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Der kleine Bernd

Mein Vater machte sich aus dem Staub, als ich zwei Jahre alt war. Zumindest war das die offizielle Version. In Wahrheit hatte er nicht seiner Familie, sondern seinem Land den Rücken gekehrt. Wir lebten damals in Milzau, einem Dorf in der Nähe von Merseburg in Sachsen-Anhalt. 1958, noch vor dem Mauerbau, hatte mein Vater Republikflucht begangen und sich in den Westen abgesetzt. Meine Mutter, die mit uns, ihren beiden Söhnen, in der DDR geblieben war und auf eine Gelegenheit wartete, ihrem Mann zu folgen, musste verschärfte Beobachtung und Repressalien fürchten, wenn bekannt würde, dass sie in die Fluchtpläne meines Vaters eingeweiht gewesen war. Also hieß es, mein Vater sei abgehauen und hätte Frau und Kinder sitzen lassen.

Meine Mutter, mein dreizehn Monate jüngerer Bruder Carlo und ich lebten bei unserer Oma väterlicherseits. Ungefähr ein Jahr nach meinem Vater machte sich auch meine Mutter mit uns auf in den Westen. Es war kurz vor Weihnachten, »Wir besuchen Freunde in Berlin«, hieß es.

Aus Angst, ihre Jungs könnten sie bei der Grenzkontrolle unabsichtlich auffliegen lassen, erfuhren Carlo und ich das wahre Ziel der Reise nicht. Meine Mutter hatte nur einen kleinen Reisekoffer mitgenommen, mehr Gepäck hätte an der Grenze Aufsehen erregt.

Bei der Grenzkontrolle war meine Mutter sehr angespannt und eingeschüchtert. Carlo und ich spürten ihre Angst, auch wenn wir sie nicht verstanden. Von Berlin flogen wir nach Hannover, mein Vater nahm uns dort am Flughafen in Empfang. Ich lief auf meinen Vater zu, nahm ihn fest an die Hand und sagte: »Jetzt haust du aber nicht mehr ab!« Daran hat er sich bis zu seinem Tod gehalten. Mein Vater hatte Arbeit bei der Union Rheinische Braunkohlen Kraftstoffe AG gefunden. Wir lebten in einer Dreizimmerwohnung in Rodenkirchen bei Köln, Carlo und ich teilten uns ein kleines Kinderzimmer. Ich war ein lebhaftes Kind, neugierig und mit großem Bewegungsdrang. Den Erwachsenen, vor allem den Erzieherinnen im Kindergarten, ging ich manchmal auf die Nerven. Daneben gab es Momente, in denen ich selbstversunken und bedürfnislos in meine Spielwelten eintauchte.

Mit vier wurde ich zum ersten Mal kriminell. Es war im Kindergarten, die Erzieherin hatte mich zur Strafe für ein Vergehen in einem Zimmer eingesperrt. Ich war empört und wütend, fühlte mich ungerecht behandelt. Auf einem Schrank in diesem Zimmer stand eine Tasche, in der Tasche war eine Geldbörse. Ich nahm ein Fünfmarkstück aus der Geldbörse, beseelt von Rachegedanken. Von dem Geld kaufte ich Wundertüten, die ich an die anderen Kinder im Kindergarten verteilte. Bei meinen Freunden kam das gut an, bei den Erzieherinnen und meinen Eltern weniger. Dass ich die fünf Mark auf einer Wiese gefunden hatte, glaubte mir niemand, und als dann das Fehlen des Geldes bemerkt wurde, bekam ich großen Ärger. Meine Eltern waren als Flüchtlinge sehr darum bemüht, sich anzupassen. Ein Vierjähriger, der seine Erzieherin bestiehlt, war ihnen peinlich. Zum Glück für meine Eltern sollte es Jahrzehnte dauern, bis ich das nächste Mal gegen die Gesetze verstieß.

Vor meinem Vater hatte ich großen Respekt. Er war eine eindrucksvolle Erscheinung, beinahe zwei Meter groß, breitschultrig, mit einer lauten Stimme und dominantem Auftreten. Er selbst war ohne Vater aufgewachsen, mein Großvater wurde erschossen, als mein Vater noch ein kleiner Junge war. Auf offener Landstraße, von einer Schauspielerin, die seine Geliebte war. Opa muss ein Lebemann und Hallodri gewesen sein, neben seiner Frau hatte er mehrere Freundinnen. Eine Art Familienerbe, das ich später fortsetzen würde.

Meine Mutter hielt die Familie zusammen und war für die Wärme zuständig, mein Vater für die Regeln und deren Einhaltung. Auch wenn ihm das Wohl seiner Familie über alles ging, war es ihm, wie vielen Männern seiner Generation, kaum möglich, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. In seinen milden Momenten brauchte er nicht viele Worte. Samstags musste ich nach dem »Aktuellen Sportstudio« ins Bett. An manchen Abenden tat er so, als habe er meine Anwesenheit vergessen, trank sein Bier und ließ mich den folgenden Spätfilm ansehen. Am Ende des Films sah er mich verwundert an und sagte: »Du bist ja immer noch hier, jetzt aber ab ins Bett.« Dann gab ich ihm einen Kuss auf die Stirn, ein Augenblick größtmöglicher Nähe zwischen uns. Sein Atem roch nach Bier. Ich mochte den Geruch sehr. Einer seiner liebsten Wahlsprüche war: »Dummheit frisst, Intelligenz säuft.« Keine Ahnung, wie ernst es ihm damit war.

Früh begeisterte mein Vater meinen Bruder und mich für den Sport und den Wettkampf. Auf spielerische Weise vermittelte er uns Freude an der Leistung. Er veranstaltete für seine Söhne Olympische Familienspiele im Garten hinter dem Haus, wir maßen uns in verschiedenen Disziplinen, Sprint, Weitsprung, Ballwerfen. Jeder von uns bekam die gleiche Anzahl an Preisen, mein Bruder deftige Würste, ich Süßigkeiten. Mal gewann Carlo, mal ich. Zumindest ist das meine Erinnerung. In der meines Bruders hat er so ziemlich alle Preise abgeräumt.

Für meinen Vater waren Leistung und Selbstbehauptung enorm wichtig. Er hatte Jurist werden wollen, aber in der Nachkriegszeit war ihm ein Jurastudium verwehrt geblieben. Er musste Geld verdienen und nahm eine Stelle als kaufmännischer Angestellter an. Beruflicher Aufstieg aber war ohne Studium schwierig, immer wieder wurden bei Beförderungen Kollegen vorgezogen, die ihm statt beruflicher Kompetenz nur einen Universitätsabschluss voraushatten. Das hat zeitlebens an ihm genagt. Mit großem Fleiß, Arbeitseinsatz und Wissbegier versuchte er, dagegenzuhalten. Unser Haus war angefüllt mit Büchern und Zeitschriften. Mein Vater hatte den Spiegel abonniert und Christ und Welt, weiter auseinander konnten zwei Zeitschriften in ihrer politischen Ausrichtung kaum liegen. Ihm, der aus einem repressiven Staat mit Denk- und Sprechverboten geflohen war, lag viel an gedanklicher Freiheit.

Anders als mein Bruder begeisterte ich mich früh für das Lesen. Mit sieben oder acht bekam ich mein erstes Buch geschenkt, Märchen dieser Welt. Ich war wie elektrisiert, all die Bilder in meinem Kopf, die fremden Welten, die ich erkunden, die Abenteuer, die ich erleben konnte! Bücher öffneten mir die Welt. Sicher, auch Fernsehserien wie »Flipper« oder »Bonanza« begeisterten mich, aber es gab ja nur zwei Programme und nur wenige Fernsehstunden am Abend. Die Bücher dagegen luden mich rund um die Uhr ein, mit ihnen auf Reisen zu gehen. Bei schlechtem Wetter saß ich, zur großen Verwunderung meiner Mutter, viele Stunden mit meinen Büchern am Esstisch, regungslos in den Buchstabenwelten versunken. Oft vergaß ich sogar das Essen, die Nutella-Brote, die meine Mutter mir neben die Bücher stellte, hinterließen Flecken auf den Seiten. Las ich ein besonders spannendes Buch, fand ich nicht in den Schlaf, bevor die letzte Seite umgeblättert war.

Mit vierzehn machte ich mich über den Bücherschrank meines Vaters und den Spiegel her. Ich las, was mir zwischen die Finger kam – das Gesamtwerk von Karl May, Bücher von Tolstoi und Dostojewski, Sartre und Camus, Biographien über Napoleon und Michelangelo und Sachbücher über die Nazi-Zeit. Ich war gefesselt, auch wenn ich nicht alles verstand und immer wieder Fremdwörter im Duden nachschlagen musste. Ich begann, die Auseinandersetzung mit meinem Vater zu suchen. Wir stritten über Geschichte, häufiger noch über Politik. Dabei wurde er oft laut, ich hielt dagegen. Mein Vater war ein unduldsamer, manchmal cholerischer Mensch, ich habe sein Temperament geerbt. Am Ende ging es mir wohl darum, mich gegen ihn zu behaupten, eine eigene Identität zu finden, die neben diesem Mann, den ich bewunderte und der mich auch einschüchterte, bestehen konnte. Mir seinen Respekt zu erkämpfen. Er dagegen wollte sich von einem Jungspund ohne Lebenserfahrung nichts sagen lassen und fuhr mir immer wieder über den Mund.

In der Schule legte ich mich immer häufiger mit den Lehrern an. Oft nahm ich aus Streitlust und Neugier eine Gegenposition ein. Weil es mir Spaß machte, den Lehrer zu reizen und, ähnlich wie beim Sport, meine Fähigkeiten zu erproben und meine Grenzen auszuloten. Aber auch, weil ich Standpunkte hinterfragen, die Stärken und Schwächen einer Argumentation erkennen wollte. Vieles war Wettstreit für mich. Manche Lehrer hielten mich für einen nervigen jugendlichen Klugscheißer; andere wiederum, mein Sozialkundelehrer zum Beispiel, honorierten meine Diskussionsfreude mit guten Noten. Zum Glück, denn in naturwissenschaftlichen Fächern war ich ein Vollidiot.

Carlo und ich teilten uns noch als Teenager ein kleines Zimmer, ungefähr vierzehn Quadratmeter groß. Es gab gerade genug Platz für zwei Betten, einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank. Diese erzwungene Nähe war kein Problem für uns, schließlich kannten wir es nicht anders, unsere gesamte Kindheit und Jugend haben wir in einem gemeinsamen Zimmer verbracht. Außerdem trieben wir uns bei gutem Wetter eh draußen herum, auf dem Sportplatz, im Wald oder auf Spielplätzen. Wir waren wie Zwillinge und sahen uns sehr ähnlich. Den größten Teil des Tages verbrachten wir gemeinsam, wir gründeten Banden oder ballerten als Teenager mit unseren Luftgewehren in der Gegend herum. Für unsere Freunde war es eine besondere Attraktion, wenn ich meinem Bruder aus fünf Metern Entfernung eine Zigarette aus dem Mund schoss. Das hatten wir in einem Karl-May-Film gesehen, es hatte uns schwer imponiert.

Gemeinsam trieben wir begeistert Sport, gingen zum Leichtathletik-, Judo-, Tischtennis-, Basketball- und Handballtraining, zeitweise waren wir in fünf Vereinen aktiv. Dafür nahmen wir lange Fußwege oder Fahrradfahrten auf uns. Auch den Konfirmationsunterricht besuchten wir gemeinsam. Als ich wegen einer Verletzung nicht hingehen konnte, beschloss auch mein Bruder, zu Hause zu bleiben. Für ihn eine selbstverständliche Entscheidung, der Pfarrer sah das anders und warf ihn aus dem Unterricht. Daraufhin ging auch ich nicht mehr hin.

Meine Eltern zogen in unserer Kindheit und Jugend häufig um, immer wieder mussten wir unsere Freunde zurücklassen. Besonders schlimm wurde es, als wir 1972 von Eschweiler in unser eigenes Haus zogen, nach Rollesbroich bei Simmerath, ein Dorf in der Eifel, also am Arsch der Welt. Unsere Freunde, unser Bolzplatz, unsere Spielplätze und die Mädchen, die wir heimlich angeschmachtet hatten, dreißig Kilometer weit entfernt. Für Teenager eine Weltreise. Sicher, wir zogen in einen schönen Neubau, umgeben von 10.000 Quadratmeter Grundstück, darauf ein marodes Fachwerkhaus, in dem wir unser Unwesen treiben konnten. Mein Vater hatte sogar ein kleines Schwimmbad neben unser Haus gebaut, und in direkter Nachbarschaft gab es einen Wald und einen See. Aber das interessierte uns nicht, wir wollten unsere Freunde, unsere angestammten Plätze und Straßen nicht aufgeben. Ich hasste die ständigen Abschiede, aber dank Carlo war es auszuhalten. Mein Bruder war da, immer. Er war mein bester Freund, der erste Mensch, den ich am Morgen sah, und der letzte, mit dem ich vor dem Einschlafen sprach. Wir waren ein verschworenes Team. Gemeinsam trotzten wir der Welt.

Gleichzeitig war Carlo immer auch mein größter Konkurrent, nicht nur beim Sport. Bei jeder Gelegenheit wetteiferten wir miteinander, für meinen Bruder war die Tatsache, dass ich ein Jahr älter war und daher ein Jahr vor ihm eingeschult wurde, eine große Kränkung. In unserer Kindheit tröstete er sich mit dem Gedanken, dass ich dann wohl auch ein Jahr früher sterben müsse. Einige Jahrzehnte später sah es lange danach aus, als würde der Alkohol dafür sorgen, dass ich viele Jahre vor ihm abtreten würde. Auch wenn Carlo mich schließlich um fünf Zentimeter überragte, er blieb bei all unserem Wettstreit mein kleiner Bruder, auf den ich aufpassen musste. Ich war vielleicht nicht der Längere, aber der Ältere. Ich mochte es nicht, von ihm getrennt zu sein. Ich blieb ein Jahr länger auf der Grundschule, so konnten wir gemeinsam auf das Gymnasium in Eschweiler wechseln. Als Carlo dann später auf Anraten der Schulleitung das Schuljahr wiederholte, tat ich es im Jahr darauf gleich und der Abstand war wieder egalisiert.

Nach dem Umzug nach Simmerath besuchten wir gemeinsam die Realschule in Monschau. Als ich dann nach der mittleren Reife auf das Gymnasium in Kornelimünster wechselte, begannen unsere Leben erstmalig in unterschiedliche Richtungen zu laufen. Mein Bruder mochte die Schule nicht. Dazu kam, dass er von einigen Lehrern hart angegangen wurde. Außerhalb der Sportplätze und Trainingshallen war Carlo schüchtern und oft unsicher. Ein sensibler Junge, der unter den Schikanen litt. Das Gymnasium in Eschweiler hatte Angst und Züchtigung zum Erziehungsprinzip erhoben, Schläge waren keine Seltenheit. Dort hatten sie Carlo vor allem Schulangst eingebläut, die sich auf der Realschule nicht besserte. Immer wieder blieb er dem Unterricht fern, manchmal für Tage oder sogar Wochen. Ich deckte ihn. Gemeinsam gingen wir morgens aus dem Haus, und während ich im Unterricht saß, vertrödelte Carlo den Vormittag im Café oder am Flipper. Nachmittags fuhren wir gemeinsam wieder nach Hause.

Carlo entschied sich, nach der mittleren Reife die Schule zu verlassen und eine Lehre als Großhandelskaufmann zu beginnen. Wirklich glücklich wurde er mit der Entscheidung allerdings auch nicht, unter anderem, da er morgens um halb sechs aufstehen musste, während ich noch weiterschlafen konnte und mich nachmittags mit Freunden auf dem Sportplatz oder im Schwimmbad traf, während er noch im Betrieb schuftete. Als schließlich seine Leichtathletikkarriere, die er mit Besessenheit verfolgte, Fahrt aufnahm, war das eine Erlösung für ihn. Einige Jahre später erwarb er auf dem zweiten Bildungsweg im Rahmen des Begabtenabiturs auch noch die Hochschulreife.

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