Читать книгу Sohle Sieben - Jost Baum - Страница 7
ОглавлениеViertes Kapitel
Zwei Tage nachdem der Artikel über den mysteriösen Metallbehälter samt Fotos erschienen war, saß Jablonski vor seinem Schreibtisch in der Redaktion, spielte mit einer aufgebogenen Büroklammer, polkte ein paarmal zwischen den Zähnen nach den Resten seines Frühstücksbrötchens und lehnte sich entnervt zurück. Vor ihm lag eine Einladung zur Einweihung eines Feuerwehrschuppens. Den Termin für die Sitzung des Stadtrates, bei der über die Kürzung des Kulturetats beraten werden sollte, hatte er zwar notiert, aber in letzter Minute Kampmann auf's Auge drücken können, der schon jetzt unter der Last der Urlaubsvertretung für Pohlig zusammenzubrechen drohte. Einen Brief, der auf die Verleihung des Allergikerpreises, einer Art Gasmaske zum Pollenschutz, verwies, hatte er eher amüsiert zur Kenntnis genommen. Was ihm wirklich Sorgen bereitete, war das Schreiben, das in der Innentasche seines Jacketts steckte und ihm mitteilte, daß sein Führerschein wegen Trunkenheit eingezogen wurde und er zusätzlich eine beträchtliche Summe an die Kasse des Amtsgerichts zu überweisen hatte, deren Höhe ihm wirklich Kopfschmerzen bereitete. Sein Gehaltskonto war bereits mehrfach überzogen, die Miete fällig und die paar Mark, die er Hildesheimer abgeluchst hatte, längst ausgegeben.
Das Einzige, was ihn vielleicht wirklich für einige Wochen aus seiner mißlichen Finanzlage hätte retten können, wären ein, zwei Aufträge gewesen, die er nicht nur im Bochumer Stadtanzeiger, sondern auch in überregionalen Blättern, dann aber unter Pseudonym, veröffentlicht hätte. Daher kam ihm der Hochglanzprospekt, der da vor ihm lag, gerade recht. Ein Wissenschaftlerteam aus einem Geologen, zwei Chemikern und einem Physiker, ein gewisser Professor Hirschel, hatte angeblich ein Verfahren entwickelt, die Müllberge der Bundesrepublik in stillgelegten Kohlestollen verschwinden zu lassen. Gleichzeitig würden Arbeitsplätze geschaffen und nicht zuletzt der Umwelt ein Dienst erwiesen. Dieses aussichtsreiche Unterfangen wollte Professor Hirschel noch am selben Nachmittag dem staunenden Publikum im Hörsaal 21 der Ruhr-Universität präsentieren. Für den Abend lud man die Vertreter der Presse zu einem Empfang ins Hotel Haus Ruhrblick ein.
Jablonski griff zum Hörer, nachdem er sich eine Roth Händle angesteckt hatte, und ließ sich mit dem Chefredakteur des Brennpunkt verbinden, einer Zeitgeistpostille, deren Fast Food aus ein paar Statistiken, zwei, drei launigen Kommentaren und einem Interview bestand, die niemandem wirklich auf die Füße trat und deren Pseudolösungen kein halbwegs gescheiter Leser ernst nahm. Eddie hatte Glück. Tatsächlich ließ sich der Mann davon überzeugen, daß diese keimfreie Entsorgung des Mülls genau das Thema war, wonach sich sein Publikum bereits seit Wochen verzehrte.
Der Linienbus stoppte, die pneumatischen Türen öffneten sich, und Jablonski stolperte hinter einem hochgewachsenen Mädchen in Reithose ins Freie, das zielstrebig auf den Betonklotz zuging, der sich vor ihnen wie ein drohender Zeigefinger in den milchig-dunstigen Himmel reckte. Jablonski legte einen Schritt zu. Als er etwa in gleicher Höhe mit der blassen, blonden jungen Dame war, sprach er sie an, stutzte aber einen Moment, da er sich plötzlich nicht mehr sicher war, eine Studentin vor sich zu haben.
Das Mädchen musterte ihn mit dem abschätzenden Blick eines Pferdehändlers, klemmte sich die Collegemappe fester unter den Arm und erklärte ihm mit klarer, kalter Stimme den Weg, den er nehmen mußte, um den Hörsaal zu finden.
Erleichtert atmete Eddie auf, als er nach wenigen Metern ein Plakat fand, das einen stilisierten Förderturm zeigte, über dem in schwarzen, fetten Lettern Kolloquium: Entsorgung industrieller Altlasten zu lesen war.
Er folgte den orangen Pfeilen, die jemand vorsorglich angebracht hatte, bestieg einen Fahrstuhl, der ihn in die vierte Etage brachte, durchquerte einen von Neonlicht durchfluteten Gang und gelangte schließlich an eine breite, lindgrün lackierte Tür, hinter der sich der Hörsaal befand: Ein fensterloser, halbrunder Raum, in den eine Treppe hinabführte, von der rechts und links handtuchschmale Gänge abzweigten, in denen Klappstühle aufgestellt waren, die man mittels Stahlstreben miteinander verbunden hatte. An diese Stühle war jeweils ein Klapptischchen von der Größe eines Frühstücksbrettchens montiert.
Jablonski klemmte sich auf einen der Stühle und klappte den Tisch herunter. Er prüfte mit einem kurzen Ruck die Haltbarkeit der Konstruktion, bevor er Kugelschreiber und Notizblock darauf ablegte. Dann harrte er der Dinge, die da kommen sollten. Während sich der Saal langsam füllte und einige Herren mit wichtigtuerischer Miene, mit grauen, aber modisch geschnittenen Anzügen in der ersten Reihe Platz nahmen, spürte Eddie einen ständigen Luftzug aus dem Metallschlitz, der direkt vor dem Klappmechanismus des Tischchens angebracht war. Schon nach einigen Minuten tränten seine Augen, und er wünschte, diese Bakterienschleuder ausschalten zu können.
Ein langer, hochgewachsener Mann, Ende Fünfzig vielleicht, mit graumelierten Haaren und einem frisch gestutzten Schnauzbart, schritt gemächlich die Stufen zu einem Podest hinunter, auf dem ein Stehpult aufgestellt war, aus dem der Schwanenhals eines Mikrofons ragte.
Wie auf Kommando erloschen die Deckenleuchten. Nur noch eine Art Notlicht glimmte zu Füßen des Pultes. Im selben Moment, in dem man das Knarzen des Mikrofons vernahm, projizierte der Strahl eines Diaprojektors ein grellbuntes Rechteck auf die Wand hinter dem Stehpult.
Endlich, nach zwei, drei vergeblichen Anläufen, war das Plakat der Veranstaltung klar und deutlich über dem Kopf des Mannes zu sehen, der da vor dem Stehpult stand, einen Schluck Wasser trank und sein Auditorium begrüßte. Er hieße Professor Hirschel und wäre von einem Wissenschaftlerteam beauftragt worden, das Forschungsvorhaben vorzustellen.
Das nächste Dia zeigte ein Kohlebergwerk im Schnitt. In den Zechen des Ruhrgebiets wäre Platz für 600.000 Tonnen Abfall. Derzeit probierte man, Filterstaub aus Müll- und Klärschlammverbrennungsanlagen in Silos zu pumpen, behauptete der gute Mann. Gleichzeitig war ein haushoher, runder Metallbehälter zu sehen. Hirschel fuhr fort: Mit Wasser, sowie einigen unerheblichen Zusatzstoffen, wollte man die gallertartige Masse verdicken, um sie dann durch eine Leitung in die ausgekohlten Lagerräume unter Tage zu pressen. Dies hätte zum einen den Vorteil, daß man Problemabfälle ökologisch einwandfrei für ewig und drei Tage einschließen könnte, wobei man zum anderen die Gesteinsmassen stabilisieren und somit Bergschäden verhindern würde. Professor Hirschel fingerte ein Taschentuch hervor, tupfte seine Stirn ab und trank einen Schluck Wasser, bevor er fortfuhr. Die Verklappung dieses Mülls würde der Betreibergesellschaft etwa 500 DM pro Tonne einbringen. Man müßte bedenken, daß man mit den 120.000 Tonnen Müll, die allein in Nordrhein-Westfalen anfielen, Hunderte von Arbeitsplätzen schaffen könnte, die ja in dieser krisengeschüttelten Region mehr als notwendig wären.
Ein Finger reckte sich in der ersten Reihe vorsichtig in die Luft.
»Ja, bitte!« schnaufte Hirschel, sichtlich irritiert.
Ein Mann in Lederjacke und Jeans, mit Rauschebart und langer, zotteliger Mähne stand auf. Hauser wäre sein Name, er wäre Journalist bei den Ökonachrichten und hätte eine spezielle Frage zur Grundwasserproblematik.
»Sie kenne ich doch«, fauchte Hirschel plötzlich lauter, als ihm offensichtlich lieb war. »Wollen Sie etwa nach wie vor behaupten, wir hätten die Wasserströme im Erdinnern falsch berechnet, oder was noch schlimmer wäre, gar nicht berücksichtigt?«
»So ist es, Herr Hirschel, mir liegt ein Gutachten vor, das davon ausgeht, daß wir die giftigen Schlämme, ein paar Jahre, nachdem sie dort unten vergraben wurden, plötzlich im Trinkwasser haben.«
»Sie müssen es ja wissen«, höhnte Hirschel und lachte. Er schien seine Unsicherheit bereits wieder überwunden zu haben. Etliche der Nadelstreifenanzugträger stimmten in sein Gelächter mit ein.
1:0 für Hirschel, registrierte Jablonski, der seit geraumer Zeit einen gewaltigen Durst verspürte. Vielleicht konnte er Hauser, den er bereits von anderen Pressekonferenzen kannte, dazu überreden, ihn zu diesem Hotel zu karren. Vor seinem inneren Auge sah Eddie plötzlich ein überdimensionales Glas Fiegepils mit einer meterhohen Schaumkrone, von deren Spitze ein dünnes Rinnsal kalten Bieres auf den Deckel tropfte. Er wußte, daß dies genau der Moment war, vor dem ihn der Arzt in der Anstalt gewarnt hatte. Entsetzt sprang Eddie auf. Laut wie ein Donnerschlag klatschte der Sitz gegen die Rückenlehne. Es war Jablonski mehr als gleichgültig, daß seine Stuhlnachbarn wie Oberlehrer die Lippen spitzten, den Finger darauf legten und »Ruhe!« zischten. Eddie vergrub die Hände in den Hosentaschen, biß die Zähne zusammen und stapfte mit schweren Schritten die Treppe hinauf. Vor der Tür blickte er sich suchend um. Endlich entdeckte er den bis an den Rand gefüllten Ascher, vor dem sich bereits ein Grüppchen Unbeirrbarer eingefunden hatte und ein Rauchopfer darbrachte.
Jablonski steckte sich eine Roth Händle an, inhalierte hastig mit tiefen Zügen und zählte bis zehn. Seine Hände zitterten, der Puls raste, und ihm wurde heiß wie bei einem Saunagang.
Aufgeregt rannte er den Gang hinauf, Kehrtwende, wieder zurück und blieb dann vor dem verschmierten Fenster stehen, das einen Blick auf den Campus gestattete.
Eine Gruppe junger Frauen, diesmal im Tennisdress, das Racket unter dem Arm und die Sporttasche in der Hand, öffnete die Tür, die zum Parkhausturm führte.
Eddie hustete. Plötzlich mußte er lächeln, als er daran dachte, daß Uschi, seine Frau, vor zehn Jahren genauso unschuldig und naiv ausgesehen hatte wie diese jungen Dinger, die da mit ihrem von Papi gesponserten Cabrio zum Training fuhren. Jablonski wandte sich ab. Er schritt die Fensterfront entlang, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt, den Blick starr auf die Spitzen seiner braunen Wildlederschuhe gerichtet. Er lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Betonwand, schloß die Augen, atmete tief durch, fühlte den Widerstand des Steines an seinen Schulterblättern, entspannte sich und war sich dann sicher, daß er es diesmal geschafft hatte, trocken zu bleiben.
Noch ehe er sich eine weitere Roth Händle anstecken konnte, öffnete sich die Hörsaaltür. Sie entließ die erregt diskutierende Schar der Männer aus den Vorstandsetagen, in der einen Hand den Diplomatenkoffer, die andere Hand tief in die Hosentasche des Maßanzuges vergraben. Hauser wirkte inmitten dieser geballten Aura von Seriosität wie ein Wesen von einem anderen Stern. Er grinste breit, als er Eddie bemerkte, und schritt auf ihn zu, wobei er ihm die Hand entgegenstreckte.
»Eddie, schön, dich zu sehen. Welch ein Wunder! Ein Lebender unter all den Leichen.«
Jablonski schüttelte die dargereichte Pranke, bevor er sich endlich die Zigarette ansteckte und einen tiefen Lungenzug nahm. »Gehst du noch zu diesem Abendessen?« begann Eddie unvermittelt.
»Na klar, das laß ich mir nicht entgehen. Du mußt dem Gegner ins Auge blicken, wenn du ihn bekämpfen willst!«
»Laß die Sprüche, Hauser, wir leben alle vom selben Aas! Also, was ist? Nimmst du mich mit?«
»Bist du zu Fuß hier?« spottete Hauser. »Oder hast du extra ein Busticket geordert? Würde ich dir jedenfalls nicht zutrauen.«
»Mein Auto ist in der Werkstatt, und da …«
»Komm, Eddie, wer's glaubt, wird selig. Ich hab da ganz andere Sachen läuten hören. Die Buschtrommel berichtet jedenfalls, daß du eine Kur angetreten hast.«
»Tja, was die Leute sich so erzählen, wenn der Tag lang ist. Nehm ich mir eben ein Taxi!« gähnte Eddie.
Ihm war es egal, was Hauser über ihn dachte, aber für seinen Ruf war es alles andere als zuträglich, wenn sein kleines Alkoholproblem die Runde unter den Berufskollegen machte.
Hauser schien es in diesem Augenblick aufgegangen zu sein, daß er Eddie in die Ecke gedrängt und ihm keinen Ausweg gelassen hatte. Bereitwillig lenkte er ein und bot ihm an, ihn mitzunehmen. Als sie nebeneinander in dem angejahrten Volvo saßen, hatten die beiden schnell ein Thema gefunden, das keine weiteren Verstimmungen zuließ. Auf Jablonskis Frage, was denn nun wirklich von dem Grundwassergutachten zu halten wäre, rückte Hauser mit noch gewagteren Vermutungen heraus, die Eddie plötzlich stutzig machten. Hauser behauptete, das Forschungsteam plante, nicht nur Giftstaub in den Zechengruben abzulagern. Ihm wäre zu Ohren gekommen, daß man außerdem vorhätte, schwach radioaktiven Müll dort endzulagern.
»Hauser, du übertreibst! Alles ökologisch verbrämter Quatsch«, hustete Eddie, der sich am Rauch seiner Zigarette, die er sich trotz der abfälligen Blicke Hausers angesteckt hatte, verschluckte.
»Überleg doch mal! Wo wollen die Kraftwerksbetreiber mit ihrem Zeug denn hin? Inzwischen weiß doch jedes Kind zwischen Bottrop und dem Ural, wie gefährlich Radioaktivität ist. Seit der Wende kauft uns selbst Rußland den Problemmüll nicht mehr ab. Und eins ist doch sicher wie das Amen in der Kirche: In den nächsten Jahren werden die Reaktoren Kornwestheim, Niedereichbach, Langen, Grundremmingen, Hamm-Uentrop, Greifswald, Kalkar und was weiß ich noch alles stillgelegt. Sag mir, Jablonski, wohin mit all dem Schrott? Jeder Betonkrümel muß entsorgt werden, jedes Fitzelchen Stoff ist da verseucht. Na, was sagst du jetzt?« triumphierte Hauser.
»Wunderbar!« grinste Eddie. »Aber du darfst eines nicht vergessen: Die Jungs werden einen Teufel tun und den Mist auf eigene Kosten zerkleinern. Und wie du weißt, ist die öffentliche Hand pleite. Also, was passiert? Häh, du Schlaumeier?«
»Nichts!« gab sich Eddie selbst die Antwort. »Man wird die Ruinen stehenlassen bis ins Jahr dreitausend, und irgendwann haben wir das sowieso alles vergessen.«
Das Hotel Haus Ruhrblick lag in einem idyllischen Winkel abseits des Trubels, versteckt hinter einem Wäldchen, direkt an einer Ruhraue.
Hauser fand das letzte freie Plätzchen zwischen zwei blankpolierten Nobelkarossen. Der Portier, in Frack und mit Fliege, ließ sie erst passieren, als sie ihre Einladungskarten präsentiert hatten. Eine Schiefertafel wies ihnen den Weg zu einem Saal, der am Ende eines mit Edelhölzern verkleideten und mit schweren Teppichen ausgelegten Ganges lag. Zwei Kristallüster warfen ihr helles Licht auf einen mit Blumen, weißen Tüchern und edlem Geschirr gedeckten Tisch, auf dem vor jedem Platz ein Pappschild aufgestellt war, auf das man den Namen eines Gastes gedruckt hatte.