Читать книгу Schrebergarten Blues - Jost Baum - Страница 8

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Sieh, die Sonne sinkt!

Eh sie sinkt, eh mich Greisen

ergreift im Moore Nebelduft,

entzahnte Kiefer schnattern

und das schlotternde Gebein,

Trunknen vom letzten Strahl

reiß mich, ein Feuermeer

mir im schäumenden Aug,

mich geblendeten Taumelnden

in der Hölle nächtliches Tor.

Goethe: An Schwager Kronos

Viertes Kapitel

Es war fünf vor halb acht, als Carla Jablonski aus dem tiefen, traumlosen Schlaf des Betrunkenen weckte. Nachdem sie einen Stapel Bücher weggeräumt hatte, stellte sie ein Tablett mit einer Kanne dampfenden Kaffees und einer kleinen Schale mit Keksen auf das Holztischchen, das vor der Couch stand, auf der Jablonski genächtigt hatte. Eddie brauchte einige Zeit, um sich zurechtzufinden. Sein Schädel war schwer wie Blei. Er fühlte sich so zerschlagen, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich gebracht. Als er Carlas angestrengt freundlichen Blick wahrnahm, glaubte er zu spüren, daß sie einen Schwall von Vorwürfen für ihn bereithielt, dem er in seinem Zustand nicht gewachsen sein würde. Sie war so nervös, daß sie zitterte und eine riesige Kaffeepfütze auf der Tischdecke hinterließ, als sie versuchte, ihm eine Tasse einzugießen. Hastig stand sie auf, fluchte leise und kam mit einem Wischlappen aus der Küche zurückgerannt, den sie mit fahrigen Bewegungen in das schwarze Naß tunkte.

Jablonski war sich jetzt absolut sicher, alles falsch gemacht zu haben. Seine pure Anwesenheit schien für das Mädchen bereits eine Provokation zu sein. Eddie verspürte allerdings nicht die geringste Lust, seinen Absturz vor ihr zu rechtfertigen. Dennoch fragte er sich immer häufiger, warum er es nicht schaffte, morgens in seinem eigenen Bett wach zu werden, nüchtern wie ein Konfirmand zu Ostern und mit einem ebenso reinen Gewissen. Ich sollte versuchen, zu Uschi zurückzukehren, dachte Jablonski, holte tief Luft, ließ sich in die Polster fallen und versuchte, seine trüben Gedanken möglichst schnell zu verdrängen.

»Vielleicht sollten wir unser Gespräch dort fortsetzen, wo wir es gestern unterbrochen haben?« begann er ruhig, träufelte ein wenig Milch in seinen Kaffee und steckte sich eine Zigarette an. Sie schmeckte wie getrockneter Rinderdung. Sofort drückte er den Glimmstengel in dem blankpolierten Glasaschenbecher aus, der wie zur Dekoration auf dem Couchtisch stand.

»Dazu habe ich keine Zeit. In zwei Stunden beginnt meine Geschichtsklausur, und ich muß mich darauf noch ein wenig vorbereiten«, antwortete sie, nahm einen Schluck von dem kochendheißen Kaffee und verbrannte sich daran die Lippen.

»Scheiße …«, schrie sie laut und bugsierte die Tasse so vorsichtig wie möglich auf den Tisch zurück. Schlagartig fühlte sich Eddie erleichtert. Offenbar gab es außer ihm noch andere Gründe, die das Mädchen in Rage brachten.

»Ich habe allerdings ein paar Argumentationshilfen für dich, die einigen Leuten beweisen werden, was für ein Schwachsinn es ist, diese Golfanlage in die Landschaft zu klotzen«, begann Carla und wies auf den Bücherstapel, dessen oberster Band den bemerkenswerten Titel Oecological Research about Golfplaces trug.

»Du verlangst doch nicht im Ernst von mir, daß ich diesen Wälzer lese?« entsetzte sich Eddie, während er den schwergewichtigen Band mit einer Hand wog. Sein Englisch reichte gerade aus, in einer Hafenkneipe ein Bier zu bestellen. Darunter entdeckte er ein etwas dünneres Büchlein, das die 100 Regeln des Golfsports enthalten sollte. Er legte den englischen Schinken beiseite und begann, in dem schmalen Band zu blättern, während Carla aufstand und das Kaffeegeschirr abräumte.

»Du kannst die Bücher mitnehmen, wenn du gleich gehst!« rief sie ihm aus der Küche zu.

»Das war deutlich«, grinste Eddie, erhob sich mühsam wie ein Tattergreis und nahm den Bücherstapel unter den Arm.

»Übrigens, Opa Rudi hat gestern abend mit dem Hungerstreik begonnen … Ach ja, ehe ich es vergesse, du mußt mir das Zeug heute abend wiederbringen, die Leihfrist ist abgelaufen.«

»Mal sehen,« brummelte Eddie. Er wußte beim besten Willen nicht, ob er sich bei ihr noch einmal blicken lassen würde. Carla nickte nur, als er sich verabschiedete.

Eddie fröstelte, als er auf die Straße trat. Der Himmel war milchig grau, und die Sonne, die sich hinter dem Dunstschleier versteckte, hatte noch nicht genug Kraft, um ihn zu wärmen. Die Frau ist eiskalt, wie eine Tiefkühltruhe. Schade, daß sie mich so schnell rausgeschmissen hat. Ich hätte wirklich gerne noch ein wenig in ihrer Wäsche gewühlt und die Marke ihrer Anti-Baby-Pille erfahren, dachte Eddie grimmig, als er die Autotür aufschloß. Er kam sich jetzt plötzlich vor wie einer dieser Voyeure, die auf dem Bahnhofsklo herumstrichen und Löcher in die dünnen Wände der Damentoiletten bohrten. Manchmal hätte er sogar das getan, um wenigstens für Sekunden die Illusion von Nähe zu erhaschen. Um sich abzulenken, schaltete er das Autoradio ein. Aus dem Lautsprecher quoll Countrymusik. Es war genau das Richtige, um sich zu versichern, daß die Dinge noch an ihrem Platz waren und die Welt für ihn doch noch ganz passabel eingerichtet sei. Wenig später saß er in seinem Büro und blätterte in einem der Bücher, die Carla ihm mitgegeben hatte. Er tat dies eher aus einem schlechten Gewissen dem Mädchen gegenüber, als aus wirklichem Interesse. Allerdings war das Handbuch für den Golflaien so flott geschrieben, daß er sich schon nach paar Seiten festbiß und in einigen Kapiteln aufmerksamer schmökerte. Dann ließ er sich mit Dr. Müller verbinden und vereinbarte einen Termin für den frühen Nachmittag. Zuvor wollte er sich jedoch mit Rudi treffen, damit er mit ihm alle Argumente, die er gesammelt hatte, noch einmal durchsprechen konnte. Die Fotos, die Rehnagel vor einigen Tagen von der Kleingartenanlage geschossen hatte, waren alles andere als geeignet, Sympathien für den Erhalt der Parzellen zu wecken. Der Fotograf schien das ebenfalls bemerkt zu haben und war deshalb sofort bereit, seine Archivarbeit zu unterbrechen, um mit Jablonski an den Stausee zu fahren.

Unterwegs erzählte Rehnagel, daß er sich mit dem Sportredakteur nun endgültig verkracht habe, da dieser seine Fotos als zu gestellt und nicht aus dem Leben gegriffen betrachtete. Im Stillen mußte Jablonski dem Sportredakteur leider recht geben, obwohl er den schleimigen und unterwürfigen Hüser nicht ausstehen konnte.

Der Parkplatz an der Seeuferpromenade glich einem Jahrmarkt. Ein paar blasse, harmlose Typen in Jeans, Windjacken und Ökotretern hatten einen Tapeziertisch mit Greenpeaceplakaten behängt, auf denen tote Robbenbabies, plattgefahrene Karnickel und andere Viecher Mitleid heischten. Nebenan verkaufte ein Mädchen, das aussah, als sei sie einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche entlaufen, Aufkleber mit Friedenstäubchen und sinnigen Sprüchen wie: Frauen nehmen Frauen mit, oder: Rettet die Wale. Am Stand des Kleingartenvereins drängelten sich mehrere zünftig ausgerüstete Spaziergänger in Knickerbockern und Bergstiefeln, die vermutlich alle seit Jahrzehnten Mitglieder des »Sauerländischen Gebirgsvereins« waren, und trugen sich in eine Unterschriftenliste ein. Alle waren gekommen, um ein paar kleine Geschäfte abzuschließen, ihren Hund Gassi zu führen, auf die mißliche Lage der Bruthennen hinzuweisen und nebenbei zu erfahren, was es Neues an Opa Rudis Streikfront gab.

Eddie fühlte sich mehr als unwohl beim Anblick dieser trostlosen Gestalten. Sie erinnerten ihn daran, daß die Dinge häufig selbständig ihren Lauf nahmen, so daß man ihnen schutzlos ausgeliefert war und nichts mehr daran drehen konnte. Schließlich entdeckte er auch noch Winkelmann, der auf dem Übertragungswagen hockte und einem Kameramann Anweisungen gab, unter welcher Perspektive er die Meute ablichten sollte. Für Eddie war es mal wieder einer dieser Momente, in denen er nicht übel Lust hatte, sich einen hinter die Binde zu gießen. Doch war es sicherlich nicht günstig, vor diesen Spießern die Pulle hervorzuzerren und sich so als der Lokalreporter des Bochumer Stadtanzeigers zu präsentieren, also ließ er den Schnaps wohlverwahrt an seinem Platz. Eine Entscheidung, die ihm zwar nicht leicht fiel, die er jedoch in letzter Zeit immer häufiger treffen mußte und auf die er sich in stillen Stunden sogar etwas einbildete. Er hatte sich jetzt vorgenommen, seinen Part als Rudis Impresario zu Ende zu spielen, und kletterte deshalb die schmale Eisenleiter hinauf, die zu einer Plattform auf dem Dach des Wagens führte.

Winkelmann tat sehr überrascht, seinen Kollegen an dieser Stelle wiederzutreffen. Er schien sich zu ärgern, daß es nun kein Exklusivbericht mehr sein würde, den er da produzierte.

Sogar ohne Fernglas konnte Eddie von seinem Hochsitz aus das kleine Motorboot beobachten, das mitten im Stausee vor Anker lag. Zwischen den beiden Masten war ein Tuch gespannt, auf das jemand in roter Farbe das Wort ›Hungerstreik‹ gemalt hatte.

»Fährst du mit mir zu diesem Wahnsinnigen hinüber und stellst ihm ein paar knifflige Fragen?« lachte Eddie und blickte Winkelmann erwartungsvoll an.

»Dafür brauche ich dich nicht!« antwortete Winkelmann mißmutig.

Jablonski begriff, daß er für Winkelmann zum Konkurrenten geworden war, der seine Nasenspitze schon etliche Millimeter näher als seine Mitstreiter an die Ziellinie herangeschoben hatte. Keine schlechte Ausgangsposition, wenn man bedenkt, daß ich heute morgen noch wie ein Häuflein Elend auf einer fremden Couch lag, dachte er zufrieden. Allerdings wollte er es sich nicht mit Winkelmann verderben. »Okay, geschenkt, komm schon!« lenkte er deshalb ein.

»Du gestattest aber, daß wir mein Boot nehmen, das ich vorsichtshalber schon mal zu Wasser gelassen habe, oder?« entgegnete Winkelmann gereizt, während er die Leiter hinunterstieg.

»Warum nicht?« meinte Eddie. »Ich nehm das als Gegenleistung. Ohne mich läßt dich Opa Rudi sowieso nicht an Bord«, fügte er hinzu, nachdem er in das Schlauchboot geklettert war und auf einem feuchten Brett Platz genommen hatte.

Die Erkältung steckte ihm immer noch in den Knochen, und Eddie schauderte, als eine steife Brise über den See strich, die das Wasser peitschte und das Schlauchboot schaukeln ließ. Er konnte sich nichts Ungemütlicheres vorstellen, als auf diesem lausigen Tümpel einen Hungerstreik zu zelebrieren. Hastig zündete er sich eine Zigarette an, die ihn ein wenig wärmen sollte.

Winkelmann mühte sich indessen ab, den kleinen Außenbordmotor anzuwerfen. Als das Ding endlich startete, knatterten die beiden, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, in langsamer Fahrt auf das Boot zu, das wie ein Korken in dem aufgewühlten Wasser auf und nieder hüpfte. Niemand rührte sich, als sie in Sichtweite herangekommen waren.

»Hey Rudi, ich bin’s … nicht schießen!« rief Eddie, die Hände vor dem Mund zu einem Schalltrichter geformt. Ihm war noch rechtzeitig eingefallen, daß der Rentner seine Flinte mitnehmen wollte und womöglich auf alles ballerte, was ihm zu nahe kam. Ein beunruhigender Gedanke, in einem Gummiboot zu sitzen und als Zielscheibe für einen verrückt gewordenen Kleingärtner zu dienen, entschied Eddie und wiederholte sein Rufen. Bis auf das Tuckern des Außenborders blieb es absolut still. Keine Spur von Rudi.

Sie drehten vorsichtshalber noch zwei Ehrenrunden, bevor Winkelmann die kleine Dieselbarkasse anpeilte, den Motor stoppte und wartete, bis sie so viel Fahrt verloren hatten, daß der Schwung gerade noch ausreichte, um sie bis zur Barkasse zu treiben. Als er in Höhe der Reling angekommen war, befestigte er ein Seil an einem der Holme und vertäute so, geschickt wie ein Vollmatrose, das Schlauchboot an der Längsseite des Schiffes.

Jablonski erhob sich von seinem Notsitz, rief erneut nach dem Rentner, und als dieser sich nicht meldete, trat er vorsichtig wie ein Seiltänzer auf einen der Gummiwülste und kletterte mit steifen, ungelenken Bewegungen über die Reling. Langsam wurde ihm etwas mulmig zumute. Spätestens jetzt hätte sich Rudi doch melden müssen.

Jablonski lauschte, als er an Deck trat. Außer dem rhythmischen Schlagen der Wellen, die gegen den Bootsrumpf klatschten, war nichts zu hören. Sein Blut pochte in den Schläfen, während er hastig die Stufen zur Kombüse hinunterstolperte.

Die Tür stand weit offen. Was er dort auf dem Boden liegen sah, ließ ihn vor Schreck laut aufschreien. Die Leiche hatte ein Loch in der Stirn. Rudi starrte ihn aus kalten, glanzlosen Augen an. Wie bei einem gestrandeten Fisch war der Mund gespitzt und leicht geöffnet. Er sah aus, als staunte er selbst im Tode noch über die Schlechtigkeit der Welt. Seine Hände hielten krampfhaft die Flinte fest, deren Lauf auf den kleinen, kreisrunden Einschuß in seiner Stirn zeigte, von dessen vom Pulverdampf geschwärztem Rand eine breite Blutspur über seine stoppelige Wange lief.

Schrebergarten Blues

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