Читать книгу 99,9 %. - Jozi Salzberg - Страница 2

Оглавление

1  Langfristig 1%

1953, 7. Januar. Washington, D. C., Oval Office. Präsident Dwight D. Eisenhower initiierte auf Betreiben seiner Geschäftsleute-Regierung eine wirtschaftspolitische Arbeitsgruppe. Treibende Kraft : der General-Motors-Chief Charles E. Wilson. Das Ziel war die Adaptierung F. D. Roosevelts „New Deal“ (in Englisch bedeutet das „die Neuverteilung der Karten“). Die Karten sollten jetzt wieder neu verteilt werden – diesmal zugunsten der Investoren und Wirtschaftstreibenden. So war es vor dem New Deal gewesen und so sollte es wieder sein, eben „normale“ Zustände mit Reichtum für die 10 % der sogenannten „Oberen Zehntausend“. Die hohe Politik koalierte wie selbstverständlich mit den Reichsten der Reichen – eine „unselige“ Koalition? Unselig für wen? Beide beteiligte Seiten würden davon profitieren, die einen mehr, die anderen weniger.

Man kam überein, dass baldmöglichst ein Treffen stattfinden sollte, an dem die mächtigsten Clans die Zukunft der Welt beschließen würden.Heute schon bestätigten alle Versammelten im Oval Office, dass Wilson recht habe: Roosevelts Wirtschafts- und Sozialreformen hätten lange genug gewirkt.“It's nothing for the long run?“, wie ein anwesender Oligarch lapidar bemerkte und mit wegwerfender Handbewegung schon mal hinter sich ließ. Langfristig könnte das so nicht bleiben, damit wäre man nicht einverstanden. Das wäre schon genug Wohlstand für die ArbeitnehmerInnen gewesen. Die US-Wirtschaft wäre gestärkt worden, die Geldpolitik reformiert und die Finanzmärkte reguliert. So weit, so gut. Die Wirtschaftsleute, die wahren Herrscher der USA beanspruchten den Profit wieder allein für sich, die Oligarchie (Oligarchie ist die Herrschaft der wenigen), ohne ihre Forderung begründen zu können. Aber das mussten sie auch nicht. Sie hatten die Macht, das Ruder zu ihren Gunsten herumzureißen, also nahmen sie ihr „Recht“ in Anspruch. Offiziell wurde Roosevelts Politik ohne besondere Erklärungen für beendet erklärt. Der Reichtum sollte nicht zersplittert werden. Den musste man zusammenhalten. Oder treffender formuliert: man wollte ihn zusammenhalten. Und man konnte ihn zusammenhalten.

Inoffiziell hatten nur wenige Personen eine Ahnung von den Gründen für die Beendigung des New Deal. Öffentliche Diskussionen wurden unterdrückt. Die Besitzenden, die mächtigen Familienclans hatten Roosevelts sozial angehauchte Politik eine weile zugelassen, denn damit hatte man gleich „viele Fliegen mit einer Klatsche erledigt“. Erstens hatte man Unruhen und Aufstände während der Krise vermeiden können, weil man die Unzufriedenen durch die Ermöglichung des Massenkonsums ruhig gestellt hatte. Zweitens hatte man durch die Massenproduktion und den Massenkonsum das Wachstum der Wirtschaft ermöglicht. Drittens konnte man ganz nebenbei wegen des wachsenden Wohlstands die Gewerkschaften sowie die Kommunisten schwächen (wer brauchte die dann noch?). Viertens hatte der „New Deal“ einen unschätzbaren psychologischen Effekt gehabt: Im Gedächtnis des Volkes würde sein bescheidener Wohlstand für alle Zeiten als Bestätigung dafür verankert bleiben, dass sich Leistung lohne. Nun sollte es aber genug sein. Zukünftige Leistung sollte allein jenen zufallen, die die Produktionshallen bauten und das Produktionsmaterial bereit stellten. Mag ja sein, dass Hallen allein keinen Profit brächten. Mag ja sein, dass erst duch die den Einsatz von Arbeitskräften ein neu erzeugtes Produkt entsteht, das mehr wert wäre als die einzelnen Materialien vorher. Aber die Früchte der Wertschöpfung durfte man doch nicht wie die sprichwörtlichen „Perlen den Säuen“ vorwerfen. Es wurde Zeit, dass wieder unmissverständlich jene zum Zug kamen, welche das Kapital und damit die wahre Macht besaßen. Und weil sie das Sagen tatsächlich hatten, konnten sie diese verdammte Umverteilerei an die Arbeiter beenden. Reziprok hieß das: wer hat, der schafft. Wie sagte schon der alte Kinsey vom Kinsey-Clan zu seinem Stammhalter treffend: „Du kannst kein Geld vermehren, indem Du darauf brütest. Du kannst aber etwas ausbrüten, wie Du andere dazu bringst, den Wert Deines Geldes zu vermehren. Tun sie es nicht freiwillig, gib ihnen Zuckerbrot. Vergiss aber die Peitsche nicht. Mache es wie ein Cowboy, DU treibst die Herde, DU lenkst das Vieh.“

Wass viele Amerikaner und Amerikanerinnen nicht wussten: Es wurden zwei Pläne von zwei verschiedenen Gruppen ausgearbeitet. Die eine war offiziell eingesetzt worden, die andere nicht. Der offizielle Plan wurde regierungsintern diskutiert, der inoffizielle nicht.

Die Hintermänner des zweiten Plans hatten selbstredend nicht vor, außerhalb ihres Kreises - „des Kreises“ - stehende Personen an den Zukunftsplänen mitarbeiten zu lassen, weder die Arbeitnehmer-Vertreter noch die unbedeutenden Farmer und Rancher (deren Land man sich ohnehin nach und nach einverleiben würde). Sollte ihr Strategie-Arbeitskreis verraten werden (die lauschenden Ohren der Dienstboten konnte man nicht vermeiden, wollte man nicht auf die gewohnten Bequemlichkeiten verzichten) und sollte der Plan öffentlich in die Schlagzeilen geraten, so würde man den Gewerkschaftsführer Hoffa & Kumpane, die sich idealerweise unlauterer, ja verbrecherischer, um nicht zu sagen terroristischer Aktionen befleißigten als Sündenböcke hochstilisieren und vom gänzlichen Ausschluss der Arbeitnehmerseite an den Gesprächen ablenken. Das wäre kein Problem, weil man die benötigten Medien (Zeitungen, Fernsehen und Radio) besaß.

Von vorne herein gab es keinen Zweifel am Begehr der Besitzenden und der mit ihnen eng verbündeten, verwandten und verschwägerten Politiker, sich die Macht und den Reichtum zu teilen – diese „US-Player“ würden von nun an auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sein, sollte die Idee von sogenannten demokratischen Entscheidungsverfahren nicht völlig unkontrolliert aus dem Ruder laufen. „Demokratie“ sollte in Hinkunft vielmehr etwas sein, dass zwar offiziell den WählerInnen die Macht gab, jemanden ihr genehmen zu wählen - so wären die Amerikaner und Amerikanerinnen zufriedengestellt. Jeder gewählte Polit-Newcomer hätte aber inoffiziell gleich nebenan – quasi Tür an Tür - die Interessenvertreter des „Kreises“ sitzen. Diese Leute sollten die Überzeugungsarbeit leisten – und sie würden die nötigen Mittel dafür haben, um die Macht des „Kreises“ zu sichern. Später sollte dies nach Möglichkeit auf allen Kontinenten so sein. Zu diesem Zweck würde man sich insbesondere Europa „warm halten“ - eine Leichtigkeit, weil die Menschen des zerstörten Kontinents für die Wiederaufbauhilfen dankbar sein würden.

Die auf Wunsch der Konzern-Eigner beziehungsweise der Großaktionäre vor der Öffentlichkeit geheim gehaltene erste Zusammenkunft der Clan-Patriarchen fand an einem Samstag Ende Februar zur mitternächtlichen Stunde auf dem Gelände einer abgelegenen Farm statt. Mit dabei waren hochrangige Regierungsvertreter, Mitglieder des Senats und des Repräsentantenhauses. Die Öffentlichkeit würde ihre Namen niemals erfahren. Der Plan wurde einstimmig angenommen. Bei der ersten passenden Gelegenheit sollten die Initiativen sukzessive gesetzt werden.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945) war aus der Sicht aller Clan-Chefs klar, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war, um die minutiös ausgetüftelte Strategie für die Errichtung einer neuen Welt-Ordnung festzulegen, welche die Vormachtstellung der USA festigen sollte. Das hieß natürlich nichts anderes, als dass die neuen Spiel-Regeln die wirtschaftliche und politische Macht der Anwesenden garantieren würde. Es musste klug vorgegangen werden, damit das Positive dieser Ordnung hervorgestrichen würde. Aber am besten, man überließ die ersten Schritte den offiziellen US-Regierungsvertretern. Sie würden diplomatisch vorgehen und die breite Masse der europäischen Bevölkerung gewinnen. Nicht, dass diese Leutchen ihre alten Kaiser und Könige hervorholten, oder noch schlimmer, kommunistisch würden! Den guten Onkel würde Amerika spielen, großzügig sein. Damit konnte der „Kreis“ leben, das war OK. Dann wäre das Spiel schon halb gewonnen. Wen man nicht überzeugen musste, dass waren die bedeutenden europäischen Firmen(Besitzer) beziehungsweise Großaktionäre. Sie waren schon vor dem Krieg mit den amerikanischen eng verbunden gewesen, man besaß gegenseitig Aktienpakete – also, auf den Punkt gebracht, bedeutete das: half man ihnen, dann half man sich selbst. Schließlich gehörten ausgewählte Europäer ebenso zum „Kreis“, wie die bedeutendsten Personen anderer Kontinente.

Auf schriftliche Aufzeichnungen verzichteten die Männer des „Kreises“ auch diesmal. Nur der neue Code für das nächste Treffen wurde verteilt. Er befand sich auf Halsketten, die den Kennmarken der Soldaten glichen, nur dass das Material unauffällig edel war. Bei Tagesanbruch hob man die Gläser. Die Karten waren neu verteilt.

Eigentlich war schon Eile geboten, denn die Europäer schlossen ihrerseits Abkommen. Schon verhandelten sie. Doch als sie am 18. April 1951 die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl beschlossen, war Europa schon für die USA gewonnen. Die Europäer waren wirtschaftlich schneller auf die Beine gekommen als gedacht. Aber sie würden den US-Konzernen nicht gefährlich werden.

1957. 25. März. Messina. Sechs europäische Staaten gründeten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Euratom, später EG genannt, dem Vorläufer der EU. Gemeinsam wollten die europäischen Staaten eine stärkere Wirtschaftsmacht sein, auch wegen der Stärke der USA. So müssten sie sich nicht alles diktieren lassen.

1969. London. Der 38-jährige Australier Mun-Dong, größter Medienunternehmer des Landes, expandierte nach Europa. Hier stieß er auf (ihm) unerklärlich umfangreiche Regelungen zugunsten der ArbeitnehmerInnen, so ein verdammter Sozialismus, schimpfte er. „Wohlfahrtsstaat“ nannten sich viele reiche Staaten selbstgefällig. Das Lachen würde denen schon noch vergehen. Eigentlich sollten die Mächtigen (für ihn waren das selbstredend die Reichen) klüger sein. Wie lange wollten die europäischen Kollegen denn noch dem Umverteilungstreiben zusehen? Ihm missviel das. Es machte ihm das Leben schwer. Er begann einen zähen Kampf, streckte seine Fühler aus. In der britischen (Geld)Aristokratie wurde er fündig, und zu seiner Genugtuung saßen hier die politischen Macher mit ausgezeichneten Verbindungen nach „Übersee“, zu Leuten, die ihm lieb und teuer waren. Aber diese Europäische Gemeinschaft war ein Ärgernis für Leute, die etwas auf die Beine stellen wollten, fand Mun-Dong. Zu seinem Verdruss kochte die EG ihr eigenes Süppchen, irgendwie entzogen sich zu viele Politiker der wahren Macht. Er verstand das nicht. Wieso gab es hier so viele Widerspenstige? Der „Kontinent“ war eine Nuss, die zu knacken viel Fingerspitzengefühl erforderte, mehr als Mun Dong aufzubringen bereit war. Er setzte lieber auf den Duft seines Geldes. Damit setzte er erstens auf den steten Tropfen, der den Stein höhlt. Zweitens stellte er (Mun Dong) Metternichs Spitzelwesen in den Schatten. Er rieb sich voller Vorfreude die Hände. Jahre später hatte er viele Politiker „überzeugt“, aber längst nicht alle. Diese Europäer waren wegen der vielen Nationalstaaten schwierig steuerbar, mutmaßte er.Oder waren sie nur sturer, als gedacht? Womit könnte er sie ködern? Ihn veranlassten solche Hindernisse zu Tobsuchtsanfällen. Das blieb nicht verborgen. Seine antieuropäische Haltung wurde ruchbar. Er konnte es nicht verhindern, weil die Medien in Europa auf zu viele Hände verteilt waren. Ihm schwammen schon die Felle davon. Viele seiner Polit-Connections verliefen daraufhin im Sande. Vorerst musste er das schlucken. Nun, immerhin ließ er sich nicht gehen, wenn es um die Pflege der Verbindungen zu den Reichsten und Mächtigsten Europas ging. Da riss er sich zusammen. Im Geiste klopfte er sich auf die Schulter. Man ist ohnehin gerne unter sich, nickte er selbstverliebt. Alle diese Leute seines Schlages taten dasselbe wie er, kauften sich gegenseitig überall dort im großen Stil ein, wo gute Profite winkten. Also kannte man sich. Mun Dongs Vision ging aber viel weiter. Ihm schwebte eine Vernetzung der Mächtigen und Reichen unter seiner Führung vor. Daran arbeitete er. Derzeit hatten die Amerikaner die Nase vorn. Noch. Er fände schon Mittel und Wege. An der Schwächung der aufmüpfigen europäischen Politiker arbeitete er unverdrossen weiter, heulte aber diesmal mit den Wölfen. Frontal wie bisher ging nichts weiter, also tarnte er sich vielmehr mit Wohltätigkeitsevents und solch einem Nonsens. Gleichzeitig startete er in seinen Medien eine sukzessiv e Lächerlichmachung der sogenannten „Gutmenschen“.

1971. 15. August. USA. US-Präsident Richard Nixon verkündete das offizielle Ende des „Bretton-Woods-Abkommens“. Von nun an war das Geld nicht mehr durch Gold gedeckt. Jeder Staat konnte Geld drucken, als wäre es Klopapier. Alles sollte mehr und mehr liberalisiert werden. So wären die reichen wirklich frei, zu tun, was sie wollten. Nun ja, angeblich wären alle frei, zu tun, was sie wollten. Aber Scherz beiseite, narürlich kann sich ein Büromensch keine Jacht kaufen oder zwei flotte Flitzer auf einmal. Die braucht er auch nicht. Er hätte doch nie die notwendige Zeit, um die Welt zu umrunden, so wie er gerade. Er musste schließlich seine Firmen rund um die Welt kontrollieren. Ab und zu ein Abstecher in eine Gegend, die ihm Erholung schenkte, musste dabei drinnen sein. Für die anderen, für die Büromenschen und ihresgleichen genügte die Mittagspause zum Regenerieren vollauf, nicht wahr. Mit flottem Tempo schritt er über den Gehsteig der belebten 'Kärntner Straße' in Wien zum Casino. Der Büromensch gehörte ins Büro, nicht wahr! „Ins Büro!“, bekräftigte er seinen Gedanken für sich. Wie hieß das auf wienerisch? Er lernte ja gerne immer wieder etwas dazu: „An die Schreibmaschine!“, befahl er versehentlich laut. In seiner Umgebung lächelte man ihn wohlwollend an, denn die guten Leutchen (die höchstwahrscheinlich ihre Mittagspause gerade genossen) dachten, er treibe sich selbst an, um an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Seine Züge verdüsterten sich. Er hob sich doch deutlich von der Masse ab, wie er meinte! Ja, das sollte man meinen! Diese Narren! Denen würde er es noch zeigen!

1977. Herbst. Mitternacht. Spezielle Männer und Frauen erhielten spezielle Einladungen per Kurier zugestellt. Auf Goldplättchen erkannten sie den nur ihnen bekannten Code. Weiters folgten die eingestanzten Koordinaten 4°41'S, 55°29'O sowie 15. August. Das Kuvert, in dem sich das jeweilige Goldplättchen befand, war mit den Insignien Mun Dongs versiegelt, einer Lanze, die sich mit einem Schwert kreuzt.

1978. 15. August.Madagaskar. Alle Geladenen folgen dem Ruf. Auf dem Programm stand die Lagebesprechung betreffend der politischen Einflussnahme – insbesondere in Europa. Gleichzeitig saht es Mun Dong angeraten, sich mit „seinem“ Netzwerk (den handverlesenen Reichsten der Welt) wegen der neuen Möglichkeiten auszutauschen, die sich mit dem sogenannten Informationszeitalter eröffnen. Da war einiges drinnen! Gut fürs Geschäft. Gut für Manipulationen! Gut fürs Ausspionieren! Das war endlich ein Bereich, der den Politikern entzogen war, und so sollte es auch bleiben – dafür wollte man sorgen. Und wieder erhielten am Ende der Konferenz die TeilnehmerInnen ein unscheinbares Schmuckstück mit einem eingraviertem Code – diesmal überreicht von Mun-Dong.

1979. London. Im Mai übernahm Margaret Hilda Thatcher, Baroness Thatcher of Kesteven das Amt der Premierministerin des United Kingdom. Ihr Ziel war die wirtschaftliche Deregulierung und Rückzug des Staates. Der Zweck war die totale Liberalisierung des Marktes und dadurch Förderung des Wettbewerbs. Endlich – frohlockte Mun-Dong mit seinen Mitstreitern. Erhofft wurde offiziell das Anlocken von Investoren wie Seinesgleichen, wodurch Arbeitsplätze geschaffen werden sollten. No, das war ihm herzlich egal, war ja nicht sein Problem. Tatsächlich erreichte die Arbeitslosenquote mit drei Millionen (12,5%) im Jahre 1983 einen Spitzenwert (und sollte erst ab Mitte der 1990er Jahre sinken).

1985. New York. Mun Dong hat es geschafft, zum vordersten Kreis des Zirkels der Macht vorzustoßen. Er wurde der größte und erfolgreichste Medienunternehmer der Welt und nebenbei Amerikaner. Sein Konzern-Netz wurde auch in Amerika immer erfolgreicher, was ihm seitens des US-Gesetzgebers leicht gemacht wurde. Nun ja, mittlerweile war er auch mit den EU-Politikern zufriedener, die nicht mehr so verbissen auf „Demokratie“ machten, weil – „Hahaaa, mea culpa“ frohlockt wiederum Mun-Dong - die angeblichen „Sachzwänge“ der globalisierten, undurchschaubaren Wirtschafts- und Finanzärkte berücksichtigt werden mussten. Das würde noch viel dicker kommen, nahm sich Mun-Dong vor. Tatsache ist, dass alle ihm bekannten Konzerne jetzt schon ausgezeichnete Profite machten.

1992. 7.Februar. Maastricht. Die Europäische Gemeinschaft wird gegründet. Es ist dies primär eine Währungs- und Wirtschaftsunion. Solidarität ist darin ein Fremdwort. Mit der europäischen Sozialpolitik ging nicht viel weiter, weil bis 1997 Großbritannien auf der Bremse stand. (Mun-Dong und seine Leute wussten, warum.) Erst am 1. Mai 1999 trat der neue Vertrag (von Amsterdam) in Kraft. Ein Reformvertrag wurde am 13. Dezember 2007 in Lissabon von den mittlerweile 27 Mitgliedern unterzeichnet. Aber nicht die Staaten regierten, die „Sachwänge“ regierten sie, grinste Mun-Dong und hob keck die linke, fein in Form gezupfte Augenbraue.

2013 trat der achtundzwanzigste Staat der EU bei: Kroatien. Von den Küsten konnten sich die Kroaten langsam verabschieden – viele ahnten es und trafen Vorkehrungen gegen den Ausverkauf des Landes. Mun-Dong zuckte mit den Achseln, er saß am längeren Ast. Er konnte ein wenig zuwarten. Bald schon wäre das Land total verarmt - wofür er und die Seinen schon sorgen würden, allein durch das Nichtstun, durch Nicht-Investieren gelänge es. Aber es konnte die Sache beschleunigen und die Leutchen demoralisieren, wenn man einige Politiker schmierte und sie danach auffliegen ließe. Danach wäre die Frucht reif zum Pflücken. Ja, rieb sich Mun-Dong die Hände, es gab schon schöne Küstengegenden, die er im Auge hatte.

2015 wurde das „Büro“ installiert. Es ist dies die Regierung der EU. Sie ist mit Vollmachten ausgestattet, die früher die Kommission nicht hatte. Sie erhielt diese (zugegeben) nicht demokratisch zustande gekommenen Rechte, um rasch auf Probleme reagieren zu können. „Flexibilität“ wurde als das Allheilmittel gepriesen, in der Regierung, am Arbeitsmarkt, wo immer man hinblickte, der Mensch musste sich anpassen, sich nach der Decke strecken oder untergehen. In Südchorea, in Japan, in China und anderswo sprangen die verarmten, hungernden, kranken und alten Menschen seit Jahren täglich von den Brücken in den Tod. Waren es früher rund 50 Lebensmüde pro Tag gewesen, so zählte sie heute niemand mehr. Niemand schien sich an die Zeiten erinnern zu können, als Menschen ihre Gesellschaften, die Ordnung, die Regeln, nach denen sie leben wollten, selbst schufen.

2016. Dem Büro wird eine Armee an die Seite gestellt.

2020. Der Boden unter Ginas Füßen bebt, sie lässt die Milchpackung erschrocken fallen, streckt – als hätte sie es eingeübt - balancierend beide Arme aus, die Beine leicht gegrätscht, geht sie etwas in die Knie, um den Schwerpunkt in die Nähe des Bodens zu bringen. Ihr Sohn, der am Tisch sitzt, spring mit einem Afschrei auf „Mama!?“. Gina reagiert instinktiv : „Unter die Tür!“, übertönt sie den Lärm, dessen Quelle ihr unbekannt ist, was vor allem sie beunruhigt, denn sie kann ihn nicht mit dem vereinbaren, was sie von Erdbeben weiß. Silvio rührt sich nicht. „Sofort!“, legt die Mutter panisch nach. Sie meinte ja den Türstock mit der „Tür“, aber das Kind hat sie auch so verstanden. Der unbewusste Überlebenswille überwindet seine Lähmung in hundertstel Sekunden, er sprintet die wenigen Meter zur Tür, duckt sich und blickt ängtlich zur Mutter zurück. Das Beben wird von einem unglaublichen Krachen irgendwo links von den Beiden begleitet. Es scheint fast, als wiederholte es sich. Boden und Wände bewegen sich, die Weingläser im Schrank klirren beunruhigend, befremdlich. Die blauen Augen der schwarzhaarigen Frau sind panisch aufgerissen, was soll sie tun, wohin sich wenden? Sie fasst nach dem erstbesten Gegenstand, der ihr stabil erscheint, und das ist die Tür des hohen Kühlschranks, vor dem sie gerade steht. Der unglaubliche Krach von draußen vermittelt ihr die Ahnung, dass sie lieber in der Wohnung bleiben sollten. Andererseits verspürt sie den Drang, nachzusehen, was da vor sich geht. In diesem Wohnhaus kennt sie sich nicht aus. Sie fühlt sich ohnmächtig. Sie muss ihr Kind in Sicherheit bringen, wenn das Beben nicht bald aufhört. Aber wohin? Sie ist sozusagen hier in der Wohnung ihrer Freundin untergeschlüpft, und die ist vorhin zum Einkaufen „runter“ gegangen. Wenigstens werden wir nicht unter Tonnen von Schutt begraben, falls das Haus einstürzt, schießt es Gina wenig hilfreich durch den Kopf. Da wird die Tür aufgerissen. Silvio taumelt gegen Anna, die Freundin seiner Mutter. „Los, los, kommt!“, winkt die atemlos und hektisch, schon am Sprung. „Was ist los?“, wollen ihre Gäste wissen, während sie verstört hinter der zierlichen Frau die Stufen die vier Stockwerke hinunter hasten, Gina noch in den Hauspatschen, Silvio in Flipflops, sodass es bei jedem Schritt laut klatscht. Man hört es deutlich, weil sich das Getöse von vorhin gelegt hat. „Später!“, ruft Anna, ihr blondes Haar ist von Dreck und Staub bedeckt, bemerkt Gina jetzt. Sie verstummt, das ist ja beängstigend! Vor dem Haustor mehrere Häuser links von ihnen, dräut eine dichte Staubwolke Über den Gebäuden und füllt die Straße. Man hört Geschrei und lautes Gebrüll. Seltsam. Leute voller Staub rennen, als ob es um ihr Leben ginge. Aber das ärgste dürfte ja jetzt vorbei sein, Gina denkt an eine Gasexplosion. Sie misstraut dem Gas seit eh un je. In Oberösterreich gibt’s das glücklicherweise nicht, wie sie schon etliche Male ihrer Freundin gegenüber erwähnt hat, damit diese das Gas abdrehen ließe und sich einen Elektroherd anschaffe. „Aber nein...!“, lamentiert sie im Stillen vor sich hin, während sie . die Straße überqueren, in die Querstraße hinein, weiterlaufen nach links, und weiter – Gina kennt sich nicht aus hier, merkt sich den Weg nicht, den sie genommen haben. Sie hat ja Anna zum Zurückfinden. Gina und Silvio holen auf und laufen jetzt neben Anna die Abfahrt der Parkgarage hinunter. „Jetzt wart' doch mal!, keucht Gina. Mit dem Sport hat sie es nicht so. Anna bremst sich ein. „Ihr werdet es nicht glauben.“, sie klingt, als könnte sie es selbst nicht fassen „man bombardiert uns, vom Billa aus hab ich es deutlich gesehen, „Militärfahrzeuge, grüne Busse und Panzer, schwarz gekleidete Soldaten, keine Ahnung, was das soll, aber die haben die Gebäude beschossen, stellt Euch das vor. Leute verhaftet.“, ihr abgehacktes Gestammel ist fast schon eine Frage, eine Bitte vielleicht, man möge ihr widersprechen, oder es möge ein Wunder geschehen und das alles nur ein Albtraum, es darf einfach nicht real sein.

Gina ist ganz weiß im Gesicht. „Jetzt holen sie sich die letzten Kinder auch noch, das tun sie, genau das!“, stellt sie erschüttert fest. Aus ihrem Wohnort ist sie mit dem Kind geflüchtet, damit man ihr den Sohn nicht wegnehmen könnte, ist nach Wien zur Freundin, sozusagen so weit weg wie möglich. Da würde sie niemand vermuten. Ihr Handy verwendet sie nicht mehr, hat es ausgeschaltet, damit man ihr nicht auf die Spur käme. Dabei juckt es sie so sehr, mal ihre Nachbarn anzurufen. Aber jetzt? „Wo sind wir gelandet? Was sind das für Zustände?“fragt sich die Verzweifelte. Zuerst behaupten sie (die da oben), die Kinder müssten vom Staat versorgt werden, weil angeblich viele Eltern nicht in der Lage wären, sie mit Nahrung und allem Notwendigen zu versorgen. Dann schießen sie diejenigen aus ihren Häusern, die vielleicht noch Kinder verstecken, mutmaßt sie. Nein, sie ist sich ganz sicher. Auf einmal kann sie laufen wie eine Olympiade. Ohne ein weiteres Wort erreicht das Grüppchen das Tiefgeschoß der Meidlinger Parkgarage. Sie sind nicht die Einzigen da. Und sie werden nicht die Einzigen bleiben.

99,9 %.

Подняться наверх