Читать книгу 99,9 %. - Jozi Salzberg - Страница 6
Оглавление1 eh noch gut
Sieben, die altgediente Guerilla, Silberlöwin, gewählte Anführerin und heute in ihrer Eigenschaft als Späherin und Wächterin im Dienst, hat seit den frühen Morgenstunden keine Verdächtigen Feindbewegungen beobachtet. Daher droht ihrer Gemeinschaft im Moment erfreulicherweise keine unmittelbare Gefahr. Sieben nutzt die Gelegenheit, um weiter in ihrem alten Tagebuch zu schmökern. Es kommt ihr vor, als lese sie in einem Science-Fiction-Roman.
Wie anders doch 2012 aus der Sicht der Tagebuchschreiberin alles gewesen ist, so frei und unbeschwert war sie damals! Und das, obwohl es manchmal schien, als brächen sämtliche Geschwüre der Welt nach der Reihe auf. Aus heutiger Sicht war es ein „Tanz auf dem Vulkan“. Die TänzerInnen spürten die Hitze, rochen den Schwefel, sahen den Rauch, verbrannten sich mitunter an der Lava. Trotzdem schien es, als erschöpfte sich für den „modernen Menschen“ die größte Qual in der Sorge, ob die Tiefkühltruhe das Lieblingsmenü beherbergte, oder welche Einkaufsstraße sich für die nächste Shopping-Tour besser eignete.
Grob Negatives schob man weit von sich. Teilweise finden sich zwar im Tagebuch Seiten voll „Geraunze“ (so nennen ÖsterreicherInnen Genörgel, Jammerei und Geschimpfe), aber nur, weil es so Sitte war in Wien. „Sich Gedanken machen“ nannte Sieben das lieber. Wie immer man es nennen mochte, die Raunzer und die Raunzerinnen verschlossen zumindest nicht die Augen vor den Missständen, während andere das Hinterfragen von gesellschaftlichen Fehlentwicklungen von vorne herein ablehnten, weil sie meinten, zum „Herum-Philosophieren und Politisieren“ keinen „Geist“ und keine Zeit zu haben. Außerdem blicke man „in dem Ganzen“ eh nicht durch und könne nichts dran ändern, behaupteten sie kopfschüttelnd in Richtung der „Gschaftlhuber“ (wie man auf Österreichisch die Wichtigtuer nannte). Unter diesem Begriff subsumierte man tadelnd alle „Besserwisser“ und auch die AktionistInnen. Dabei lagen die Verweigerer mit ihrer Einstellung ganz im Trend der aufkommenden „neo-biedermeierlichen Idylle“. Eine heile Welt ersehnten sie fürwahr, doch keine gute Fee schwang den Zauberstab für sie und machte „alles wieder gut“. Im Gegenteil, die Arglosen hatten eigenhändig die „Dschinn“ (die Besessenen und Wahnsinnigen)losgelassen, denn immerhin wählten sie regelmäßig jene Leute, die anschließend den Stöpsel aus der Dschinn-Flasche zogen. Nun wurden sie sie nicht mehr los.
Sieben selbst sah oft ohnmächtig dem wahnsinnigen Treiben auf der Welt zu, schüttelte den Kopf und murmelte höchstens: „Das gibt es doch nicht!“ oder: „Wo soll das noch hinführen, wenn rund 700 LobbyistInnen nur allein des Finanz- und Bankensektors in Brüssel die Abgeordneten derart bedrängen, dass die nicht mehr normal arbeiten können?!“ Und dabei kamen noch Tausende von anderen LobbyistInnen aus anderen Bereichen dazu.
Meistens war die Tagebuchschreiberin zu bequem, um den Versuch zu wagen, „die bösen Geister in die Flasche zu bannen“ - und zu mehr Aktion als Sieben, der eifrigen Unterschreiberin von Petitionen, war 2012 selten jemand zu bewegen, insbesondere dann nicht, wenn es derjenigen oder demjenigen „noch“ gut ging.
Das unbewusst verwendete „Noch“ stützt einmal mehr Siebens Vermutung: Es scheint so, als hätten Viele das kommende Unheil erahnt, ohne es wahrhaben zu wollen. Dieses „Noch“ war das einzige Zugeständnis der breiten Masse, ihr Unbehagen und ihre Unzufriedenheit über den dräuenden Verfall ihrer heilen und gut funktionierenden Automaten-Welt in Wort(e) zu kleiden. Wenn etwas falsch lief, erwartete man von den offiziell zuständigen Stellen, dass die sich darum kümmerten, was sie jedoch meistens nicht zufriedenstellend taten. Dann hatte man wenigstens wieder etwas zu meckern. Dabei hätte man nicht den Hilflosen oder die Hilflose mimen müssen, hätte „den Kopf nicht in den Sand stecken“ müssen. Man hatte doch genug Möglichkeiten (Zeitungen, Internet, Fernsehen, Radio, Bibliotheken), um sich über (fast) alles ein Bild zu machen. Was also hatte 2012 Sieben an einem „gewöhnlichen“ Tag in ihr Tagebuch geschrieben?
„15.3.2012: Eigentlich fällt mir nichts Notierenswertes, weil Weltbewegendes ein, an dem ich beteiligt gewesen wäre. Habe heute nicht die Welt gerettet, hatte es auch gar nicht vor. Im Status der Untätigkeit kann ich wenigstens nichts verbrochen haben. Oder? Gewissen, gib Ruhe! Mir ist nur fad'.
Ich warte auf meine Familie, die sich wieder einmal verspätet – ein Blick auf die Armbanduhr bestätigt das. Auf die Pizza muss ich auch warten, weil sie noch im Backrohr bruzelt. Ihr Duft lässt mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. In der Mikrowelle dreht sich eine Schüssel mit Gemüse. Die Teekanne hat erst begonnen, das heiße Wasser auf den Brombeer-Teebeutel zu spucken. Noch sieben Minuten, bis die Küchenuhr klingelt. Diese Warterei nervt!
Die Zwischenzeit werde ich nutzen, um die Online- und die Tele-Nachrichten zu durchforsten, um zu sehen, was andere Leute heute so getrieben haben, oder von wem oder was sie getrieben worden sind. Schließlich ist nichts leichter als das in unserer „hippen“ Gesellschaft, das behaupten viele Leute. Obwohl, um getrieben zu werden muss man sich treiben lassen. Und ich? Zu welcher Gruppe gehöre ich, wenn ich zu den Informierten gehöre? Und überhaupt: Hängt es von der Daten-Menge ab, ob ich ausreichend informiert bin? Oder vom Wahrheitsgehalt? Von manipulativen Absichten der InformantInnen? Wovon? Und wenn ich nichts lese? Was dann? Macht es überhaupt einen Unterschied? Wie verzwickt, wenn ich bedenke, dass das Kennzeichen des „Informationszeitalters“ die Überflutung mit allerlei Unwichtigem ist. Dabei behaupten manche, Information sei der neue Gott, weil der Informierte Macht erlange. Zuerst könne er die Information „versilbern“ und dann käme er weiter, denn wo der Reichtum sei, dort wäre auch die Macht nicht mehr fern und umgekehrt, so heißt es.
Ich nehme nicht an, dass der Erfinder des „World Wide Web“ Tim Berners-Lee seinerzeit die Kommerzialisierung des Netzes im Auge hatte, sondern eher die Verbindung der universitären Forschung. Aber es wird einfach alles zu Geld gemacht in dieser unserer „Geld-regiert-die-Welt-Gesellschaft“. Wie enttäuschend unreif! Im dritten Jahrtausend dreht sich noch immer alles um denselben „Schmonzes“, um den Reichtum beziehungsweise um das „liebe Geld“, wie man es landläufig liebkosend auszudrücken pflegt.
Moment! Mal überlegen, ob sich da nicht ein Denkfehler verbirgt. Wer ist denn heutzutage reich? Mein Heim ist baufällig, die Wiener Wohnung winzig - und das, obwohl ich mich ständig informiere. Wo ist da der Reichtum?! Was stimmt denn nicht? Warum verhungern heutzutage noch immer irgendwo Kinder? Unicef berichtet über hungernde Kinder in der Sahel-Zone und anderswo. Warum tut niemand etwas dagegen, wenn es doch bekannt ist? Und wenn Informationen angeblich frei zugänglich sind, wenn in Indien sogar Gratis-Laptops an SchülerInnen verteilt werden, wenn die entlegenste Hütte mit einem Fernsehgerät bestückt ist (und die Leute daher die Nachrichtensendungen empfangen- sowie den Tele-Text lesen können), wieso sind dann nicht alle Menschen wenigstens gut situiert? Seit Jahren lese ich doch, dass die Anzahl der Reichen nur geringfügig steigt, dass aber allein diese Wenigen immer reicher werden (über die Vermögensungleichheit in Deutschland schreiben beispielsweise Frick/Grabke im DIW Berlin, Nr. 4, 2009: 66). „Super-Reiche“ nennt man sie gar.
Obwohl, wenn ich es recht überlege, sinnloser Reichtum ist doch für nichts gut. Das strebe ich nicht an – meine guten FreundInnen auch nicht. Irgendwie bezweifle ich, dass die Superreichen glücklicher sind als weniger Begüterte. Ich muss ja gar nicht zweifeln, weil mir die Erleuchtung kommt, sobald ich an den Stapel Hochglanz-Magazine im Friseur-Salon denke und an den Nonsens, den sie an die Frau, den Mann, den Menschen bringen wollen. Nein, die Reichen sind nicht glücklicher als andere. Jeder könnte das eigentlich wissen, denn wer sich weigert, die Zeitschriften zu durchblättern, der/die kann trotzdem alles über die Lebenskrisen der Reichen und Prominenten erfahren, weil niemand der Berieselung durch die Medien entkommt. Mich interessiert das nicht, deswegen schalte ich auf „stumm“, sobald der Nonsens gesendet wird. Vielleicht machen es andere so wie ich?
Ohnehin finde ich es wichtiger, eine sinnvolle Aufgabe zu finden, die das Leben reich macht, als im herkömmlichen Sinne reich zu sein. Aber ein finanzielles „Pölsterchen“ gönne ich jedem Menschen, weil es ein klein wenig Sicherheit vermittelt. Meine Wünsche und Gebete wurden bisher nicht erhört. Und was das Informationszeitalter betrifft, bin ich jetzt total konfus. Sind die mir zugänglichen Informationen nun bereichernd oder nicht? Ich kann's nicht wissen, entscheide mich im Zweifel für das Wissen. Aber ist's nicht eher Halb-Wissen? Verflixt! Schluss jetzt mit dem „Jeijern und Nudeln“ (das ist ein Familienausdruck für das Herumreden)!
Ich schalte den Computer ein. Der fährt mit einem Schnaufen hoch, als müsse er sich besonders anstrengen. Derweil setze ich mich zum Tele-Text: Laut den ersten Seiten ist alles im „grünen“ Bereich. Die Wetter-Prognose für Freitag klingt mit 7 bis 12° Celsius annehmbar. Ich könnte ausgiebig 'nordic walken'. Da kommt Freude auf! Aber was ist das!? Ich lese:
„Europäisches Parlament gegen Monsanto-Lobbyistin“, dem Parlament sei's gedankt. Aber worum ging es da? „Im Europaparlament regt sich Widerstand gegen die geplante Berufung einer ehemaligen Beraterin des US-Saatgutkonzerns Monsanto in den Verwaltungsrat der Europäischen Lebensmittelbehörde EFSA. Dagegen hätten sich im zuständigen Umweltausschuss Vertreter aller Fraktionen ausgesprochen, sagt die deutsche SPD-Abgeordnete Roth-Behrendt. Ausschlaggebend für den Widerstand sei die frühere Tätigkeit der Irin Mella Frewen bei Monsanto gewesen. Die Europäische Kommission hatte vorgeschlagen, die Geschäftsführerin des Lobby-Verbandes in die Europäische Lebensmittelbehörde zu berufen: Genau jene Behörde, die eine Zulassung etwa von Gen-Mais bewertet.“ (nachzulesen auf ORF 2 Teletext vom Donnerstag, dem 15.3.2012 um 20 Uhr 33 Minuten 21 Sekunden).
Wer wurde da vom Monsanto-Konzern geschmiert (es gilt die Unschuldsvermutung)? Wer erhofft sich Kickback-Cash oder einen gut dotierten Job für „danach“?! KommissarInnen (es gilt die Unschuldsvermutung)? Präsident (es gilt selbstredend die Unschuldsvermutung)? Typisch: nicht vom Volk gewählt und nicht dem Volk verantwortlich. Denen traue ich alles zu (siehe aber auch die Vorwürfe gegen den gewählten EU-Parlamentarier E. Strasser - es galt die Unschuldsvermutung – bis zu seiner Verurteilung wegen Korruption.)
Obwohl, egal ob gewählt oder ein Kind der Protektion, Korruption „grassiert“ (die Ähnlichkeit des Wörtchens zu jenem österreichischen Namensvetter,jedoch nicht Namensgeber „K-H. G.“, der seit Jahren unter Korruptionsverdacht steht, für den jedoch die Unschuldsvermutung gilt, ist frappant). Sie grassiert unter allen, „die es sich richten können“ - das beweisen die Skandale 2011/2012 zur Genüge . Deswegen denke ich doch beim Lesen des ORF-Textes sofort an die Möglichkeit der Korruption. Ob das Parlament dasselbe dachte, das geht aus den Zeilen des Teletextes nicht hervor. Mit der Ablehnung der Lobbyistin macht das Parlament zumindest deutlich, dass es schon genug Konzern-begünstigende Gesetze gibt. Ich denke sogar, dass es zu viele sind. Vielleicht verdanken wir genau diesem Umstand die Tatsache, dass es nicht allen Menschen gut geht. Diesem Gedanken will ich ein wenig nachspüren, um zu sehen, ob ich so zu einigen Ursachen und Zusammenhängen der dekadenten Gesellschaft beziehungsweise des krankenden marktwirtschaftlichen Systems vordringen kann.“
Sieben schießt der Gedanke durch den Kopf, dass sie heute, fünfzehn Jahre nach der Niederschrift obiger Zeilen, nicht in ihrer zerbombten Wohnung hocken müsste, hätte sie seinerzeit die Fähigkeit des 'Nostradamus' gehabt, eines Arztes, Apothekers und Astrologen, der zwischen 1503 und 1566 gelebt hat. Sie hätte alle gewarnt vor der Übermacht der Konzerne beziehungsweise vor den dahinter stehenden Personen und natürlich vor den super-Reichen InvestorInnen - wobei sie nicht genau sagen könnte, wer „alle“ sind. Mal überlegen: mit Sicherheit alle Verwandten und Bekannten in Europa, welche die Warnung weiter verbreiten hätten können. Also, das wäre schon mal über den Daumen gepeilt die „westliche Welt“ (wenn auch nicht die ganze – nein, Scherz beiseite). Dann käme noch das weltweit operierende Avaaz-Netzwerk mit 15 Millionen Mitgliedern in Frage. Na bitte!
Schon im zweiten Gedankengang schließt Sieben jedoch die Errettung der Welt durch ihre Wenigkeit aus. Zunächst hält sie fest, dass das Avaaz-Netzwerk bereits 2012 eine Campagne gestartet hatte, die die Welt hätte aufrütteln können. Damals notierte sich Sieben die wichtigsten Schlagworte aus Ian Keith' E-Mail vom 13. September (nachzulesen unter dem Link http://www.avaaz.org/de/stop_the_corporate_death_star/?brePfcb&v=17859):
„Gerade werden Details zu einem streng geheimen weltweiten Griff nach Macht durch Großkonzerne bekannt, dessen Umfang einem den Atem nimmt.“ (…) „Ein gigantischer globaler Pakt samt internationalem Tribunal, um ihn durchzusetzen, der jahrelang (sogar vor unseren Gesetzgebern!) geheim gehalten wird.“ (…) „Vertreter der Tabak-, Mineralöl- und Pharmaindustrie, sowie Walmart und fast 600 weitere Konzernlobbyisten sind am endgültigen Entwurf beteiligt“ (…) „Das Abkommen, das unter dem Namen Trans-Pacific Partnership (TPP) verhandelt wird, hat den Zweck, Investoren vor gesetzlicher Regulierung zu schützen, selbst wenn diese Gesetze im Interesse der Allgemeinheit verabschiedet werden. Durchgesickerte Versionen zeigen, dass das TPP Schutzmaßnahmen für Luft- und Wassersicherheit untergraben und Aspekte des US-Angriffs auf ein freies Internet wieder einführen würde. Desweiteren würden Bestrebungen für die Produktion günstiger Generika-Medikamente plattgewalzt. Doch es kommt noch schlimmer: Gesetzgeber, die sich den Regeln des TPP nicht beugen, sähen sich Sanktionen vor einem internationalen Tribunal ausgesetzt, wo Konzerne uns für Deals, die vorangegangene Regierungen geheim unterschrieben haben, verklagen können. Die Unterhändler behaupten, es handele sich lediglich um ein Handelsabkommen, das Investitionen und Profit für alle vereinfachen solle. Doch der durchgesickerte Entwurf steht mit so vielen Maßnahmen zum Schutz von Bürgern im Konflikt, dass klar ist, dieses "Handels"-Abkommen stellt den Profit von Konzernen über die Bedürfnisse der Menschen. Das ist nicht gerade überraschend, wenn man bedenkt, dass es im Geheimen mit fast 600 Konzernlobbyisten und ohne Beteiligung von Bürgergruppen geschrieben wurde.“
Nach dem ersten Tag des Avaaz-Aufrufs hatten schon über 560.000 Menschen die Petition unterschrieben, die an unsere Regierungen gerichtet war:
„Als besorgte Bürger weltweit fordern wir Sie zu Transparenz und Rechenschaftspflicht für alle beim TPP-Prozess auf. Verwerfen Sie Pläne, die unsere Regierungen einschränken, im Interesse der Öffentlichkeit gesetzgeberisch tätig zu werden. Das TPP-Abkommen bedroht unsere Demokratie, untergräbt nationale Souveränität, Arbeiterrechte, Umweltschutzmaßnahmen und die Freiheit des Internets. Wir rufen Sie auf, diese Machtübernahme durch Großkonzerne abzulehnen.“
Doch neben Australien und Neuseeland sträubten sich zu wenige Länder, das Abkommen zu unterzeichnen. Sieben war verzweifelt, weil nicht einmal ein Netzwerk von Millionen Mitgliedern die Macht derjenigen beschränken konnte, die nicht genug bekommen konnten. Trotzdem tat Sieben nicht mehr als diese Petition zu unterschreiben und sie an FreundInnen weiterzuleiten. Was, so fragte sie sich deprimiert, was hätte sie schon „groß“ tun können?
Erstens (sie weiß es natürlich) hätte sie persönlich politisch aktiv werden müssen, um eine winzige Chance zu erhalten, etwas zu verändern. Anprangern von Fehlern allein wäre dabei zu wenig, das tun nämlich sämtliche „Populisten“, ohne dass sich durch ihr „Tröten“ je etwas zum Besseren gewendet hätte, stets war das Gegenteil der Fall. Nein. Die Populisten bedienen nur wenige Anhänger und schädigen die anderen Menschen. So will ich es nicht! Man muss gute Angebote haben, alternative Angebote für die ganze Gesellschaft. Flugs wäre man zum Politiker oder zur Politikerin mutiert. Aber wegen der vielen Korruptionsaffären wurden PolitikerInnen zu Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts sowohl von ihren WählerInnen als auch von den Wahlverweigerern und -Innen verachtet und jede(r), der/die konnte, mied das politische Parkett.
Zweitens hätte Sieben niemand geglaubt, niemand außer einer Handvoll von „WeltuntergangsspinnerInnen“ oder sogenannten „VerschwörungstheoretikerInnen“, die genauso belächelt worden wären wie sie selbst. Nun, Sieben hätte ihre Zukunftsausblicke selbst nicht geglaubt, es sei denn, ein erprobtes, anerkanntes technisches Gerät hätte sie auf die Kommastelle genau ausgerechnet und ausgespuckt.
Abgesehen von der Unglaubwürdigkeit der Wahrsager-Methode hätte es eine weitere Hürde gegeben: Die Macht der Konzerne. Missliebiges wurde beispielsweise sofort von den Konzern-Anwälten beeinsprucht und von bezahlten „Fachleuten“ als Unsinn abgetan. Diese Dementis und Gegendarstellungen ließ man in den Medien als Wahrheit verbreiten.
Ernstzunehmenden KritikerInnen verpasste man zweitens nach Möglichkeit „Maulkörbe“, was nichts anderes heißt, als dass die Anwälte des angegriffenen Konzerns bei Gericht ein Verbot erwirkten, wonach sich die KlägerInnen in der konkreten Sache nicht öffentlich äußern durften.
Im schlimmsten Fall wurde ein Kritiker oder eine Kritikerin selbst mit Klagen eingedeckt – die Verfahren zogen sich über Jahre und kosteten einem „Normalverbraucher“ oder einer „Normalverbraucherin“ seine Existenz. Solcherart verunsichert, wolle sich niemand mit den Mächtigen anlegen, wollte zu Anfang des dritten Jahrtausends niemand sehen, was in der Welt schief lief.
Niemand? Nicht ganz. Ausgenommen sind 'Attac', 'Transparency International', einige Nobel-PreisträgerInnen, Menschenrechts-, Tier- und Naturschutz-Organisationen und die 'Occupy-Bewegung'. Aber diese Leute waren eine Minderheit, ein „ kleines Dorf“ nur. Und ihnen hörte nur eine Minderheit zu. Obwohl das Grüppchen allmählich zu einer Bewegung anschwoll, so kann man getrost behaupten, dass die Mehrheit der Bevölkerung (als Massenbewegung) weiterhin politisch inaktiv blieb, dass also aus der Sicht der Mächtigen den Warnern und Warnerinnen „kein Mensch“ richtig Gehör schenkte.
Siebens Gehör funktioniert einwandfrei. Ein heller Klang dringt an ihr Ohr. Eine Kinderstimme?! Auf den Straßen Wiens?!
Sieben traut ihren Augen nicht, womit sie ausdrücken möchte, dass sie entrüstet und entsetzt ist. Der Platz unter der Sonne ist todbringend für alle Mitglieder der 99,9%. Aber Kinder sind zudem eine begehrte Beute für die Zeros -diese verfluchten Nullen, vorausgesetzt, sie überleben den Aufenthalt in der verbotenen Zone lange genug. Sieben springt in Panik auf, denn sie weiß, dass niemals Zero-Kinder hier herumspazieren würden. Mit hundertprozentiger Sicherheit gehört dieses Kind zu Siebens Untergrund-Gemeinschaft.
Die Späherin lässt sich wieder auf die Knie fallen und duckt sich tief. Sie ist zu weit weg, um verhindern zu können, dass das Kind weiterläuft oder um überhaupt irgendetwas bewirken zu können, dessen ist sie sich rechtzeitig bewusst geworden.
Aus der 'Klährgasse' kommt das Kind, bleibt an der Mündung zur 'Längenfeldgasse' kurz stehen und blickt zurück, ruft offenbar jemandem etwas zu. Sieben hofft, dass es zurückgerufen wird oder dass es zur Einsicht kommt und dorthin zurückkehrt, woher es gekommen ist. „Sofort, wenn's geht!“, doch mit den telekinetischen Fähigkeiten Siebens ist es nicht weit her. Das Kind bewegt sich nach dem kurzen Zögern hüpfend zum 'Steinbauerpark' hinauf! Ist ihm denn die Gefahr nicht bewusst?! Nein, offensichtlich nicht. Um Himmels Willen! Jetzt folgt ihm ein zweites Kind.
Sieben hält nichts mehr in ihrem Ausguck, bekräftigt sie ihre Entscheidung, zur Rettung der Kinder zu eilen, bei sich. Oh, jetzt nur nicht dumm werden, ermahnt sie sich, schüttelt unwillig den Kopf. Ihre altruistische Ader will mit ihr durchgehen.
Es wäre nicht nur pflichtvergessen, sondern grob fahrlässig, würde sie die enorm wichtige Information, an die sie heute Morgen gelangt ist, mit ins Grab nehmen. Nur für den Fall, dass sie nicht mehr persönlich dazu in der Lage wäre, die Nachricht an die Untergrundbewegung weiterzugeben, kritzelt sie eiligst einige Zeilen in ihren Notizblock, reißt den Zettel heraus, legt ihn auf den Schutt und beschwert ihn mit einem Ziegel-Bruchstück. Ihre Familie und der engste Freundeskreis wissen, von wo aus sie am liebsten die Gegend beobachtet. Sollte sie nicht zurückkehren, so würde man hier zuerst nach ihr suchen und den Zettel finden – falls ihn nicht die Gegenseite zuerst fände. Letzteres wäre gar nicht gut. Leider ist es nicht so unwahrscheinlich, wie Sieben es sich wünschen würde, dass sich ein Söldner hierher verirrt. Aber die Gefahr, dass ihm gerade der Zettel ins Auge springt, ist relativ gering. Die Frau kann und will sich jetzt nicht den Zweifeln ergeben, lässt sich nicht von ihrer Rettungsmission abhalten – es überwiegt die Sorge um die Kinder. Sie runzelt sorgenvoll die Stirne, was unter ihrer „Maske“ ein Kunststück ist – jetzt verschwendet sie auch noch Zeit mit solch unnützen Gedanken, schnaubt sie ärgerlich.
„Jetzt aber raschest hinterher!“, feuert sie sich selbst an, was gar nicht nötig wäre. Nur ist es so, dass sie es gewohnt ist, als 99,9%-Leiterin des 12. und 13. Wiener Gemeindebezirks den Aufbruch zu befehlen, sodass sie es auch dann tut, wenn gar keine(r) da ist, die/der es hören könnte. Ihr Vize Corax ist ihr darin sehr ähnlich, weswegen sie die Eigenheit nicht als persönliche Charakterschwäche (wie zum Beispiel Wichtigtuerei) klassifizieren mag - es könnte natürlich sein, dass er sich nur ein Beispiel an ihr nimmt, aber die Bedeutung eines solchen Verhaltens will sie jetzt erst recht nicht analysieren, es wäre auch unwichtig. Immer, wenn sie gestresst ist, fallen ihr die unnötigsten Dinge ein. Das wundert sie einigermaßen, ist aber ebenso unwichtig.
Die kleine Frau keucht die vier Stockwerke die Treppen hinunter. Nicht, weil sie etwa schlecht trainiert wäre, keucht sie (ganz im Gegenteil), sondern weil die Angst um die Kinder ihr den Atem raubt. Ihr Puls rast, in ihren Ohren rauscht das Blut. Unten beziehungsweise an der Kreuzung angekommen, erkennt sie, dass sie zu lange gebraucht hat: von den Kindern keine Spur! Aber Sieben glaubt zu wissen, wohin sie sich wandten, nein, sie weiß es genau, denn es ist naheliegend, dass der verlassene Spielplatz die Kleinen lockt. Sie hetzt also die 'Längenfeldgasse' bis zur 'Klährgasse' hinauf. Die möglicherweise von den Zero-Söldnern angebrachten Bewegungsmelder sind ihr in diesem Moment egal.
Von den Sensoren, welche der Feind in den verschiedenen Stockwerken der Ruinen genauso angebracht hat, wie in den Straßen unten, geht große Gefahr aus. Keine Frage. In „ihrem“ Haus sind keine, davon hat sie sich heute schon überzeugt. Aber falls im Stockwerk gegenüber welche sein sollten, dann hätte man sie ohnehin schon entdeckt, weil sie vorhin aufgesprungen ist. In diesem Fall hätte ein Sensor ihren Standort an die Zero-Zentrale gemeldet. Das alles ist jetzt uninteressant, fegt sie die sich ihr aufdrängenden Bedenken fort, denn sie bangt um das junge Leben mehr als um ihr eigenes. Dass sie ohne Tarnung ist, sobald sie aus dem Haus läuft, interessiert sie dementsprechend wenig. Die Tretminen fürchtet sie schon mehr. Im Lauf erreicht sie die 'Klährgasse', ohne auf eine getreten zu sein. Glücklicherweise die Kinder auch nicht. Das hätte sie gehört. Dass in den letzten Tagen ihr alter Kampfgefährte Toni hier gewerkt hat, erleichtert Sieben ungemein. Er hat sicherlich die Zero-Fallen entdeckt und hat sie ab- beziehungsweise umgebaut, so hofft sie. Trotzdem fürchtet sie, jeden Augenblick einen Knall zu hören.
Was sie hört, ist ein Keuchen, das nicht von ihr selbst stammt. Wird sie verfolgt? Sie drückt sich sofort an die Mauer, geht in die Hocke und greift nach ihrer Waffe. Aber die steckt sie gleich wieder weg, nachdem sie die Läufer als Angehörige der Widerstandsbewegung identifiziert. Etwas oberhalb der Kreuzung 'Klährgasse/ Längenfeldgasse' trifft sie nämlich mit zwei Kämpfern zusammen, die ebenfalls den Kindern auf der Spur sind. Beide sind sie relativ junge Großväter. Sieben kennt sie persönlich, weil sie alle derselben Kampf-Einheit angehören. Keiner unterbricht seinen Lauf. „Unsere Enkel!“, keucht Lumbricus (der Regenwurm) erklärend. Der Achtundvierzigjährige war alles andere als begeistert, als seine Tochter mit Siebzehn ihr erstes Baby bekam, aber heute ist dieses Kind sein ein und alles. Der andere bestätigt „Wir machen das schon.“, und nickt dankend in Siebens Richtung. Der zweite, um wenige Jahre ältere Kämpfer, der sich Corax (Kolkrabe) nennt, hat reichlich Kampferfahrung, wie es bei einem Vize zu erwarten ist. Im Moment ist er Siebens Stellvertreter für den zwölften und den dreizehnten Wiener Gemeindebezirk inklusive Schönbrunns. Eine Gefahr hat der Mann noch nie gescheut. Von seinem Wagemut zeugt sein narbenübersätes Gesicht. Die Kinder sind also in guten Händen. Trotzdem kehrt Sieben nicht gleich um. Vielleicht brauchen die Männer doch noch ihre Unterstützung.
Siebens Vorausschau und Vorsicht hat der Gemeinschaft oft gute Dienste geleistet. Sie weiß, genau dies schätzt man an ihr, hat sie vermutlich gerade deswegen immer wieder zur Leiterin „ihrer“ Bezirke gewählt – ohne Unterlass hat sie (ungewollt) sieben Jahre hindurch in den halbjährlichen Urnengängen die Mehrheit der Stimmen auf sich vereint, was alljährlich zu Wahlwiederholungen geführt hat. Die Regeln besagen nämlich, dass dieselbe Person nur einmal pro Jahr die Funktion ausüben darf – für die Dauer von sechs Monaten. Im zweiten Halbjahr darf man Vize sein, was Sieben leider nie erspart blieb. Ist sie mal Vize gewesen, so wandten sich die Leute trotzdem stur an sie, wenn sie ein Anliegen hatten. Manchmal fragt sie sich, ob sie zu gutmütig ist. Sieben selbst hat irgendwann den Antrag eingebracht, dass nach dem Befreiungsschlag dereinst die Regel gelten sollte, wonach so lange niemand in der Kleingemeinde nochmals für eine Funktion gewählt wird, bis nicht alle erwachsenen Gruppenmitglieder an die Reihe gekommen wären, ihren Beitrag für die Gemeinschaft abzuleisten (wer nicht kann, der/die muss eine Befreiungssteuer an die Kleingemeinde abliefern, die individuell nach dem Besitz des/der Beroffenen errechnet wird oder in Arbeitszeit berechnet wird, die wahlweise abgeleistet werden soll). Die Weltgemeinschaft stellte diesen Vorschlag zur Online-Abstimmung – er wurde mehrheitlich angenommen, denn schließlich wird auf diese Weise der Gerechtigkeit genüge getan und zweitens wird Korruption unmöglich gemacht. Außerdem müssen sämtliche Anliegen schriftlich an eine „Sammelstelle“ ergehen, die nach Themen und Dringlichkeit die erste Sortierung vornimmt. LobbyistInnen dürfen sich den FunktionärInnen nicht nähern – damit wird ein zweiter Riegel der Korruption vorgeschoben. Wie froh macht das Sieben. Sie ist aus persönlichen Gründen froh über diese Regeln, insbesondere über die Wahlregel. Später will sie ihre Ruhe haben, nach Möglichkeit für den Rest ihres Lebens. Die Verantwortung für so viele Menschen übernehmen zu müssen, setzt ihr zu. Gerne delegiert sie, gerne lässt sie den Freiwilligen den Vortritt. Daher reagiert sie auch jetzt sofort auf den Wink der beiden Männer und bleibt stehen, respektiert den Wunsch der Kollegen, die „Sache“ selbst zu erledigen.
Sieben versteht sehr genau, worum es geht. Die Familien haben ihre Aufsichtspflicht verletzt und damit die Kinder der Gefahr ausgesetzt. Hoffentlich geschieht nicht Schlimmeres als das, betet Sieben stumm. Ein Knall! Sieben verkrampft sich, bis sie verinnerlicht, dass da etwas in ihrem Rücken, im 'Lorenshof' explodiert ist, nicht schräg voraus am Spielplatz. Für Unwichtigkeiten riskiert sie natürlich nicht ihr Leben, geht daher nicht nachsehen. Sie weiß ja, dass sie heute niemanden in das Gebäude geschickt hat. Sie tippt daher auf eine Ratte weniger. Die Bedauernswerte.
Bewegungslos und gut getarnt lehnt die Kämpferin an der Hausmauer hinter einem Strauch, ist sozusagen auf Abruf bereit, noch voller Angst um die Kinder, denn sie nimmt nicht an, dass ihr Kampfgefährte „Toni“ den „ewig“ nicht genutzten und daher vom meterhohen Unkraut überwucherten Spielplatz entmint hat. Der Mann interessiert sich in erster Linie für die Verminung der Straßen, die von den Zeros frequentiert werden, wie sie wohl weiß. Da kann man nur hoffen, dass das Unkraut die Kinder nicht zum Versteckenspielen animiert.
Jetzt hört man Jahrmarktmusik erschallen. Eine clowneske Stimme aus dem Lautsprecher heißt jovial die „Lieben Kinder“ willkommen und wünscht ihnen viel Vergnügen. Aha, die Zeros haben die sieben Jahre alte Anlage nicht abmontiert. 2020 luden sie hier die SchülerInnen von der nahegelegenen Volksschule in die Busse, um sie zu größeren Sammelstellen und anschließend in staatliche Anstalten zu transportieren. Man schob als Begründung vor, dass die Eltern ihre Sprösslinge nicht ernähren könnten, daher sei es besser, wenn sie von öffentlichen Organisationen betreut würden. Was dem Sturm der Entrüstung folgte, ist Legende.
Ja. Man wird noch in hundert Jahren von dem Kindesraub berichten, der in einem Meer von Blut geendet war. Das war der Funke, der die Welt endgültig in Brand gesetzt hatte. Die Zeros hatten mit Sicherheit das Gegenteil beabsichtigt, wollten die Zivilbevölkerung in den Griff bekommen. Nachdem es immer wieder bei der brutalen Ausbeutung der ArbeiterInnen zu Aufständen gekommen war, sollten die Kinder der Prozentos ein Druckmittel darstellen. Auf diese Idee war man verfallen, nachdem die Erschießung von protestierenden Arbeitern (die um eine gerechtere Entlohnung kämpften) nicht die beabsichtigte Abschreckung nach sich gezogen hatte (die ersten dreißig getöteten Arbeiter waren jene einer Platinmine in Südafrika am 17. August 2012 gewesen). Wäre die Rechnung der Zeros aufgegangen, so hätte jeglicher Widerstand der Prozentos schlagartig erlöschen müssen. Zugleich sollten die Prozento-Kinder ein Schutzschild für die Enklaven der Reichen sein.
Bei aller Raffinesse des Zero-Lagers hat sich ein entscheidender Fehler in ihr Denken eingeschlichen: die Negierung der Blutsbande. Das haben die „verfluchten Nullen“ den verarmten Bevölkerungsschichten vollkommen abgesprochen. Darin zeigt sich einmal mehr die Abgehobenheit der Zeros vom Rest der Menschheit. Aus der Sicht der 99,9% sind unumstößlich ihre entführten Kinder der wahre Anlass für den Beginn des Widerstandskampfes der 99,9% gegen die „verfluchten Nullen“, die all das getan haben, weil sie ihre Gier nach noch größerem Reichtum uns seiner Absicherung – vor allem das - befriedigen wollten. Nein, aus der Sicht der Untergrundbewegung und aus der Sicht von Sieben stehen die Kinder und Jugendlichen nicht zur Disposition. Es hat zwar Leute gegeben, die meinten, man sollte stillhalten, damit den Kindern nichts geschehe. Aber der bekannte Professor an der Universität Wien und Autor zahlreicher Bücher über den Nationalsozialismus überzeugte die Menschen, dass die Täter jener Zeit mit solch einer Taktik (der Ungewissheit über das, was einem selbst und seinen Angehörigen bevorstünde) erreicht hatten, dass die Menschen sogar in den Konzentrationslagern stillhielten und reihenweise ohne Gegenwehr ermordet wurden.
Eine knappe Minute ist vergangen, da hört Sieben das Klatschen der Sohlen auf dem heißen Asphalt und das bekannte Keuchen (von Lumbricus, der an Asthma leidet). Die Männer sind heute nicht in ihrer Eigenschaft als Kämpfer unterwegs, sondern ganz privat als Großväter. Sie bringen ihre Enkelkinder in Sicherheit, jeder hat sich ein Kleines auf die Hüfte gesetzt. Mit der freien Hand umklammern sie ihre Waffen, visieren die ehemalige Volkshochschule gegenüber der 'Klährgasse' an und laufen hinein. Sicherlich werden sie schon sehnsüchtig von den Kindeseltern erwartet, die wegen der Pflichten gegenüber den anderen minderjährigen Kindern nicht zu Einsätzen an der Oberfläche zugelassen sind – Waisenkinder gibt es schon genug.
Für Sieben ist die Sache erledigt. Sie ahnt, dass die kleine Gruppe über die Kellerräume und unterirdischen Gänge in ihr Quartier zurückkehrt. So ist es sicherer. Der Untergrund ist ihr Revier. Die Untergrund-Frau beschließt, es ebenso zu halten. Also ab mit ihr in den nächstgelegenen Keller. Hier kennt sie jeden Meter, schließlich hat sie seinerzeit in „ihrem“ Bezirk fleißig die Erdgänge mitgegraben, welche die Keller miteinander verbinden.
Die Widerstandsbewegung nutzt für ihre Zwecke die Kellerräume und die eigenhändig gebauten Schächte, von denen manche so geräumig sind, dass man darin mit dem Fahrrad oder einem Tretroller fahren kann. Es steht außerdem die alte Kanalisation zur Verfügung, die von allen nur „Der dritte Mann“ genannt wird (nach dem 1949 gedrehten Spionagethriller „The Third Man“ von Carol Reed) – einschränkend gesteht sich Sieben ein, dass die Londoner Verbündeten von ihren kilometerlangen, ausgeklügelt angelegten Kanalbauten mehr profitieren dürften als die Wiener vom „Dritten Mann“.
Bei den Kindern des Untergrundes ist der verbreiterte unterirdische Teil des Wien-Flusses ein besonders beliebter Wasserweg. Nicht beliebt sind die Rohre, die früher von der Stadtverwaltung für die Gasleitungen, für die Stromkabel, für die Telefonleitungen, für die Glasfaserkabel und Ähnliches verlegt worden waren. Ihr Durchmesser beträgt einen halben Meter, kommt einem aber enger vor, unglaublich eng sogar – schaudert Sieben.
Wo die Wasserschächte intakt sind, nutzt man auch die. Aber nur die Schwindelfreien nehmen die alten (römischen) Aquädukte. Die haben den Vorteil, dass sie von den Zero-Söldnern niemals leichtfertig beschädigt werden, weil die Zeros selbst auch das Wasser der Gebirgsquellen schätzen. Bei einer Entdeckung müsste man daher „nur“ die Scharfschützen fürchten. Wie gut, dass man die selten in der Nähe der Bauwerke antrifft.
Überland nutzt die Bewegung gerne die vorhandenen Schienen. Man verlegte außerdem selbst Schmalspurschienen, die man bewusst mit Gras halb überwuchern lässt. Sie eignen sich hervorragend für die Schienenfahrräder und Loren (für den Personenverkehr) sowie für die Handhebel-Draisinen zum Lastentransport. Vorsorglich verkleidete man alle Fahrzeuge mit Tarnfolien, sodass sie in der warmen Jahreszeit einem dichtbelaubten Busch ähneln und im Winter einem Schneehaufen. Es stehen der Bewegung also viele Möglichkeiten zum Weiterkommen offen.
Nur selten oder im „Notfall“ begibt man sich in die erwähnten, sehr engen Betonrohre der ehemaligen Wiener Stadtwerke und wenn, dann höchstens zur kurzen Unterquerung der jeweiligen Straße oder einer Kreuzung. Für den breitschultrigen Corax sind diese Schläuche sowieso tabu, denn er würde darin stecken bleiben. Vielleicht trieb er einst deshalb ganz freiwillig besonders geräumige Stollen durch das Erdreich Wiens, grinst Sieben. Sie radiert mit ihren Hüften zwar die Spinnweben von den Wänden, aber sie passt ohne Schwierigkeiten durch die alten, engen Beton-Schächte.
Nachdem sich direkt vor ihr eine Öffnung befindet, beschließt sie wenig begeistert, durchzukriechen. Immerhin ist das Rohr der direkte Weg zu ihrem Ziel. Nur leider geht es nie ohne Ekel ab. Man hat es sich wegen der relativ kurzen Distanzen erspart, die Belüftungsstangen für die Frischluftzufuhr zur Oberfläche zu treiben, wie sonst überall entlang der Erdgänge. Was für eine dumme „Unterlassungssünde, ärgert sich Sieben, die gerade darunter leidet. Die Luft „steht“ hier. Diese engen Durchlässe hasst nicht nur Sieben, denn darin stinkt es, es ist feucht und stickig heiß. Man bekommt unweigerlich Platzangst, und obendrein muss man auch noch Ratten vor sich her treiben, die sich seit dem Chemie-Skandal unverdrossen vermehren, als wollten sie die ursprüngliche Population so schnell als möglich ersetzen.
Es passiert immer wieder, dass die Biester einfach über Siebens Rücken spazieren und ihr dabei Unaussprechliches antun, während sie sie fluchend und fuchtelnd vor sich her zu treiben versucht.
Nach dem Durchkriechen ist man jedes Mal schweißgebadet. Diesmal muss die Testerin des Tarn-Anzugs außerdem ganz besonders auf ihre neue, wertvolle Ausrüstung achten, kann daher nicht wild drauflos robben. Den Umhang, den sie (ebenso wie den Anzug) zu Testzwecken trägt, den hat sie sorgfältig gefaltet und im Rucksack verstaut. Immer schön sachte, damit nichts beschädigt wird, ermahnt sie sich. Lieber würde sie ja schneller tun, um es hinter sich zu bringen. Es dauert aber auch so nicht besonders lange, und sie ist auf ihren Posten zurückgekehrt.
Die Neunundvierzigjährige hat die Stufen zum vierten Stock im Lauf genommen und ist im Unterschied zum „Abstieg“ nicht einmal außer Atem. Der Notiz-Zettel liegt noch da. Sieben will ihn schon zerfetzen, überlegt es sich aber anders. Ein alter Kochtopf mit Deckel ist ein gutes Versteck. Dort deponiert sie die Nachricht. Für alle Fälle. Vernichten wird sie ihn, bevor sie die Wohnung verlässt. Die Zero-Söldner sollen ihn besser nicht zu Gesicht bekommen. Sicherlich würde die Gegenseite anschließend ihre Pläne ändern.
So, jetzt kann sie ein wenig „chillen“, wie es die Kinder auszudrücken pflegen, wenn sie von einer Pause sprechen. Bei welchem Gedanken hat sie sich vorhin unterbrochen? Ach ja. Die Leute wollten damals in der „guten alten Zeit“ nicht auf die Warnungen hören.
Damals, das ist für Sieben die Zeitspanne zwischen dem Zweiten Weltkrieg, der im September 1945 endete und dem Jahre 2020, Maximal siebzig Jahre sind das – man staune! Es hat also seit dem letzten Weltkrieg nur ein Menschenleben gebraucht, um die Leute alle guten Vorsätze vergessen zu lassen. Was heißt siebzig Jahre?! Viel früher begann es. Dort, wo der Krieg nichts zerstört hatte (in den USA beispielsweise), da musste man keine Zeit mit dem Wiederaufbau vergeuden. Dort konnte man sich frühzeitig überlegen, wie man die neue Ordnung der Welt gestalten könnte – natürlich zum Nutzen aller Amerikaner. „Aller Amerikaner?“ oder waren eher alle Personen gemeint, die zum Kreise der sogenannten Geschäftsleute-Regierung des Präsidenten Dwight D. Eisenhower gehörten? Schließlich lässt ihr Abbau des „New Deal“ den Schluss zu („ND“ war eine Wirtschafts- und Sozialreform, die auch dem „gewöhnlichen“ Volk Wohlstand gebracht hat – das europäische Pendant war später der Wohlfahrtsstaat, der bis in die 1980er Jahre funktionierte).
In den kriegszerstörten Regionen der Welt dauerte es zwanzig bis drießig Jahre länger, bis einige wenige Personen nach dem Vorbild der Eisenhowerschen Geschäftsleute-Regierung nach der Macht griffen und dem Wohlfahrtsstaat den Garaus machten. Sie sorgten dafür, dass der Niedergang des allgemeinen Wohlstands in Europa schleichend begann, verbrämt mit schönen Worten und Theorien, sodass es kaum jemandem außerhalb der Science Community als hinterfragungswürdig auffiel. Leider fasste niemand die aussagekräftigsten Erkenntnisse der WissenschaftlerInnen zusammen. Daher wirkten sie wie Flickwerk. Schlimmer noch: Weil sich die verantwortlichen Entscheidungsträger und -Trägerinnen nie die Mühe machte, die Ausgangsdaten der Forschungsarbeiten anzuschauen, sprachen die PolitikerInnen sogar von widersprüchlichen Aussagen. Sieben denkt, es hätte einiger Universalgelehrter gebraucht für kluge Verknüpfungen der Erkenntnisse, aber kein Staat der Welt leistete sich solche.
„Damals“ klingt so weit weg. Für die Menschen des Untergrunds ist es das auch, gefühlsmäßig zumindest, obwohl seit dem totalen Crash nur sieben Jahre vergangen sind. „Damals“ ist niemand ernsthaft gegen die Fehlentwicklungen vorgegangen.
Die Politiker agierten nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst als vernünftige Verwalter, wohl deswegen, weil ihnen noch der Schreck des Krieges in den Gliedern steckte. Außerdem waren die Überlebenden sensibilisiert und achtsam. Aber schon in den 1980ern spielten sich die „Diener“ des Staates und seiner Menschen zunehmend als Herren auf, indem sie auf den Willen der breiten Massen „pfiffen“, vermutlich deshalb, weil sich die PolitikerInnen allmählich zu den Profiteuren des Systems entwickelten und dieses tatkräftig zu forcieren gedachten? Wer, wenn nicht Ex-PolitikerInnen konnten nach dem Ausscheiden aus der Politsphäre mit den lukrativsten Vorstandsjobs liebäugeln? Kein Wunder, dass sie denen zuarbeiteten, die sie später großzügig bedenken würden. Das allein war schon Anlass genug für sie, die Super-Reichen zu schonen.
Heute würde kein Mensch des Untergrunds ernsthaft behaupten, dass beispielsweise den Millionären weniger weggenommen werden dürfe (in der Form einer Steuer), als deren Sekretärin - so geschehen in den Jahrzehnten vor 2012 und kritisiert durch niemand geringeren als US-Präsident Barack Obama und einem seiner Unterstützer, dem Milliardär Warren Buffet(nachlesen kann man alles unter den Links:http://www.handelsblatt.com/politik/international/rede-zur-lage-der-nation-buffetts-sekretaerin-zahlt-prozentual-mehr-steuern-als-ihr-chef/6109240-2.html sowie http://www.wirtschaftsblatt.at/home/international/wirtschaftspolitik/keine-millionaerssteuer-fuer-obama-514470/index.do). Damals verhinderte die Reichen-Clique Amerikas ein gerechteres Steuersystem, weil sie weiterhin erstens begünstigt bleiben- und zweitens die Steuerschlüpflöcher für sich nutzen wollte. Die Macht dazu hatte sie, ihren Willen durchzusetzen, denn in den USA waren die Politiker nichts anderes als die „gekaufte Marionetten“ der Reichen – zumindest stellte sich das für die Europäerin Sieben so dar. Dies deswegen, weil die Konzerne die Wahlkämpfe der Abgeordneten finanzierten und danach Gegenleistungen erwarteten. Viele mögen den Kopf über die Vereinigten Staaten von Amerika geschüttelt haben, weil sie bei sich dachten, in Europa, der Wiege der Demokratie, sei dies sicherlich ausgeschlossen. Wie arrogant sie irrten.
Die Okkupation geschah vor ihren Nasen und doch bemerkten es die Menschen nicht. Die Leute des Untergrundes werden solches eines Tages zu verhindern wissen, schwört Sieben. Wenn etwas zu beweisen wäre, dann müssten die Super-Reichen Zeros, diese verfluchten Nullen - in der zukünftigen Weltordnung nachweisen, wie sie an ihren Reichtum gekommen sind – abgesehen davon, dass eine Obergrenze für Grund- und Geldvermögen gezogen wird. Alles andere wird an die Kleingemeinde gehen (wiederum bis zu einer Obergrenze) und alles darüberhinaus erwirtschaftete erhält die Großgemeinde für gemeinschaftliche Projekte, die der Region und der Weltgemeinschaft zugleich dienen sollen, zum Beispiel soll dieses Geld in die Bildung und Ausbildung investiert werden. Das wird es nicht mehr geben, dass jemand unermässlichen Reichtum anhäuft und sich darauf beruft, dass die Politiker und die Gesetze auf seiner/ihrer Seite waren, das würde in der Zukunft eine ungenügende Begründung sein – etwas wie den TPP (Trans-Pacific Partnership) des Jahres 2012 wird es niemals wieder geben – die Menschen wissen, wohin das geführt hat – zur Herrschaft der Finanzinvestoren. Vielmehr werden Leute, die im Vergleich zu den anderen in der Kleingemeinde unnatürlich große Reichtümer anhäufen, nachweisen müssen, auf wessen Kosten (Mensch? Tier? Natur?) ihr Vor-Teil ging. Den Nach-Teil werden sie ausgleichen- beziehungsweise wiedergutmachen müssen. Die globale Internet-Gemeinde hat es so entschieden.
Im Zweifelsfall wird eine per Zufallsgenerator zusammengestellte Schlichtungsstelle über die Angelegenheit beraten. Die Resultate werden der Kleingemeinde unterbreitet. Dann erst wird entschieden. Dabei hat jedes Mitglied der 5000-Seelen-Gemeinde das Stimmrecht. Stets soll die Basis entscheiden, der Einfachheit halber per Mausklick.
Tatsache ist, dass man 2012 ohne Schwierigkeiten feststellen hätte können, wie die Ungleichgewichte in der Welt seit Jahrzehnten stetig zunahmen, weil sich einige Wenige (die Konzerne, die totalitären Regime, Diktatoren, die sogenannte „post-demokratische“ Polit-Kaste) im großen Stil über die Interessen der vielen anderen hinwegsetzten.
Das Wie, Wen, Was präsentierte sich mit Absicht sehr verworren. Der „Mensch von der Straße“ meinte deswegen, nichts „dagegen“ tun zu können. Das sogenannte „Informationszeitalter“ scheint nachträglich besehen gezielt zur Desinformation genutzt worden zu sein. Die Hintermänner hatten keine geheimnisvollen Beweggründe, sondern waren schlicht unersättlich. Alles wurde aufgebauscht, es wurde sogar manche Nachricht erfunden und später „aufgedeckt“, man glaubte nichts mehr von dem, was man in der Zeitung las.
Nein, die Häufung der Frageworte - „Wer wie wen warum beeinflusst hat, um was für ihn zu tun“ - das ist wirklich kein Mysterium, wiederholt sich Sieben in der Hoffnung, jemand möge ihr glauben und systematische Überlegungen anstellen. Für das EU-Parlament lag es doch auch klar auf der Hand, als es die Lobbyistin und Ex-Monsanto-Mitarbeiterin für einen bedeutenden EU-Posten ablehnte. Leider war die Macht der Konzerne zu diesem Zeitpunkt bereits unermässlich. Das hat keine(r) rechtzeitig durchschaut. Immerhin waren für die Tagebuchschreiberin die Konzerne schon 2012 ein „rotes Tuch“ gewesen, ohne dass sie geahnt hätte, wohin die angefeindeten Zügellosen die Welt manövrierten:
„Die mächtigen Konzerne, die können es sich richten. Die können LobbyistInnen auf die PolitikerInnen ansetzen, um sie zu „überzeugen“, was man durchaus doppeldeutig auffassen darf – die Korruptionsaffären beweisen es.
Dem gegenüber können sich „Ich-AGs“, kleine und mittelgroße Betriebe sowie „einfache“ Leute keine LobbyistInnen leisten, sind daher von vorne herein aus dem Rennen. Auch sie (die „Kleinen“), sind tüchtig, sind klug, haben Ideen, stecken ihr Geld in ihre Unternehmen, gehen das Risiko ein, viel zu gewinnen oder alles zu verlieren. Wer das alles macht, der soll auch mit schönen Profiten belohnt werden. Wenn er/sie alles alleine schafft, gebührt ihm/ihr der ganze Erfolg abzüglich der Steuern. Wenn er ArbeitnehmerInnen/PartnerInnen benötigt, um einen Profit zu erzielen, dann muss er diesen anschließend teilen. Sollte man meinen. Genau hier hapert es. Am Entrichten der Steuer und am Teilen. Anscheinend teilt keiner freiwillig und auch nicht gerecht.“
A propos: „Er“ hat Sieben versichert, in seiner Zeit als „halber Zero“ seine Kanzlei-MitarbeiterInnen sehr gut entlohnt zu haben. Das will sie ihm glauben, denn er ist ein integrer Mann. Außerdem fühlt sie sich außerstande, negativ über ihn zu denken. Nun, andere ArbeitgeberInnen teilten ihre Gewinne nicht so selbstverständlich wie er. Nein, auf Freiwilligkeit kann man keinen Staat bauen. Die Politik ist da gefordert. Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts scheint sie überfordert gewesen zu sein. Oder unfähig. Sieben liest, was sie sich einst dazu überlegt hat:
„Schaut die Gesetzgebung penibel auf gerechte Zustände, dann gibt es keine Probleme in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft. Ein Jeder und eine Jede bekommt seinen/ihren Anteil – und führt einen gerechten Teil als Steuer an die Gemeinschaft ab.
Ich bin betrübt: 2012 ist dem nicht so. Seit Jahren ist es das nicht. Was ist mit der Gesetzgebung nur los? Die Waage steht zu Ungunsten der ArbeitnehmerInnen. Sie haben zwar den Gewerkschaftsbund und die Arbeiterkammern, um für sie zu „lobbyieren“ - so nennt man es neuerdings. Aber leider, leider tut sich nichts Positives.
Nehmen wir einmal die österreichische Arbeiterkammer als vermutetes Beispiel dafür, warum das Lobbying für die ArbeitnehmerInnen nicht funktioniert. Vom finanziellen Hintergrund her ist die Arbeiterkammer verglichen mit den Mega-Konzernen ein „Armutschkerl“ - und vielleicht deswegen ohne Macht und ohne Einfluß. Sie als Lobbying-Unternehmen zu bezeichnen, ist eigentlich ein großer Witz. Wo die ArbeitnehmervertreterInnen auf der Suche nach Gerechtigkeit den Ausgleich fordern (Ausgleich bedeutet, dass man die Gegenseite nicht übervorteilt), streben andere (die UnternehmerInnen) einzig die Profitmaximierung an. Jemanden „ordentlich zu schmieren“ entfällt mangels eines finanziellen Polsters für die „Kleinen Unternehmen“ und für die Arbeiterkammer. Lukrative Posten können die auch nicht zur Belohnung für genehme Gesetze vergeben. Könnte das der Grund dafür sein, dass es den ArbeitnehmerInnen immer schlechter geht? Jedenfalls erreichen ihre Interessen-Vertretungen so gut wie nichts für ihre Klientel. Anders wäre es wahrscheinlich, wenn man „schmieren“ könnte.
Nein. Ich sehe gar nicht ein, warum ich mir mein Recht erkaufen soll, weil es im selben Augenblick kein Recht mehr wäre. Andere „Normalos“ bezeichnen diese Verweigerung als Dummheit – und gerade das ist wahre Dummheit oder wenigstens Kurzsichtigkeit, erreichen sie doch mit ihrem beschränkten „Bakschisch“ selbst sehr wenig. Da rümpfen die Verwöhnten nur ihre arroganten Nasen und freuen sich höchstens über ihren Machtzuwachs, der sich in der Erniedrigung der Schmierenden offenbart.“
„Er“ kennt Siebens Einstellung sehr genau. Einmal meinte er, ihre Trotzigkeit imponiere ihm. Da wurde sie zum zweiten Mal auf ihn aufmerksam. Er hätte sich vom ersten Augenblick an an ihrer kraftvollen Persönlichkeit erfreut und hätte ihren intelligenten Humor genossen, erklärte er mit derart ernsthafter Miene, dass Sieben den aufkeimenden Verdacht, er wollte sie veräppeln, sogleich fallen ließ. Nichtsdestotrotz stand sie irgendwie schüchtern und stumm vor ihm, grübelte insgeheim, ob er tatsächlich sie meinen konnte. Sie hatte eigentlich keinen Humor, fand sie. Er verfolgte indessen gebannt ihr wechselndes Mienenspiel, was sie noch mehr verunsicherte. Eigentlich fand sie selbst sich wirklich nicht geistreich und auch nicht witzig (ihn hingegen schon - aber das würde sie ihm nicht gleich unter die Nase binden. Genausowenig würde sie ihm später - sobald sie ihn besser kennen würde - verraten, dass sie seine Art, wie er an die Dinge herangeht, mächtig anzieht).
Siebens Humor besteht aus ihrer Sicht einzig darin, dass sie ihre „Pflanzereien“ lieber versteckt, als grobe Witze zu reißen. „Meinethalben“, meinte sie daher gönnerhaft und ein wenig neckisch, wenn er das als intelligent werten wollte, sollte es ihr recht sein. Sie konnte und wollte ihm zu diesem Zeitpunkt kein Kompliment „zurückgeben“, weil sie ihn bis dahin auch nicht besonders beachtet hatte. „Aha“, dachte sie nur irritiert, „da ist Einer, der mir schmeichelt“. Für sie war klar, dass er irgend etwas von ihr wollte. Sie würde früh genug erfahren, was das wäre, tat sie mit einem Achselzucken ab – natürlich machte sie sich selbst etwas vor, aber weiter denken mochte sie nicht. Wozu auch? Was sollte sie auch gegen solche Harmlosigkeiten einzuwenden haben? Im Gegenteil. Es war eine nette Abwechslung. Ihr Ehemann Cello sparte nämlich mit den Komplimenten für seine „Teure“, als könnte er sie sich nicht leisten. Solle „er“ ihr ruhig weiterhin „Honig ums Maul schmieren“. Diese Art von Schmieren hat Sieben nicht gemeint, als sie 2012 in ihrem Tagebuch vor sich hin ätzte:
„Viele Menschen „schmieren“ widerwillig, aber sie tun es, weil sie sich vor den willkürlichen Zurücksetzungen durch die Machtträger (PolitikerInnen, BeamtInnen) fürchten. Es fiele ihnen jedenfalls nie ein, gegen die „Obrigkeit“ vorzugehen. Als Konsequenz verarmt die arbeitende Bevölkerung mehr und mehr. Die Verarmungstendenz wird noch durch die Politik massiv verstärkt, denn die von ihnen beschlossenen Gesetze begünstigen nur die Reichen alias die Unternehmen – was die Arbeiterkammer Österreichs vergeblich kritisiert. Für die PolitikerInnen scheint es sich nicht auszuzahlen, Arbeitnehmer-freundliche Gesetze vorzulegen, durch die der Wert der Arbeit gerecht entgolten werden soll.
Es ist müßig zu fragen, warum gerade die ohnehin schon mächtigen Konzerne beziehungsweise die Super-Reichen noch vorteilhaftere Gesetze anstreben. Trotzdem beantworte ich mir die Frage, damit ich es Schwarz auf Weiß vor mir sehe: Sie wollen noch mehr Geld und noch mehr Macht. Sie haben nie genug. Ihr Begehr hat einen schlichten Namen: Gier.
Dieselbe Gier treibt ihnen viele PolitikerInnen in die Hände. Schließlich kommen manche LobbyistInnen nicht mit leeren solchen (wie könnte es anders sein: es gilt die Unschuldsvermutung). Und schließlich weiß doch jedes Kind, dass sich die Gier nach Reichtum und Macht nicht mit redlichen Mitteln befriedigen lässt. Sonst wären Milliarden von redlich und fleißig arbeitenden Menschen allesamt reich und mächtig. Was tun denn die anderen, damit sie zu dem Super-Reichtum gelangen? Den Gierigen bleibt keine andere Wahl, als sich der Korruption zu bedienen, wenn sie mit der anständigen Überzeugungsarbeit nicht weiterkommen. Heutzutage sind die Ressourcen knapp, da „müssen“ sie erst recht nach jedem „Strohhalm“ greifen. Mit Geld geht alles, so scheinen die Finanzstarken zu glauben. So oder so, sie kaufen sich den Weg frei.
Die zweite Option auf dem Weg zu Reichtum und Macht sind die gewinkelten Verträge, an deren Erstellung ausgefuchste, bestens bezahlte Anwälte beteiligt sind. Konzerne lieben und nutzen sie schon lange.“
Sieben liebt auch, jedoch nicht Verträge. Ihre Familienmitglieder und Verwandten liebt sie zum Beispiel einfach deswegen, weil sie ein Teil von ihr sind. Sie liebt die Kinder und Jugendlichen der Untergrund-Gemeinschaft, weil sie in ihnen die Zukunft sieht. Die Freunde und Freundinnen liebt Sieben, weil sie allmählich zusammengewachsen sind. Die verlorenen Haustiere liebt sie und trauert um sie. Sie liebt das üppige Grün ihrer Heimat, die schönen Seen und Flüsse, und viele andere Dinge.
Ganz anders liebt sie - ja, mittlerweile gesteht sie es sich selbst ein – sie liebt und begehrt den Mann, der ihr unverdrossen nachstellt, obwohl sie seine Werbung in den ersten Jahren mehrmals ausgeschlagen hat. Sieben nennt ihn bei sich nur „Er“, weil sie fürchtet, im Schlaf womöglich seinen Namen zu seufzen. Sie ist frustriert, leidet, sehnt sich seit Jahren immerzu nach seiner Nähe. Das war nicht immer so. In den ersten Monaten im Untergrund nicht. Auch konnte sie da noch nicht ahnen, welche Bedeutung er für sie noch bekommen würde.
2020 war „seine“ Gefährtin im Kampf gefallen. Seitdem sucht er Siebens Nähe, hat ihr sogar mehrmals das Leben gerettet. Sein Durchhaltevermögen imponiert ihr ohne Frage. Dahinter erkennt sie heute seine beständige Liebe, obwohl er nie „die drei Worte“ dezidiert ausgesprochen hat – aber viele Worte macht dieser Mann ohnehin nicht. Seine Rolle als „Lonesome Fighter“ spielt er gut. Das macht ihn für manche undurchschaubar und interessant. Zwei von Siebens Freundinnen waren an ihm interessiert und fragten Sieben rundheraus, ob sie wirklich keine Absichten in „seiner“ Richtung hege, denn in diesem Falle würden sie sich um ihn bemühen. Sieben schüttelte unwillig den Kopf und meinte bissig, sie mögen tun, was sie nicht lassen könnten. Einige Wochen danach unterstellte „er“ Sieben mit einem Glucksen in der Stimme, sie hätte ihn durch ihre Freundinnen auf die Probe stellen wollen. Tatsächlich fände er das erfreulich. Der Versuch, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, verlief im Sande. Ach, zum Kuckuck! Sollte er doch denken, was er wollte, dachte sie konsterniert und um Worte verlegen. Er machte sie immerzu verlegen, ärgerte sie sich damals. Nun, wenn sie ehrlich ist, so muss sie nachträgliche zugeben, dass sie die Entrüstung nur spielte – und zwar sich selbst vorspielte.
Wenigstens gestand sie sich ein, dass sie an dem Mann etwas ungeheuer faszinierte, sie konnte nur nicht sagen, was. Sieben selbst ist wortkarg, daher ist seine Schweigsamkeit keine Besonderheit für sie. Es muss neben seiner ruhigen und bestimmten Art noch etwas anderes an ihm geben, was sie anziehend findet. Aber was? Darüber grübelt sie seit geraumer Zeit. Die graumelierten Schläfen vielleicht? Nein, das kann's nicht sein, weil Sieben sie kaum zu Gesicht bekommt. Er ist selten ohne Kopfbedeckung anzutreffen. Wenn doch, dann würde Sieben „seine“ beginnende „Skalplosigkeit“ sexy finden. Zum Glück wäre genug Schwarzhaar da, in dem sie bei Gelegenheit ihre Finger vergraben könnte. Sie zieht die Luft durch die Zähne – verlockende Szenen spielen sich in ihren Gedanken ab. Ob er sich auch solche Vorstellungen über sie macht? O ja. Ganz sicher tut er das. Sieben steckt ihre Zungenspitze zwischen die Zähne und beißt darauf in der vagen Hoffnung, ein Schmerz lasse sich mit einem anderen überdecken.
Als „er“ ihr zum ersten Mal das Leben rettete, dachte Sieben noch an einen glücklichen Zufall. Aber an so eine Häufung von Zufällen glaubte sie irgendwann nicht mehr. Vielmehr hat sie heute den Verdacht (oder hegt die Hoffnung), er verbringe heimlich seine Freizeit nah bei ihr - manchmal ist ihr so, als fühle sie seinen Blick auf sich ruhen. Er behält sie sozusagen im Auge, während er ein Auge auf sie geworfen hat – wie gut, dass er zwei besitzt, hebt Sieben belustigt die Augenbrauen, blinzelt beglückt der Sonne zu, weil sonst niemand da ist, den sie anstrahlen könnte. Ihr gegenüber verhielt er sich stets als „Gentleman der alten Schule“. Wenn auch klar ist, dass Sieben hier ein männliches Stereotyp beschreibt, so hat es doch den Vorteil, dass er bisher nie zudringlich geworden ist in seiner Werbung. Ein wenig hartnäckiger ist er schon geworden, seit er sich über Siebens Lebenssituation Klarheit verschafft hat, was ihm als dem Privatdetektiv des Untergrundes nicht schwer gefallen sein dürfte. Seitdem umgarnt er sie frontal. Ihre Ausflüchte, sie sei schon seit „Ewigkeiten“ verheiratet, lässt er nicht gelten. Gerade das lässt ihn, den langjährigen Einzelgänger nachsichtig schmunzeln. Spätestens nach dreißig Ehejahren hätte man zwar nach wie vor Verantwortung und müsse Rücksicht nehmen, aber man bliebe seiner Auffassung nach nur noch aus „lieber Gewohnheit“ in der Ehe, zwinkert er Sieben zu. Er würde nicht aufgeben, verkündete er mehrmals. Nicht, nachdem er sie endlich gefunden hätte. Also wo sei das Problem, will er wissen. Sieben weiß es nicht, weiß gar nichts, wenn er ihren Blick gefangen hält. Deshalb reißt sie sich spätestens bei dieser Frage von seinen Augen. Manchmal wirken sie dunkel, hypnotisch, gefährlich. Ein nüchterner Mensch würde sagen, der Mann sei schlicht kurzsichtig, und es sei normal, dass sich die Pupillen bei schlechtem Licht weiten. Aus Siebens Sicht hingegen haben diese Augen etwas Faszinierendes an sich. Sie verfolgen sie bis in den Schlaf.
Da liegt sie nun auf dem staubigen Boden und träumt mit offenen Augen von einem seiner zahlreichen Besuche. Sie zwingt sich, an etwas anderes zu denken. „Zwingt sich“? Wie? Sie zwingt sich, in seiner berückenden Gegenwart, ihre Hand nicht an die typische Rundung der stoppeligen Wange zu legen. Er tut es bei ihr ohne Scheu, umfasst die linke Seite ihres Halses - sie schließt die Augen, sobald sie seine Berührung, seine Wärme spürt, neigt sich ein wenig dieser Hand zu. Er streicht mit dem Daumen sanft über ihr Kinn, zieht die Kontur ihrer Unterlippe sehr langsam und federzart nach. Das aufkeimende „Was auch immer“ velangt, dieser Spur zu folgen. Sie wendet ihm ihre Lippen willig zu. Als hielte er einen Sekt-Kelch, so hebt er ihr Gesicht ein wenig an, mit sanftem Druck presst er seine Lippen auf ihre, verharrt in dieser Position ein gefühltes halbes Jahr – all ihr Blut scheint an diesen Ort zu strömen, pulsierend und erhitzt vom Verlangen nach ihm. Sieben hält still, wartet womöglich auf mehr davon, weiß aber nicht, woher sie das Recht zu solchen Wünschen nimmt. Er scheint Siebens Zwiespalt zu spüren, oder warum sonst springt er wie von einer Tarantel gestochen auf?
Sieben ist eine erfahrene Frau, aber bei ihm wird sie vollkommen stumm und dumm. Und schwach. Eigentlich würde sie gerne mit ihm eine ganz normale Unterhaltung führen – so wie in den ersten Jahren im Untergrund, bringt aber nur ein Krächzen heraus. Sie erkennt plötzlich, dass er sie durchschaut. Das lässt sie, die harte Kriegerin, peinlicherweise erröten. Er entfernt sich eilig, ohne ein weiteres Wort – und weil sie ahnt, warum er so rasch verschwindet, flattern ihre Nerven. Sie fühlt noch seine Wärme, seinen Atem an ihrem Mundwinkel, wenn er längst weg ist. Jetzt zum Beispiel ist ihr, als wäre er gerade gegangen.
Siebens Freundinnen tadelten sie schon häufig wegen ihrer Zurückhaltung und warfen ihr vor, “ganz schön blöd“ zu sein. Vielleicht ist sie es tatsächlich. „Krude Moralvorstellungen“ schleppe sie unnötigerweise mit sich herum, warfen sie ihr vor. „Ach ja?“, bockte sie. „Ach jaaa!“, riefen drei von ihnen zur gleichen Zeit. Das war ein abergläubischer Anlass, sich „etwas wünschen zu dürfen“. „Rate mal, was wir uns jetzt wünschen!“, nervten sie die frustrierte Sieben. Sie wollte schon fragen: „Für Euch oder für mich?“, ließ es dann aber wohlweislich bleiben. Das Thema wollte sie nicht vertiefen. Das will sie jetzt ebensowenig tun. Fieberhaft sucht sie nach einem nüchternen Thema. Ach, das passt:
Wie konnte sie in ihr Tagebuch schreiben, dass manche die Verträge lieben? Noch etwas verwirrt schlägt sie die Seite beim Lesezeichen auf, setzt die Lektüre fort - und könnte nach den ersten Sätzen nicht wiederholen, was sie da eben gelesen hat:
„Die Wirtschaft, die Justiz und die Politik kann man nicht voneinander losgekoppelt sehen, wenn es um die Ausdehnung der gesellschaftlichen Ungleichheiten geht. Ein begleitender Aspekt dabei ist die Korruption. „Ohne“ ließen diese Drei es höchstens aus Dummheit zu. Das wäre eher verzeihlich als das, was seit Jahren passiert.
Die Regierung bringt Gesetze auf den Weg. Abgeordnete derselben politischen Partei(en) beschließen sie im Parlament – überall sitzen die Leute aus demselben korrupten Nest (namens Partei). In den meisten Parteien ist es vollkommen undurchsichtig, wie Entscheidungen zustande kommen. Basisdemokratie findet man vielleicht in einer von sechs Parteien – demokratische Parteistrukturen sind wenig verbreitet. Wo es keine Durchsichtigkeit gibt, dort wird gemauschelt, dort ist man leichter korrumpierbar.
Tja. So sind die Leute jener Parteien, die wir in das Parlament wählen, damit sie gerechte Gesetze für uns machen. Wen wundert es: Die Gesetzgebung liefert der Justiz nicht ausreichend Handhabe zum Durchgreifen gegen die Korruption und nicht für Gerechtigkeit bei der Verteilung der Güter.
Lange Zeit haben die Menschen Mitteleuropas der Justiz mehr vertraut. Doch verschiedene Skandale zeigen uns heute: Die österreichische Justiz könnte mittlerweile von Leuten unterwandert sein, welche sich gegenseitig decken auf dem Weg zu „Dagobert Ducks“ Swimming-Pool (als Beispiel herausgegriffen: Maria Sterkl schrieb am 30.5.2012 „Die Klage der alten Dame“ im Standard über involvierte Burschenschaftler; der KURIER schrieb am Mittwoch, dem 25.7.2012 über die „Stiftungsaffäre. Gericht versetzt FPÖ weiteren Dämpfer“). Es gilt natürlich die Unschuldsvermutung für alle noch nicht Verurteilten. Ihre Ausreden verbrämen diese Leute mit diversen Ideologien, um ihre Gier zu kaschieren: innerhalb ihrer Kreise verbreiten neuerdings manche das Credo, den ungeliebten demokratischen Staat, der ihnen erstens Schranken setzt oder den sie zweitens von Anfang an ablehnten (wie dies zum Beispiel die Alt- und Neo-Nazis und radikale Islamisten zweifellos tun), mit seinen eigenen Waffen zu schlagen: mit seinem Rechtssystem. Darin wurde der „Vertrag“ als probates Mittel entdeckt. Der erweckt den Anschein, dass alles rechtens sei, anders als beim bloßen „Schmieren“ - ist wohl ordinär aus dieser Perspektive. Aus der Sicht der „einfachen“ Leute ist es zum Verzweifeln.“
Sieben ist gewissermaßen auch verzweifelt, wenn auch diesmal aus einem anderen Grund - weil nämlich „er“ ständig in ihren Gedanken herumgeistert. Sie versucht, an Cello zu denken. Das wirkt. Warum nur hat das Schicksal in den ersten Kriegsjahren die Ehegatten immer öfter räumlich getrennt? Wenn man sich so selten sieht, führt das unweigerlich zur Entfremdung.
„Er“ hingegen ist fast immer für sie da. Es kommt ihr schon wieder so vor, als schiebe jemand (Amor vielleicht? Shakespears Puck?) ein durchscheinendes Foto „seines“ Antlitzes zwischen sie und ihr altes Tagebuch. Das hält sie nicht ab, weiter zu lesen, denkt sie trotzig. Was sonst sollte sie auch gegen die gedankliche und gefühlsmäßige Infiltrierung durch „ihn“ unternehmen?
„Das Volk ist Politiker-verdrossen. Trotzdem begehrt es nicht vehement auf. Warum nicht, obwohl die Zukunft düster scheint, nachdem nachhaltige Konzepte fehlen? Ich denke, die Leute geben auf. Vermutlich stehen viele Menschen fassungslos vor der schamlos gezeigten Gier. Andere überlassen es (vorerst) ihren gewählten VertreterInnen, alles ins Lot zu bringen und Zukunfts-Visionen vorzustellen. Dank der Errungenschaften der kämpferischen VorfahrInnen, geht es den meisten noch so gut, dass sie vielleicht denken, es renne ihnen ja doch nichts davon. Daher bevorzugen sie es, abzuwarten und Tee zu trinken. In meinem Fall ist es Fair-Trade-Kaffee (der auch nicht so fair ist, wie es sein Name verspricht), was am Grundproblem leider auch nichts ändert.“