schläfen herunter laufen, und es war auch genau so. „Na Berlin“, frohlockte Alex, „ich therapier dich von deinem scheiß Berlin.“ Ich ertappte mich dabei, plötzlich Sehnsucht zu fühlen nach eben diesem scheiß Berlin, nach diesem netten „dit wird nüscht“-Aufmunterungsgerufe, das einen nur noch aggressiver seine Sache verfolgen lässt, das einen so aufzubauen vermag, dass man irgendwann die Straße langläuft und alles wegrammt; „und denne, denne wirste sehen, wird dit wat“ is ja auch ne Art Ansporn. Außerdem mag ich das Wort „Therapie“ nicht. Alex grübelte: „Na gut, dann nennen wir es Stufe zünden, wir zünden bei dir ne Raketenstufe, einverstanden?“ Die Vorstellung, dass mir Flammen aus dem Hintern raus kämen, tröstete mich nun auch nicht gerade. „Hach, Leo, so ne Rakete hat doch mehrere Stufen, erstmal Ballast abwerfen, das Schwerste, da fahren wir gerade hin, und dann zünden wir dir die nächsten Stufen, bis du am Ende alleine im Cockpit sitzt und alles fitty ist, okay?“ Sie gab sich ja wirklich Mühe mit mir, und das mit dem In ner Rakete Sitzen kam in jedem ihrer Lenkradschlenker und Pedaldurchtreter verdammt gut zum Ausdruck. Gut, also, Leo im Stufenprogramm, einverstanden. Andächtiges Schweigen. Aber dann fing Alex an zu quatschen. Autofahren, Lenkrad halten und die redete sich dabei einen, bis ich begriff, die meint mich, die erzählt das mir – ich muss da jetzt zuhören. Ich wollte gerade noch einwerfen: „Heh, ich bin’s der Leo, hab hier gerade mal eben zwei Jahre lang den Kunstbetrieb aufgemischt“, aber es konnte nicht spannender werden, als Alex zum großen Solo ansetzte, und sie erzählte mir nun ihrerseits erstaunliche Dinge, na wundervoll, und kulturell hochtrabend wählte sie das Thema Toilettenpapier: „Hör gut zu Leo, es is ja nun mal so, dass man ne Toilettenpapierrolle so rum anbringen muss, dass einem die Blattzunge aus dem Maul entgegen hängt.“ „Was?“ „Na entgegenhängt – dir – nicht an der Wand, nicht da so rumbaumelt, sondern auf deiner Seite.“ Als sie den Ausdruck Maul verwendete, musste ich unwillkürlich an die großen Münder dieser Mädchen denken, die Carl auf unser Ski-Hotel eingeladen hatte, weil er meinte, der Immendorff mache das ständig, also müsse es der Leo jetzt auch mal. Ich wollte dieser blöden Orgie gar nicht beiwohnen und höchstens mal zukucken. „Na, hat der Immendorff doch auch nur“, sagte Carl, und ich wieder: „Na wenn das schon einer gemacht hat, will ich’s sowieso nicht.“ Aber Carl kam mit seinem beschwichtigenden „Man muss die Leute da abholen, wo sie gerade sind.“ Ich frotzelte: „Wo denn bitteschön abholen? Wo sollen die denn sein? Die sind doch dauernd unterwegs. Vor lauter ‘Ich will das Neueste’ und ‘Das muss ich auch noch haben’ wissen die doch selber nicht mehr wo sie sind. Im Irrenhaus?“ Und dann sagte das Navigationsgerät von Alex, kurz Siri1 genannt, ebenfalls Erstaunliches: Nach 50 Metern links abbiegen. Wir fuhren dauernd im Kreis. Wir fuhren andauernd an Baustellen vorbei, geradezu bewundernd befolgten wir Siris Ratschläge, wurden von Baustelle zu Baustelle geleitet, und beschlossen: Augsburg – hässlich. Das hat Siri wohl gewusst, wahrscheinlich haben all die Navigationsgeräte dieser Welt das gewusst, und alle haben ihren Spaß daran, ihre Fahrer im Kreis zu dirigieren. Die sind zusammengeschlossen, funken sich Kicherrülpser zu und feixen, hihi, die Menschen diese Blödis, die merken das gar nicht, hihi. „Ich war hier noch nie“, sagte Alex entschuldigend und ruderte am Lenkrad. „Das glaub ich nicht“, murmelte ich, weil ich angestrengt aus dem Fenster stierte und sehen wollte, ob die Leute, die hier rumliefen und auf diesen Baustellen wohnten, nen platten Hinterkopf haben, vom unters Handschuhfach klemmen. Hatten sie aber nicht. Als wir um eine Ecke bogen, fegte die Sonne plötzlich durch unsere Gesichter, Blende auf, von grau zu durchlichtet. Vor uns rollte sich ein bis zum Horizont reichendes Kopfsteinpflaster aus. Ein riesiger freier Marktplatz tat sich auf, direkt vor unseren Füßen, die gerade irgendwie zweisam in Siris Gas-und Bremspedalen verhakt schienen, denn ich gestehe, ich musste eingreifen. Wir sahen auf einmal Brunnen mit Skulpturen – richtig in Bronze gegossene lebensgroß Dastehende –, stattlich posieren und irgendetwas in der Hand halten, einen Schild oder sowas, Schlangen erschlagen und einen Unglimpf bekämpfen. Dazu sprudelte Wasser um sie herum. Wir sahen schöne Häuschen, graziös um den Marktplatz verteilt – angeordnet wie wir es schon in der Wiege mitbekommen haben, davor sämtliche Autos fein säuberlich 75 Grad in Reihe geparkt, wie im Spielzeugladen. Augsburg doch gut. „Jetzt machen wir ein Foto“, rief Alex. Bis heute gibt es nur das eine von mir, denn als ich von ihr ein Foto machen wollte, stellte sich der Leo zu doof an, mir zitterten irgendwie noch die Hände. Auf dem Marktplatz stehen jetzt nur Alexens Beine. Auf dem Weg zum Kleid, vorbei an den Skulpturen, beschlossen wir, dass die, die gerade einen Löwen erstach, von Leo sein müsste, und die, die gerade einen armen kleinen Drachen masakrierte, Carl verkörperte. Ja, ja, sagte ich, der Carl traut sich nur an arme kleine Drachen ran, und nen Helm hat der große Drachentöter auch noch auf. Nur für Alex stand noch nix rum, würden wir aber auch noch finden. Seitlich vorbei an einer imposanten Kirche, durch kleine Gassen, am Fuße einer Ritterburg, gerieten wir, der Adresse folgend, auf einen längs gezogenen Innenhof. Hier müssen einmal mehrere Scheunen nebeneinander als Herberge für Pferde gedient haben, jetzt umgebaut zu kleinen Wohnräumen. An der mittleren Scheune dann endlich der große Moment: Klingeln an der Tür. Ne Nette machte auf, die gleiche Wuschelfrisur, aber kleiner als Alex und noch dünner. Können sich Geschmäcker treffen, so rein nur über Telefonate und Kleidansichten? Vielleicht sollte man immer zuerst Frauen anrufen lassen, wenn man als Mann die richtige treffen will. Gibt’s sowas? Partnervermittlung über Frauen für Frauen suchende Männer? Hab noch nie am Telefon mit ner Frau über ihre Kleider gesprochen. Die scheinen das den ganzen Tag zu machen. Verabreden sich 120 Kilometer voneinander entfernt und gleichen wie ein Ei dem anderen. Wir standen in einer großräumigen Wohnung, ja, ja, sie hätten Querverstrebungen rausreißen müssen, Zimmerdurchbruch, aus drei mach eins, die Decke sei etwas unegal, manchmal müsse sich ihr Mann sogar bücken, der volontiere gerade auf den Malediven, anfänglich wär er durch die Wohnung nur so herumgetorkelt, quasi statt seitwärts von unten nach oben, das sei jeden Tag neu lustig gewesen. Dann dicke Teppiche rein, nur den Kamin hätte man ihnen verwehrt. Die Farben Umbra und Vanille überwogen. Meine Güte, dieser langgezogene Raum. Ein vollgestelltes Sammelsurium aller erdenklichen Arten von Putzmitteln zum groß Reinemachen. Den Hang zu künstlichen Kletterpflanzen konnte ich auch nicht ganz nachvollziehen, und erst die in sich geschlungenen Wischmobs. Das sei affirmative Kunst, warf die Augsburgerin ein. Sozusagen sich selbst erklärend? Nein, bejahend, verbesserte sie, aha. Die Wischmobs seien aus ephemerem Material, also billigem Zeug, Zivilisationsmüll2 wie das heute heißt. Na, deren Katalogtexte möcht ich lesen. An den Wänden Trophäen, man sah gleich, diese Frau war viel gereist, immer in die südlichen Länder, Speere verschränkt um einen Schild aus Schilf gruppiert. Mein Blick fiel auf eine dieser spindeldürren Giacometti-Figuren. Diese statisch geformten, scheinbar von grobkörniger Haut überzogenen, kerzengroßen Figürchen klebten wie nach oben aufragende Äste eines Baumes als kleine Tischfiguren und trugen an den Füßen dicke Sockel – aber man verstand was Giacometti meinte, wenn er sagte, nicht der Raum sei das Problem. Der Raum wird erst durch die Figuren gestaltet, die man da hinein stellt. Er meinte natürlich Menschen, und Menschen plappern zu viel. Zu viel Input, deshalb sind seine Bronzefiguren wahrscheinlich auch immer so spindeldürr, kann ja nicht viel rauskommen aus denen, nennen sich dann „Schreitender Mann“ oder sowas, als wollten sie im Raum nicht groß stören, auch ne nette Art der Zurückhaltung. Aber was soll sich jetzt jeder aus dem Italienurlaub so ein dünnes Männchen mit nach Hause schleppen? Sowas kann sich doch jeder selber löten. Die seien aber aus der Schweiz, sagte die Gastgeberin, die Neu Grönener hätten sich regelrecht in die Giacomettis verliebt, wohl die Haltung des ersten Ski-Fahrers, scherzte ich ins Leere. Die Frau kam jetzt zur Sache, nahm Alex in den Arm, da schüttelte und wackelte auch nichts, normalerweise sind diese Afrikareisenden ja behangen von oben bis unten – Amulette, Papuapfeifen, Elfenbeinreiniger, dass man sie beim Verlassen der Wohnung erstmal entrümpeln muss. Nix da, diese hier war geradezu schmuck-nackig. Alex rief: „Wo isses?“ und sogleich wurde aus einer massiven Tüte Plastik zart behände hervorgeholt, weshalb wir überhaupt hier waren: das Kleid. So wie Alex es bejubelte, zweifele ich kurz, ob die Besitzerin das überhaupt noch hergeben würde. Da wusste ich noch nicht: Bald würde ich darum betteln. Das Kleid? Ein buntes Etwas. Nicht mal Gaugin hätte seine Leinwand so mit allen möglichen Küchenkompostfarben des Malzirkels überladen. Damit wollte die Alex zu ihrer Familie fahren? Mit diesem Buntkleid einen ganzen Abend verbringen? Zu ihrer Mami? Zwischen Frackträgern und Unifarbenen Herumstolzieren? Was will die denn damit erreichen? Ihre Enterbung? Man denkt ja, so wie sich eine anzieht, sieht’s in ihr drinnen aus. Deshalb stehen wir doch jeden Morgen verzweifelt vor unseren Klamotten und denken: „Was passt?“ Aber mit dem Buntkleid konnte man sie ja nicht mal in den Zoo schicken, das reißen ihr ja die Affen vom Leib. Sie hielt es an ihren Körper, mir entfuhr ein: „Da müssen wir dich aber kosmetisch aufrüsten“, und da ahnte ich noch nicht, was in den nächsten vier Tagen auf mich zukommen würde. Alex verschwand in die hinterste Ecke zum Kleidanprobieren. Mir war vollkommen klar, die versucht da jetzt reinzuschlüpfen. Alex, n Kopf größer als die Kleidbesitzerin, der das zu eng war, wie sollte das gehen? Also, vorausgesetzt ich hörte jetzt einen Schrei, dürfte ich wohl zurück nach Hause laufen. So eine weitere Autofahrt mit frustriertem Lenkradgequietsche überstand ich nicht, nicht mal mit Helm und drei Krankenschwestern auf’m Schoß. Aber, zu unserer Verblüffung – wir hörten nichts. Es war so verdammt ruhig da hinten, wir hörten kein Geraschel umständlichen Gekrempels, nicht mal „Auas“ vom Finger quetschenden Überstreifen; war ja irgendwie auch verdächtig. „Woher genau hast du das engmaschige Ding?“, fragte ich meine mitzitternde Noch-Kleidbesitzerin, denn auch ihr kam das komisch vor – eben noch überschwängliche Alex, plötzlich Totenstille. „Eigentlich …“, sie schluckte ein bisschen, „war das ne Präsentation tunesischer Muster, die präsentieren ja andauernd was, die Spanier. Und eigentlich, wir kamen da nur zufällig vorbei, war so viel Rummel, Presseleute, Kameras, und inmitten des Pulks stand sie plötzlich, engelsgleich, schlank wie …“ „Ja, wie denn?“ fragte ich ungeduldig. „Ja, wer denn? Und komm nicht auf die Idee, der Alex auch nur andeutungsweise ein ‘Du siehst so aus wie …’ zuzuwerfen. Ganze Abende hab ich nach so einem Satz alleine verbracht – hab’s mal geschafft zu einer zu sagen, dass sie aussähe wie Sophia Loren, da gab’s noch Wespentaille, heut is ja nur noch Plum Platsch am Riemen. Na, den Abend hab ich aber sowas von alleine verbracht. Und sag ihr bloß nicht, wo das Kleid herkommt!“ Ich konnte meine Gereiztheit kaum noch verbergen. „Du hast die Hinfahrt zu deiner kleinen Scheune hier nicht miterlebt, ich jedenfalls bin fast aus ‘m Beifahrersitz geflogen, wenn die das Kleid nicht – also wenn hier was schief läuft – du hast keine Ahnung – also, jeder Trumpf, spiel ihn aus, kick die Frau ins Himmelreich.“ „Das kann ich nicht“, stocherte die weiter in meinen aufgefalteten Nervenbahnen. „Es war, …das Kleid ist …“ „Spucks aus“, schrie ich fast, „verdammt, die sagt ja da hinten keinen Mucks mehr. Alex!“, schrie ich, „Alex, bist du da drinnen?“ Ich wurde fast weinerlich: „Oder hast du dich schon heimlich aus dem Staub gemacht?“ Nichts. Wir hörten nichts. Sollten wir mal nachsehen? Mein Blick wanderte hoch entlang dieser schiefe Bahnen ziehenden Decke, vielleicht lag’s an der Akustik. Mit den Teppichen und dem ganzen Gebimms hier drinnen klang alles so gedämpft. Aber wir standen weiter da wie die Giacomettis, dann flüsterte sie mir ins Ohr: „Miller.“ „Geht’s etwas deutlicher?“ fragte ich. „Miller, Marisa … Miller“, sagte sie. „Ich kenn nur nen Arthur“, antwortete ich. „Ja und? Kommt noch was? Komischer Markenname. Was ist das? Hat dieser Marisa Miller mit Absicht so bunte Kollektionen engster Kleider entwickelt, nur so für Holzpuppen in Augsburg?“ Ich starrte auf die dürren Giacometti-Figuren, betete den halben Katalogtext3 dieser Beyelers fast pathetisch vor mir her: „Diese Überlänge, die zu einer inneren Monumentalität neigt, wird in ihrer entmaterialisierten potentiellen Unbegrenztheit zum gleichgewichtigen Gegensatz, aus dem sich die nervige Spannung seiner Figuren ergibt“ – so klang das, atmete ich durch. Von potentieller Unbegrenztheit konnte hier aber keine Rede sein, im Gegenteil. Und innere Spannung kannste haben, nerviger Gegensatz, sowas von haben kannste das, mehr als genug, das konnte ja heiter werden. „Nee, das is n Model“, sagte die jetzt wieder zu mir. Seit wann sind Giacometti-Figuren Models? „Die is gertenschlank, und n Kopf größer als deine Alex, Marisa Miller is ne eigenartig hübsche, und sie hat an dem Vormittag im Entrée in Barcelona alle Kleider durchprobiert.“ „Was?“ rief ich entsetzt. „Die die sie nicht wollte wurden dann für nen Spottpreis an Touristen verhökert, und so kamen wir dazu.“ „Nicht wollte?“, meine Stimme erlangte lallende Hochlagen: „Was meinst du mit ‘Nicht gewollt’? D-d-das willst du ihr doch jetzt nicht erzählen? Nicht gewollt. Am Ende nimmt die das nicht, und am Ende …, das ist dann mein Ende. Warum wollte diese Miller das denn nicht?“ „Na, es war ihr zu weit,“ zuckte die mit den Schultern. „Zu weit? Was für ne Gräte is denn diese Marisa Miller?“ Mich überkamen Gelüste, einen Hals zu würgen. „Die is größer als …, schlanker als …“, „Hat die nen Knochenbau aus Chinin?“ „Puh, puh“, machte da die Nochbesitzerin: „Ne Grätengräte.“ Wir hörten immer noch nichts. Wahrscheinlich ist sie beim Hochziehen des Reißverschlusses erstickt. Gibt’s ja häufig in den Umkleidekabinen. Das Diaphragma zieht sich zusammen, die Atemmuskulatur kommt für einen kurzen Moment ins Schlingern, die Betroffenen kompensieren das mit Schluckauf, können gerade noch den Vorhang der Umkleide aufziehen, aber dann sehen sie im richtigen Licht die Farbe, die echte Farbe, so wie das Kleid für den Rest ihres Lebens an ihrem Körper kleben bleibt. Es sind diese eingefrorenen Momente, man ist da drin und kann nicht mehr raus. Es sind die Momente des Bewusstwerdens, die uns erstarren lassen. Es ist doch nur ein Kleid, möchte man hinzurufen, aber zu spät: Ganze Reihen kippen da aus den Kabinen, und dann müssen die Decorateusen dem KarL, also nicht dem Carl, sondern dem mit ‘K’, dem Lagerfeld, gestehen: „Du Karl, das Kleid haben wir zwar verkauft, aber, naja, wir könnten es glatt nochmal …, nur einmal getragen, du verstehst?“ Dann kuckt der Karl ganz ernst, weil er überlegt, ob er das jetzt verstehen soll – doch dann fächert der Karl sich das Verstehen von der Linse, während die da im Hintergrund reihenweise aus den Kabinen kippen. Und was macht er? Statt denen aufzuhelfen? Sie wiederzubeleben? Er hat immer noch enger schneidern lassen. Die Noch-Kleidbesitzerin sah mich an, ich schien jämmerlich ausgewrungen, und ihr mitleidsvoller Blick machte mich nur noch nervöser, wie n Behinderter im Rollstuhl, dem alle die Hand reichen, „Guten Tag sagen und denken: „Oh, der kann ja gar nicht, hätte ich bloß nicht …“ und genau das brauchen die jetzt noch. „Guten Tag“, weil es noch nie irgendjemand zu ihnen gesagt hat, … diese scheiß Mitleidstour. Scheiß Augsburg, scheiß Leo, scheiß Frauen, scheiß Kleider, scheiß Lagerfeld … Irgendwann nahm sie sogar meine Hand, diese Noch-Kleidbesitzerin, quetschte sie geradezu. Wie konnte die denn nur so ein enges …, das schaffen doch nur Leidensmenschen. Da schrie es auch schon von hinten. Dann wieder Stille. Selbst mit nem Pistolenschuss wären wir zufrieden gewesen. Wenn Alex das immer so macht, das hält ja kein Mann aus, mit der zusammenzuleben. Mein Blick fiel schon wieder auf die spindeldürren Geher aus Bronze. „Pack die scheiß Figuren weg“, sagte ich, „wenn die Alex die sieht, schnallt sie das Ganze mit dem dürr sein, da fühlt die sich verkarlt, genau, schlanke Figuren auf nen Sockel gehoben wie auf ein Siegerpodest, das brauchen wir jetzt noch!“ „Wirklich?“, gaffte die mich erstaunt an. „Nein“, brüllte ich fast schon wieder, „mach sie weg, bist du irre? Dich sollte man mal abholen. Da kannst du das Kleid gleich verbrennen!“ Verbrennen schien ein Wort zu sein, das die zum Springen bringt. Sie huschte durch das Zimmer, sammelte die fünf Hänflinge ein von der Vitrine mit der Franz Hals-Lithographie, die offensichtlich gefälscht war, denn der Hals malte nur in Öl und das schon 1556, und ich erkannte, dass ich auch noch in ein Nest von Kunstfälschern geraten war und Alex hier so schnell wie möglich rauskatapultieren musste. Marisa Miller, ha ha, so eine gibt’s doch gar nicht, der Mann ist verreist, die Reisen kenn ich. „Nicht doch“, schimpfte ich, sie drückte ihre Augen in meine Richtung. „Tasche“, flüsterte ich, „Tasche!“ und war deshalb nicht wirklich erstaunt, als sie sich die erstbeste schnappte. Zielsicher warf sie die Figuren in Alex’ Tasche. „Nicht doch“, war ich schon wieder entsetzt, „da, da hinein!“ Sie entdeckte einen Rucksack, schwarz, und es wunderte mich gar nicht, wie die dürren Figürchen schon mit einer gewissen Leichtigkeit des Loslassens in meinem Rucksack landeten, fein ordentlich den Reißverschluss zuziehend – das macht die allwöchentlich, dachte ich. Bronze schwer, dachte ich, „Bronze leicht“, nickte sie mir zu, wir waren Komplizen, merkte ich, und sie robbte auch schon wieder an mich ran, nahm ihre angestammte Position ein. Unser beider Blick fiel erneut auf den Tisch, weil, die dumme Nuss hatte was vergessen, da stand tatsächlich noch einer dieser aufrechten Wanderer. „Verdammt“, fluchte ich, „wie konntest du …“, aber es war zu spät. Schritte aus dem Dunkel – und dann kam sie. Alex. Präsentation. Und wenn es das gibt: Ein In-sich-Zusammensacken, das nach Erstaunen aussieht, Augenöffnen, das nach Begeisterung aussieht, Strahlen, die man gebündelt in nur eine Richtung schickt: Alex, deren Augen diese Strahlen erwidern. Wenn es so etwas gibt, dann fragt mich. Ich bin von diesem Tag an Meister darin. Man muss sich das vorstellen: Ein dünnes langes Mädchen, strohblonde Haare, blasser Teint, hängende Ärmchen und ein sommersprossiger, flacher Ausschnitt, wird gesteckt in ein Buntkleid, mit Papageien drauf und Verzierungen, der halbe Dschungel Papua-Neuguineas verewigt in knalligsten Farben, bereit, bei jeder Bewegung mit zu wippen. „Das Kleid stammt aus Barcelona!“, sagte die schmale Türöffnerin, ich dachte, warum sagt die nichts?, da wurde mir klar, die spulte auch nur noch Reserve-Restfetzen ab: „und … und … die Verkäuferin war eine Marokkanerin, … nein halt, Stop, Tunesierin … die ist um die halbe Welt … und schon die hatte da nicht reinge … glupp ...“ Aber Alex stand da, freudestrahlend, dass ich der so nett vor den Mund fasse, is ja auch mal genug geredet. Sie drehte sich herum in ihrem Kleid, sie kuckte uns an, ihre Händchen haltend, als erwarteten wir eine Schrottpresse von oben herunter. Alex grübelte: „Leo, deine Hand ist ja ganz rot.“ Ach? Wir ließen los, sie meine Hand, ich ihren Mund. Ich schüttelte schnell meine malträtierte Hand und grinste blöde. Klar rannte die Alex jetzt in dem Kleidchen die ganze Wohnung ab, wir standen immer noch ineinander geheftet, unsere Köpfe folgten ihrem Rundgang, war das jetzt Unsicherheit oder war sie schon kleidverliebt? Ich dagegen dachte mich in eine ganz andere Welt, sah mich am Mississippi-Delta, aufgerissene Krokodilmäuler lachten mich an, sieben Zahnreihen sollen die haben, bevorzugte Mahlzeit Jeans mit Beinen. Fred McDowell kam mir in den Sinn, 1923, Mississippi-Delta, „My Father played the Bottleneck“, mit einem abgeschlagenen Flaschenhals, von verschlammten Mücken befallen, Sümpfe Floridas, schwarze Männer, mit Filz umrandete Whiskeyflaschen, Mundharmonika, durchgelaufene Schuhsohlen, 5-Es-Dur, jede Blues Harp ihren eigenen Ton. Die H-Saite zur D-Saite gestimmt, die Fingerkuppen durchgeätzt vom Saiten-Picking. Und aus dem sumpfmorastigen Wassergraben steigt Marisa Miller auf, „Gib mir mein Kleid zurück“ keift sie und Alex will nicht, Alex rennt und rennt, mir bricht der Schweiß aus, ich rufe: „Lass das sein, wirf es weg, gib es ihr einfach, Schluss mit allabendlicher Metamorphose – wir gehen Back to Mono.“ „Was hast du gesagt?“ fragte Alex. „Ich?“ zuckte ich zurück. „Nichts … nichts habe ich gesagt.“ „Doch, doch, du hast irgendwas gemurmelt mit ‘oh no’…“ „Nein, nein, das habe ich nicht!“ „Wieso?“ atmete Alex aus – also das ging scheinbar noch – sie wurde jetzt kämpferisch, ihr becircender Ton täuschte mich nicht, irgendwie hatte die ne Vollmacke, dachte ich, da fiel ihr Blick geradezu todsicher auf das Tischchen, den letzten übrig gebliebenen Giacometti, ein dünnes Kerlchen, keine zwanzig Zentimeter hoch; unsere Gastgeberin wagte nicht mal, den Kopf in die Richtung zu drehen, und Alex rief, was wir wirklich noch gebrauchen konnten: „Hey Leo, da steht ja eine deiner Skulpturn, puh, sammeln die das jetzt schon in Augsburg?“ Da reagierte die Kleidbesitzerin schnell, schnappte die Figur und stopfte sie vor Alex’ Augen zu den anderen umherpurzelnden in meinen Rucksack. Alex zog den Kopf zurück, lachte, drehte sich einmal um sich selbst, die Papageien drehten mit: „Na? Gefällt dir jetzt mein Kleid?“ Ich kuckte sie blöde an. Amerikanische Anwälte haben laut „Boston Legal“4 einen Begriff dafür: fungable – vertretbar. Ist das Kleid vertretbar? Ist es nicht. Was bloß sagen, verdammt? „Alex, das Kleid, es ist … es sieht … es …“ Sie starrte mich fordernd an. „Kleid …“ stotterte ich, überlegte, was würden denn diese Giacomettis jetzt machen? Bronzejungs helft mir! Und dann halfen sie mir: „Das Kleid, Alex, ich höre den Klang des Raumes. diese innere Monumentalität, diese entmaterialisierte potentielle Unbegrenztheit!“ Alex verzog die Augenbrauen. Sie sah mich an, als ob etwas in mir leuchtete. Dann lächelte sie. „Wow, Leo, genau das Gleiche habe ich auch empfunden. Carl hatte Recht, du bist was ganz Besonderes.“
Ich dachte, die hat ne Macke. Räume klingen nicht und was soll der Carl jetzt schon wieder? Sind wir zwei in einem? Aber irgendetwas stimmte nicht, denn sie sagte: „Kuck mal hier vorne, die niedlichen Papageien drauf. Ach Leo, sieh es dir einmal aus der Nähe an.“ Ich wollte das aber nicht ansehen, schon gar nicht so viel Reizüberflutung, da steckte ja gar keine Frau mehr drin, da will man ja nur noch ins Kleid, da halft auch keine Strategie des emotionalen Heranzoomens mehr. Fehlte noch, dass ich vor Alex kniete, vor ihrem Kleid und mir jedes Ding darauf einzeln betrachtete. Alex aber immer weiter: „Dieser Stoff, du darfst ihn auch mal befühlen, wenn du willst.“ Meine schlaffen Augenlider kehrten zu ihrer Muskelspannung zurück. Hatte sie „Fühlen“ gesagt? Alex in ihrem Papageienkleid stand erwartungsvoll vor mir und lächelte mich an. „Fungable“ sagte ich. Das klang groß – prahlerisch, als wollte ich sie hypnotisieren. Kunst, Kunst. Ich war fast am Ziel, nur noch einen Schritt und ein Bücken, um endlich ihr Kleidchen betatschen zu können. Es war mir jetzt auch egal, mir tat die Handinnenfläche weh, neben mir stand eine Besserwisserin, die vom vielen unter ner schiefen Zimmerdecke Durchgehen selber im Kopf irgendwie schief geworden war, zudem gingen mir auch langsam die Argumente aus, also half nur Tatschen und Befühlen. Ich wollte meine Hände gerade ausstrecken, da fragte diese Schiefdeckentante doch glatt: „Wie bist du denn da bloß reingekommen?“ Mein Mund öffnete sich verdutzt, wollte ein bewunderndes „Oh“ anstimmen, aber schon huschte Alex von dannen, drehte ihr Kleid erneut herum, und ich stand da wie blöde, mit Sabber im Maul und dem inkohärentesten Ausdruck auf dem Gesicht, den man zu dieser Zeit in Augsburg finden konnte. „Zuerst“, erzählte Alex stolz, „habe ich ja doch etwas gegrübelt, aber dann – dachte mir: Da kommst du jetzt rein. Na, dann zieh ich halt keinen BH drunter!“ Ich machte prophylaktisch ein noch schöneres ‘Oh’ – kam mir vor wie ein Spion, mitten reingeschlichen in die Geheimnisse einer Mädchenumkleidekabine. Aber was konnte ich dafür? Die haben mich ja mitgeschleppt. Da könnten die beiden ja ein bisschen mehr Rücksicht nehmen, aber denkste, die kicherten sich eins. Alex drehte und drehte, die beiden Frauen feierten die Vorführung, zurechtgezupft wurde an allen Seiten, glattgestreift, und weiter gedreht, die vergaßen mich hier vollends, halbkniend, sabbernd und … dann Ruhe, der große Moment. Ich stellte mich vor Alex und ging in die Knie, da fand meine Handdrückerin ihre Stimme wieder: „Is irgendwie inkohärent“, schnatterte die. Ich schwankte etwas, verrutschte in meinen Hosen, Tränen stiegen auf. Wir hatten es doch fast geschafft, und nun … die dumme Nuss. „Unklar bedeutet das“, kniete inzwischen sogar meine Stimme, „wirr, ohne Plan. Kohärent is klar, inkohärent unklar.“ Ich sah sie an, wie mich der tollwütige Hund am Machu Picchu vor fünf Jahren angestiert hatte. Alex sah sie auch an. „Was bedeutet das?“, fragte sie irritiert, „bedeutet das was Gutes?“ „Na, dieser Österreicher“, plapperte ich wirres Zeug drauflos, damit hier noch was zu retten war, „dieser Regisseur, Haneke5, mit den Folterfilmen …“ Und die wieder: „Der macht doch keine …“ „Klappe jetzt mal!“, fuhr ich barsch dazwischen. „Haneke hat jetzt zugegeben: Alles was klar ist, ist keine Kunst. Und somit ist dein Kleid unklar und somit …“ „Kunst?“, lächelte Alex, die Augenbrauen zogen hoch zur Zimmerdecke. „Genau“, breitete ich meine Arme aus und machte einen Schritt auf sie zu: „Kunst“, sagte ich, dann kniete ich wirklich vor ihr – ich, Leo der Künstler, und erhob ihr Alex-Kleid in den Adelsstand, heut mal umgekehrt. Ich berührte den samtenen Stoff, ließ ihn leicht fließen zwischen den Fingerkuppen, gleißendes Schmelzen und muss für eine schmerzvolle Ewigkeit glücklich ausgesehen haben. -- Auf der Rückfahrt klapperte mein Rucksack. Beim Verstauen unter meinen Füßen auf dem Beifahrersitz saßen jetzt mehrere kleine Bronzefiguren. Die Erstbesitzerin des Kleides hatte sich so in Lobeshymnen hineingesteigert, bis zur Erschöpfung, dass wir vor ihren Augen die halbe Wohnung hätten leer räumen können. Szenen des Drama-Abschieds spielten sich vor mir ab, im Alex-Kleid durfte sie sich als Star benehmen, auch wenn sie keiner ist, benehmen wie im Tollhaus. Alex fiel vor lauter Umarmungen, Tschau und Küsschen fast noch in die Afrikagruppe mit den Speeren. Geistesgegenwärtig schubste ich die beiden vor die Tür auf den Reitervorhof, man, man, ich atmete tief durch, als Alex endlich den Zündschlüssel umdrehte und wir uns Richtung Heimat bewegten, jeden Kilometer würde ich zählen. Wir kurvten natürlich dank Siri erstmal dreimal über diesen Marktplatz mit den ganzen Brunnenfiguren, schon wieder Figuren, hier fanden wir dann sogar noch Alex’ Statue, sah n bisschen wie ne Ente aus, ihr gefiel’s. Dadurch wedelte sie noch mehr mit dem Lenkrad, sie schwitzte vor Aufregung, weil sie ihr Kleid gefunden hatte, und laberte aufgedrehtes Zeug, dass sie sogar meine Brille mit dem abgebrochenen Bügel für so typisch Leo halte, dass alles so stimmig wäre zwischen Carl und mir und mir und Carl, und ich kam gar nicht dazu, ihr zu erzählen, dass mir der Bügel beim Sturz abgebrochen war, weil Carl empfand, ich sollte mal für Gaultier Laufsteg gehen, so als Gaultier-Tier, und dieser in lässig Jogginghosen angereiste Mistkerl mir seine ausstaffierten Kostümchen überstreifte und feixend mit mir Steintreppenstufenlaufen übte. Ich übte aber Steintreppenstufenrunterrollen und ausgerechnet bei dieser Probe hatte Gaultier auf seine doch so berühmten Schulterpolster verzichtet, sehr zum Leidwesen meines Brillenbügels. Alex sagte geradezu bewundernd zu mir: „Ja, nehmt sie euch, Mädels, die Männer mit ihren geilen Autos, ihren Pilotbrillen, könnt ihr alles schrotten. Brillen mit abgebrochenem Bügel sind jetzt angesagt. MC5.“ Dann drückte Alex ihre ganze Freude in dieses süße kleine Gaspedal. Ich nickte weg und spürte nichts mehr, und dachte, na wenigstens sterben wir auf der Landstraße mit nem schönen Turner-Himmel und nem schönen Kleid im Kofferraum und wahrscheinlich wird die Presse nach unserem Unfall schreiben: Warum wollte der Leo plötzlich Frauenkleider tragen, mit bunten Papageien drauf?
0 Turner/Lorrain - Stimmt nicht. Leo erzählt Blödsinn, er will Alex nur beeindrucken. Turner (1775 – 1851) hat nie mit Claude Lorrain gemalt. Lorrain (1600 – 1682) war vor seiner Zeit. Es wurden auch keine Malwettstreite veranstaltet. Richtig ist, Turner kopierte anfangs Holländer und seine Kritiker der Academy um die er sich bewarb, empfanden sein Wasser als zu schmutzig, seine Hintergründe zu schwammig, erkannten aber sehr wohl, dass Turner jemand ganz besonderes war, so dass seiner Mitgliedschaft in der Akademie schließlich nichts mehr im Wege stand. Der anerkannte Turner-Kenner Andrew Wilton, der neben Briefen auch Zeitaussagen aus der näheren Umgebung Turners gesammelt hat, weiß zu berichten, dass Turner beim Anblick der ersten beiden Claude Lorrain Gemälde in Tränen ausgebrochen sei, mit dem Ausspruch: Mein God, so gut werde ich nie malen können. Turner gilt als der große Visionär der modernen Malerei, schrubbte, wischte auf seinen Bildern herum und fügte zum Abschluss noch mit den kratzenden Fingernägeln Lichtpunkte in seine Gemälde ein. Statt sich Lorrain geschlagen zu geben, akzeptierte er dessen Bildkunst und perfektionierte ehrgeizig seinen eigenen Malstil. Quelle: Andrew Wilton, William Turner, Briefe und Zeitzeugenaussagen.
1 Suri heißt die Tochter von Tom Cruise & Katie Holmes, deren gefakte Ehe, des Cruisens Scientology-Karriere, und der Sorgerechtsstreit mal wieder den hollywoodianischen Irrsinn widerspiegeln. Also heißt Alex’ elektronisches Orientierungsgerät Siri, was kann denn die kleine Tochter für ihre Eltern? (1/1)November 2011 – Bereits da hat ‘Vanity Fair’ (1/2), das Society Hochglanzmagazin schlechthin (wir erinnern uns, Vanity = Eitelkeit, Fair = Fair, Tom Wolfe = Bonfire of Vanity), veröffentlicht, dass Tom Cruise eigentlich eine ganz andere Frau heiraten sollte, als Katie Holmes. Doch diese Frau, die sich einem regelrechten Tom Cruise(1/3) Eignungstest-Training unterziehen musste, mit all nur erdenklichen schweigepflichtigen Entbehrungen, inklusive Trennung von ihrem Freund, wagte es dem Chef von ST zu widersprechen. Nicht nur, dass sie fast ihre gesamte Existenz geopfert hat, beruflich als auch privat, als sie wusste, dass sie die Auserwählte, aber im Falle eines Scheiterns, was dann auch geschah, zum Kloputzen und anderen Repressalien verdonnert würde, use ya fantasie it’s Scientology, heulte sie einem Insider Journalisten monatelang den Anrufbeantworter voll, auch durfte dies nicht an die Öffentlichkeit dringen. Der Journalist versprach’s und dabei blieb es. Als aber nun die Scheidung von der endausscheidend gewinnträchtigen Katie Holmes bekannt gegeben wurde, gab die ehemals Auserwählte alle Schleusen frei, den Journalisten interviewte das Magazin ‘Vanity Fair’, das doch gerade aufgrund seiner Society-Gehässigkeit so beliebt ist. Man darf nicht vergessen, darin zeigen sie Stars wie luxuriös sie wohnen und machen sich anhand von Hochglanzfotos über deren durchgeknallte Verschwendungs-Stillosigkeit lustig, und alle, wirklich alle, wollen da rein, trotzdem, und genau in dieses Magazin, egal wie, notfalls eben so. Nur den Leo, also mich, ham se nie gefragt, die meinten ganz schnöde: What’s the use a One-Room-Environment? Put in some Shisma and Go to da New Yoka. class="calibre13">Wusste ich auch nicht, dass sich vorher zwei Austräger verkleidet als Ghetto Rhastas die Grund-Eroierung meiner Wohnung einholen, und das dann für zu blöde empfinden, das lohnt sich nicht, der hat ja nich mal Möbel drin; dafür fuhren die extra nach Moabit. Diese ganze gefakte Beziehung des Tom Cruise ist natürlich ein Armutszeugnis, kein Wunder, dass nach dem Filmdreh ‘Eyes Wide Shut’, einem schon allein großartigen Titel des letzten Kubrick Films, die sich darin unanständig seelisch entblößende Nicole Kidman von allem was Tom oder auch nur annähernd Cruise hieß, abgewandt hat. (1/2)Vanity Fair - Tom Cruise’s Scientology Marriages: The Secret Wife-Auditioning Process Before Katie Holmes, Revealed In the October issue, Vanity Fair special correspondent Maureen Orth reports that in 2004 Scientology embarked on a top-secret project headed by Shelly Miscavige, wife of Scientology chief David Miscavige, which involved finding a girlfriend for Tom Cruise. ….According to Orth, Nazanin Boniadi, an Iranian-born, London-raised actress and Scientologist, was selected and dated Cruise from November 2004 until January 2005. Initially she was told only that she had been selected for a very important mission. In a month-long preparation in October 2004, she was audited every day, a process in which she told a high-ranking Scientology official her innermost secrets and every detail of her sex life. Boniadi allegedly was told to lose her braces, her red highlights, and her boyfriend. According to a knowledgeable source, she was shown confidential auditing files of her boyfriend to expedite a breakup. (Scientology denies any misuse of confidential material.) The source says Boniadi signed a confidentiality agreement and was told that if she “messed up” in any way she would be declared a Suppressive Person (a pariah and enemy of Scientology) (1/3)Dass Tom Cruise Ende Oktober den Bauer Verlag mit einer 50-Millionenklage bedrängen will (SZ, 26 Oktober 2012 ‘Suri in Tränen - Tom Cruise verklagt Bauer Verlag auf 50 Millionen Dollar’) weil diese behaupten er sei ein schlechter Vater, wird als Cruis’scher Unterlassungs-Spaß gehandelt. Schon einmal 1996 hatte er den Burda-Verlag, damals sogar 60 Millionen, nach dem Veröffentlichen seiner eigenen Behauptung über seine kaum denkbare Zeugungsfähigkeit immerhin zu einer öffentlichen Entschuldigung und Entlassung des stellvertretenden Chefredakteurs gezwungen. Dabei, und das ist wirklich komisch, war das Zitat zuvor bereits in dem Jugendheftchen BRAVO aufgetaucht, die wurden aber nicht verklagt, und sind beim Bauer Verlag, da schließt sich der Kreis.
2 Richard Tuttel – Unter der Überschrift ‘Kunst als Andeutung’ im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom Freitag, 26. Oktober 2012, fragt die Autorin Catrin Lorch, tatsächlich Catrin mit ‘C’: Wie viel Seele steckt in einer Skulptur? (Wie viel dabei tatsächlich auseinander geschrieben) Der amerikanische Bildhauer Richard Tuttle entwickelt jenseits aller Esoterik konzentrierte Werke der Stille. – Diesem halbseitenlangen Artikel als Hinweis auf die bevorstehende Ausstellung in der Pinakothek der Moderne in München habe ich die schönen Beschreibungen entnommen ‘Ein Plastikschlauch, der schneckig so eingedreht ist…’ Schick auch die Materialbeschreibung der Tuttle’schen Skulpturen: ‘Schnur, Tape, grünes Seidenpapier, doppelt verdrehte Isolierfolie, Wollstränge.’ Unklar bleibt, ob man das jetzt zur Ausstellung mitbringen oder dort als Attraktion zusammengeknoteter Irgendwas erwarten soll.
3 Beyeler – Wege der Moderne – Die Sammlung Beyeler: Ausstellungskatalog 1993, Seite 158, Ausstellung in der neuen Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz - ISBN 3-89479-035-0
4 Boston Legal, William Shatner – CD kaufen klauen… na ihr wisst schon, es gibt eine Conan O’ Brian Show mit Shatner, das muss man gesehen haben. In Boston Legal nehmen sich die anschaulich übergewichtigen Sam Spader und William Shatner als Anwaltsfreunde selbst auf den Arm. Unglaublich welch lange Plädoyers Spader aufzutischen in der Lage ist. Shatner als Deny Crane spricht die sparsamen Texte. Glaubt, er habe Mad Cow Desease, Zwei Folgen hintereinander der Dialog Screwball – Serie schafft man, dann erstmal Pause machen.
5 Michael Haneke – Interview Tagesspiegel, Sonntag, 16. September 2012., Zitat: „Alles was auf den Begriff gebracht wird, ist künstlerisch tot.“ – Ich gestehe, wer solche Sätze in einer harmlosen Sonntagszeitung verkündet, sollte keine Bücher schreiben, sondern Filme drehen und versuchen die Zeit anzuhalten, und das tut er ja dann auch.