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»Ich mag diese Wohltätigkeitsklamotten nicht. Ich finde, in meinem Unternehmen sollte es ein Gefühl der Sicherheit geben, das daher rührt, daß alle wissen, ihre Arbeit wirft Profit ab.«

Samuel Irving Newhouse,

amerikanischer Verleger und Multimillionär über die Drucklegung engagierter Texte

2.

Der Fahrstuhl hielt mit asthmatischem Stöhnen, klappernd und stockend öffneten sich die Schiebetüren und gaben den Blick in den schwach beleuchteten Metallkorb frei. Jablonski trat ein, drückte auf einen der Bedienungsknöpfe und lehnte sich an die breite Aluminiumleiste, die in Hüfthöhe angebracht war. Leise rumpelnd setzte sich das Gefährt in Bewegung, glitt an den Büros der Vorstandssekretärinnen vorbei, passierte die Etage, in dem der Vortragssaal und das Büro des Betriebsrats untergebracht waren, schaukelte erst an der Sportredaktion, dann an der Lokalredaktion vorbei und stoppte im Erdgeschoß, in dem die Rotationsmaschinen standen.

Jablonski verließ den Fahrstuhl und stieg die gewundene Marmortreppe zur Kantine hinunter, aus der ihm der faulige Geruch von gedünstetem Blumenkohl entgegenschlug, fischte sich ein Plastiktablett von einem halbhohen Stapel und reihte sich in die Menschenschlange ein, die auf ihr Mittagessen wartete.

Nachdem ihm die Küchenhilfe einen Schlag matschiger Dampfkartoffeln, ein angekohltes Kotelett und einen Berg zerkochten Blumenkohl auf das Tablett gehäuft hatte, griff sich Jablonski eine Flasche Pils aus der Kühltheke, drückte der Kassiererin die Essensmarke in die Hand, zahlte das Bier und suchte den Tisch, an dem Willi Rehnagel und Kampmann saßen. Die beiden hatten sich hinter einer Säule verkrochen und winkten Jablonski zu sich, als sie ihn im Gewühl der Mittagsgäste entdeckten.

»Na, ist dir der Appetit doch noch nicht vergangen?« scherzte Kampmann, trank einen Schluck Bier, rülpste leise und tupfte sich den grauen Vollbart mit einer Serviette ab. »Was meint Pohlig eigentlich damit, wenn er sagt, es gäbe Leute, die auf meinen Posten scharf sind«, erwiderte Jablonski angriffslustig und ließ sich in den roten Plastikstuhl fallen, der an dem Kantinentisch stand. »Nun, es gibt doch genug Freie, die jetzt für sechzig Pfennig pro Zeile arbeiten und die alles tun würden, um fest eingestellt zu werden«, nuschelte Rehnagel zwischen zwei Bissen, wobei ihm ein wenig Blumenkohl aus dem Mund quoll. »Ja, ja der Mensch ist käuflich«, grinste Jablonski, schob den Teller weit von sich, nachdem er die lauwarmen Kartoffeln gekostet, ein Stück von dem vertrockneten Kotelett probiert und das Ganze mit einem großen Schluck Bier hinuntergespült hatte.

»Das lukrative Annoncengeschäft hat den Zeitungseigentümern die Mittel gegeben, ein geistiges Proletariat, ein stehendes Heer von Zeitungsschreibern zu unterhalten, durch welche sie konkurrierend ihren Betrieb zu vergrößern und ihre Annonceneinnahmen zu vermehren streben«, zitierte Jablonski Ferdinand Lasalle aus dem Gedächtnis, wobei ihn Kampmann verständnislos anstarrte und mit dem Kopf schüttelte.

»Du redest dich noch um Kopf und Kragen, Eddie«, sagte er warnend, widmete sich dann aber wieder seinem Kotelettknochen.

Um sich abzulenken, leerte Eddie mit einem Zug das Bierglas aus und bedauerte im selben Augenblick, daß er nicht gleich zwei Flaschen gekauft hatte. Er mußte sich zwingen, nicht sofort ein weiteres Glas Bier in einem Schluck hinunterzustürzen.

Schließlich nahm er sich vor, mindestens solange zu warten, bis Kampmann oder Rehnagel mit dem Nachtisch, einer Portion Wackelpudding, die mit einem Klecks Schlagsahne garniert war, beginnen würden. Innerhalb der nächsten zwei Minuten war ihm klar, daß er dieses selbstgesteckte Ziel niemals erreichte. Er stürzte das zweite Glas mit wenigen, gierigen Schlucken hinunter und stand auf. »Übrigens«, sagte er zu Rehnagel, wobei er ihm zuzwinkerte, »falls mich jemand suchen sollte, ich habe einen Termin bei der SPD-Ratsfraktion, das kann etwas später werden«, stellte die leere Bierflasche auf das Tablett und bugsierte den Geschirrberg zu einem der fahrbaren Ablageregale, die in Reih und Glied neben der Kantinentür standen. Jablonski spürte, daß er gleich explodieren würde, wenn er nicht bald ein paar Kurze oder einen doppelten Cognac zu trinken bekäme. Er beschloß, in seine Stammkneipe zu fahren, dort nicht allzusehr zu versacken, und später in die Redaktion zurückzukehren.

Um in sein Büro zu gelangen, benutzte er diesmal die Wendeltreppe, die sich wie eine Girlande an dem quaderförmigen Fahrstuhlschacht emporschlängelte. Er war sich dabei sicher, daß er so keinen fragenden Blicken und belanglosen Gesprächen ausgesetzt sein würde. Sein Arbeitsplatz war ein mit Stellwänden abgetrennter Raum an der Fensterfront des Redaktionssaales. Jablonski hatte den verchromten, schweren Metallschreibtisch vor das Kippfenster rücken lassen, damit er an grauen Regentagen nicht nur dem kalten Neonlicht ausgesetzt war. Er blickte nun direkt auf die seelenlose Spiegelglasfassade der Stadtsparkasse. Wenn er sich ein wenig vorlehnte, sah er die schmale Fußgängerpassage, in der der naßkalte Novemberwind die letzten Blätter von den jungen Bäumen schüttelte.

Eddie nahm den Trenchcoat vom Garderobenhaken, den er vom Hausmeister auf eine der Stellwände hatte schrauben lassen, angelte ein frisches Päckchen Gauloises aus der obersten Schreibtischschublade, steckte den Autoschlüssel ein und verließ eilig die Redaktion.

68er Spätlese

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