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Absolute Beginner

»Her damit«, sagte ich und griff nach der Flasche. Es war früh am Morgen, kurz vor Schulbeginn. Wir standen an der Bushaltestelle, ein Klassenkamerad hatte eine Flasche Asbach Uralt mitgebracht. Ich war siebzehn Jahre alt und besuchte die Realschule in Monschau. In der Eifel sind die Wege weit, die Haltestelle des Schulbusses war zwei Kilometer vom Haus meiner Eltern entfernt, die halbstündige Busfahrt führte über Serpentinen Hügel hinauf und hinunter. Ich mochte die Schule, sie war idyllisch gelegen, auf einer Anhöhe mit Blick auf die Stadt. Im Sommer kamen die Touristen nach Monschau, darunter viele hübsche Holländerinnen, die wir mit großen Augen sehnsüchtig anstarrten.

Alkohol mochte ich nicht. Mein Bruder trank hin und wieder ein Bier nach dem Handballtraining, mir war der Geschmack zuwider. Ich mischte Malzbier darunter. Betrunken war ich noch nie gewesen. Aber hier und jetzt ging es nicht um den Alkohol, nicht um Rausch. Wir scharten uns um die Flasche wie um eine Reliquie. Der Alkohol, der nicht in unsere Hände gehörte, war etwas Fremdes, Verbotenes, Teil einer anderen Welt, der der Erwachsenen. Ich griff sofort zu, während die anderen noch ehrfurchtsvoll staunten. Setzte die Flasche an und trank.

Es war Wettkampf und Mutprobe, ich war ein großer Kerl, Sportler, stark und zäh und ziemlich erwachsen. Eine Flasche Weinbrand würde mich nicht umhauen. Ich nahm die Flasche erst von den Lippen, als sie zu zwei Dritteln leer war. Das sollte mir erst mal jemand nachmachen! Ich hatte mir angewöhnt, meine Unsicherheit mit großspurigem Verhalten zu überspielen.

Stolz und selbstzufrieden machte ich mich auf den Weg die Anhöhe hinauf zur Schule. Mit jedem Schritt überflutete der Alkohol meinen Körper mehr. Schwemmte in meinen Kopf. Mir war, als hätte mir jemand einen Helm aus Schaumgummi übergestülpt, alles fühlte sich irgendwie taub an, vernebelt, aber gleichzeitig warm und weich. Die Kälte des frühen Herbstmorgens spürte ich nicht mehr. Meine Arme und Beine wurden schwer, ich bewegte mich wie in Zeitlupe. Als ich schließlich im beheizten Klassenraum saß, erwischte mich der Alkohol wie ein Hammerschlag. Ich war aufgekratzt, hatte alle Hemmungen verloren. Ich gestikulierte wild und redete auf meine Banknachbarn ein. Einer von ihnen zerrte an meinem Arm. »Bernd, du solltest besser rausgehen«, zischte er mir ins Ohr. Was wollte der von mir, ich fühlte mich großartig! Irgendwann dämmerte mir, dass er womöglich recht hatte. Außerdem wurde mir langsam ziemlich schlecht. Es gelang mir, den Arm zu heben und den Lehrer mit halbwegs kontrollierter Stimme darum zu bitten, mich wegen Übelkeit aus dem Unterricht zu entlassen. Da ich nicht in der Nähe der Schule bleiben wollte, entschied ich mich für die Bushaltestelle im Dorf. Der Weg dorthin führte drei Kilometer durch ein Waldstück.

Ich lief wie auf Autopilot, mein Denken ausgeschaltet, in einem Meer von Weinbrand ersoffen. Ständig fiel ich hin, riss mir die Jeans auf und schlug mir die Knie blutig. Irgendwann versagten meine Beine, Aufstehen, Gehen war unmöglich. Ich kroch über den Waldboden in Richtung Stadt.

Gegen Mittag kam ich wieder zu mir, auf der Bank der Bushaltestelle. Ich stieg in den nächsten Bus nach Hause. Mein Kopf drohte zu zerspringen, mein gesamter Körper schmerzte. Das hier, war ich mir sicher, war der größte Fehler meines bisherigen Lebens. Ich schwor mir, nie wieder einen Tropfen Alkohol zu trinken.

Der gute Vorsatz hielt nur wenige Monate. Als die Mädchen ins Spiel kamen und aus dem Anschauen unbedingt Anfassen werden sollte, war es vorbei mit der selbstverordneten Nüchternheit.

In den Siebzigern gehörte der Partykeller zur Grundausstattung so ziemlich jeden Eigenheims. In der Regel waren sie geschmacklos eingerichtet, kiefernholzvertäfelt, mit bunten Lämpchen oder Lichterketten illuminiert. Uns war das Ambiente herzlich egal. Die Partys, die wir dort feierten, dienten in erster Linie als Vorwand, dem anderen Geschlecht zu Leibe zu rücken. Im Dunkeln, versteht sich, alles andere hätte uns hoffnungslos überfordert. Irgendwann schaltete jemand das Licht aus, und dann griffen wir uns ein Mädchen und küssten es. Die besonders Verwegenen unter ihnen ergriffen auch schon mal selbst die Initiative. Im besten Fall gelang es uns, uns zuvor in eine gute Ausgangsposition zu manövrieren, ein Mädchen in Reichweite, das uns besonders gefiel. Aber genau genommen war es zweitrangig, wen wir küssten, wessen T-Shirt wir hochschoben und wessen BH wir lösten. Die Lippen, die Haut, die Weichheit der Brüste zu spüren, in dieses fremde und exotische Hoheitsgebiet vorzudringen, es zu erforschen, war berauschend, Sinne erschütternd. Und riskant, es verlangte eine Menge Wagemut. Mädchen zogen mich magisch an, aber ihre Fremdheit schüchterte mich gleichzeitig ein. Zumal sie mir in den vergangenen Jahren oft unerreichbar erschienen waren, reifer, erwachsener. Viele gleichaltrige Mädchen hatten Freunde, die ein oder zwei Jahre älter waren als ich.

Schnell fand ich heraus, dass zwei oder drei Bier meine Hemmungen auflösten und mich tollkühn machten. Kein BH-Verschluss, keine Unsicherheit konnte mich mehr aufhalten. Merkwürdigerweise fand ich in den BH-Schalen neben den Objekten meiner Begierde immer wieder auch Papiertaschentücher. Ein Indiz dafür, dass ich nicht der Einzige war, der sich mit Unsicherheiten herumschlagen und vermeintliche Unzulänglichkeiten kaschieren musste. In gewisser Weise eine beruhigende Entdeckung, auch wenn meine Schüchternheit dadurch nicht weniger wurde.

Am Ende solcher Partys waren meine Sinne häufig vernebelt, nicht nur vom Alkohol. Einmal fiel ich auf dem Nachhauseweg in einen Jägerzaun, eine sehr schmerzhafte Angelegenheit. Aber das war eher die Ausnahme. Der Alkohol spielte in diesen Jahren keine große Rolle in meinem Leben. Er schmeckte mir einfach nicht, außerdem bot mein Leben auch so mehr als genug aufregende und rauschhafte Momente. Ich trank nur, wenn es galt, vor einer Verabredung die Anspannung zu lösen und meine Scheu und die Angst vor einer Abfuhr einzudämmen. Selten waren es mehr als zwei oder drei Bier oder ein Whisky-Cola. Bis Brigitte mich verließ.

Brigitte war meine erste große Liebe. Sie saß im Französischkurs neben mir, siebzehn Jahre alt, lange, dunkelbraune Haare, große, dunkle Augen und eine aufregend frauliche Figur. Aber das war es nicht, was mich anzog. Zumindest war es nicht das Einzige: Brigitte war neugierig, klug, leidenschaftlich und voller Energie. Sie wollte die Welt verändern oder zumindest den Teil der Welt, in dem sie lebte. Sie war Klassensprecherin und Schulsprecherin, ich ließ mich zu ihrem Stellvertreter wählen. Ich wollte in ihrer Nähe sein. Und sie beeindrucken: Da ich eine Klasse wiederholt hatte, war ich der Älteste in unserem Jahrgang und somit einer der Ersten, die ein Auto besaßen. Einen VW Käfer, den ich in mühsamer Handarbeit schwarz-gelb lackiert hatte. Ich genoss es, morgens mit quietschenden Reifen auf dem Lehrerparkplatz vorzufahren, bestaunt von den jüngeren Mitschülern. In der zersiedelten Eifel mit ihren vielen kleinen Ortschaften, endlosen, verschlungenen Landstraßen und schlechten Bus- und Zugverbindungen war ein Auto ein Fanal des Erwachsenseins und ein Ticket in die Freiheit.

Dank einer Tankkarte meines Vaters konnte ich im rund vierzig Kilometer entfernten Eschweiler bargeldlos tanken. Irgendwann nahm ich meinen Mut zusammen und fragte Brigitte wie beiläufig, ob sie mich nach der Schule zur Tankstelle begleiten wolle. Als sie ja sagte, konnte ich mein Glück kaum fassen. In den Wochen, die folgten, wurde daraus eine Art Ritual. Zusammen fuhren wir nach der Schule tanken, anschließend aßen wir in einem kleinen Restaurant, wer gerade mehr Geld in der Tasche hatte, zahlte. Wir redeten, Stunde um Stunde. Über Bücher, den Sinn des Lebens, über unsere Sehnsüchte, Pläne und Überzeugungen. Eine Nähe und Vertrautheit entstand, wie ich sie noch nie mit einer Frau erlebt hatte. Ich fieberte den Stunden mit ihr entgegen. Im Restaurant spielten sie immer die gleichen Lieder, darunter »Kung Fu Fighting« von Carl Douglas, die Titelmelodie der TV-Serie »Kung Fu« mit David Carradine. Es wurde unser Lied, dass es außer uns niemand für sonderlich romantisch hielt, störte uns nicht weiter.

Irgendwann sprachen wir auch über Sex. »Der erste Mann, mit dem ich schlafe, sollte Erfahrung haben«, sagte sie. Es sei hilfreich, wenn wenigstens einer von beiden wisse, was er tue. In diesem Moment stieg die Zahl meiner bisherigen Sexualpartnerinnen sprunghaft. Unmöglich, ihr zu sagen, dass ich trotz meiner neunzehn Jahre und bei meinem großspurigen Auftreten noch nie mit einem Mädchen geschlafen hatte! Ich würde mir alle Chancen bei ihr ruinieren. Also log ich. Mit vier oder fünf Frauen sei ich schon im Bett gewesen, sagte ich nebulös. So, als sei die genaue Zahl nicht wichtig. Oder als könne ich die Frauen schon gar nicht mehr zählen, was wohl nicht sonderlich glaubwürdig klang. Ich gab sogar Details aus meinem reichhaltigen, in der Realität allerdings bei Henry Miller, Harold Robbins und in Sexheftchen wie Praline angelesenen Erfahrungsschatz zum Besten. Keine Ahnung, ob ich sie überzeugen konnte.

Das größte Problem, noch größer als meine mangelnde sexuelle Erfahrung, war Brigittes Freund. Er war Holländer, sie sahen sich selten. Waren sie zusammen, litt ich Höllenqualen. Eines Abends hielt ich es nicht länger aus. Es war Samstagabend, am Freitag hatten Brigitte und ich stundenlang telefoniert. Ich wusste, sie würde die Nacht mit ihrem Holländerfreund in einer Diskothek in Roetgen verbringen. Ich fuhr hin. Es gelang mir, Brigitte aus der Disco zu lotsen. Hinter einer Hecke verborgen fielen wir uns in die Arme und küssten uns, zum ersten Mal. Unaufhaltsam, so schien es mir, waren wir aufeinander zugetrieben, wir gehörten zusammen, daran konnte es keinen Zweifel mehr geben. Auf der anderen Seite der Hecke rief der Holländer ihren Namen, seine Stimme klang dumpf, wie aus einer anderen Welt. Seit diesem Abend waren wir ein Paar.

Brigitte stammte aus einer wohlhabenden Familie, sie lebte mit ihrem jüngeren Bruder bei ihrer Mutter in einer weitläufigen, stilvoll eingerichteten Villa. Brigittes Vater war ein erfolgreicher Ingenieur gewesen und hatte zu den Honoratioren der Region gehört. Er starb, als sie acht Jahre alt war. An einem Herzinfarkt, im Urlaub mit seiner Geliebten. Diese Tragödie und der daraus resultierende Skandal hatten Brigittes Mutter geprägt, vor allem ihre Einstellung zu Männern. Mich mochte sie nicht. Zugegeben, ich machte es ihr nicht allzu schwer, mich nicht zu mögen. Ich hatte es mir zum Beispiel zur Angewohnheit gemacht, mit meinem Käfer mit hoher Geschwindigkeit in die Einfahrt zu rauschen und dann eine Vollbremsung hinzulegen, die den Kies spritzen ließ. »Da kommt Bernd mit seinem schwarz-gelben Schwanz«, lautete ihr abfälliger Kommentar. Nein, ich war definitiv nicht der Richtige für ihre Tochter. Zu meinem Glück sah Brigitte das anders. Möglich, dass die Ablehnung ihrer Mutter meine Attraktivität in ihren Augen eher noch steigerte.

Unser erster Sex war schöner, als ich es mir in all meinen hochfliegenden Träumen ausgemalt hatte. Nach Wochen, in denen wir jede freie Minute miteinander verbracht hatten, stundenlang geredet, uns erforscht, angefasst und geküsst hatten, fühlte es sich für uns beide ganz natürlich an, den nächsten Schritt zu gehen, trotz aller Aufregung beinahe selbstverständlich. Nach der Schule fuhren wir zu ihr, um diese Uhrzeit, hofften wir, war niemand im Haus. Das Bett in ihrem Jugendzimmer war ­schmal, aber das störte uns nicht. Wir zogen uns aus, fassten uns an. Mein Herz raste. Meine Großmäuligkeit, all meine angelesene Erfahrung aus Fachmagazinen wie Quick oder Wochenend löste sich auf wie eine Sandburg im Sturm. Das Gefühl der Verschmelzung, ihr so nah zu sein, war überwältigend. Irgendwann hörten wir Schritte auf dem Flur vor ihrer Zimmertür. Aber wir waren in unserer eigenen Welt, zu der niemand Zutritt hatte. Abends entsorgten wir das Laken mit dem verräterischen Blutfleck. Irgendwann, Wochen oder Monate später, fragte Brigitte mich mit einem Lächeln, ob ich doch nicht so viel Erfahrung gehabt hätte, wie ich behauptet hatte.

Der Sex brachte uns noch enger zusammen. Wir richteten uns gemeinsame Zimmer ein, in der größtmöglichen Entfernung zu unseren Familien. Im Keller ihres Elternhauses und auf dem Dachboden des maroden, unter Denkmalschutz stehenden Fachwerkhauses auf dem Grundstück meiner Eltern. Rückzugsräume, in denen wir als Paar lebten und die nur uns gehörten.

Kurz vor dem Abitur wurde Brigitte schwanger. Unmöglich, unseren Eltern davon zu erzählen. Diese Schwangerschaft war unser Problem, und wir würden eine Lösung finden. Ein Kind, das wussten wir, würde unsere Zukunftsplanung auf den Kopf stellen. Außerdem waren wir zu jung, sie gerade achtzehn, ich neunzehn, der Verantwortung für ein Kind fühlten wir uns nicht gewachsen. Ich suchte Rat bei der Telefonseelsorge. Und geriet an einen militanten Christen, der uns mit ewiger Verdammnis drohte, sollten wir das Ungeborene abtreiben lassen. Hilfe fanden wir dann bei Pro Familia. Dort gaben sie uns die Adresse eines Arztes in Maastricht. In den Niederlanden war Abtreibung legal, Mitte der Siebziger im Grenzgebiet der einfachste und oft der einzige Weg. Während des Eingriffes saß ich neben ihr, hielt ihre Hand und fühlte mich ihr auch im Schmerz eng verbunden. Kinder, da war ich mir sicher, würden wir später noch haben. Wir würden unser Leben miteinander verbringen, daran gab es für mich keinen Zweifel.

Nach dem Abitur beaufsichtigte Brigitte in den Sommerferien ehrenamtlich vernachlässigte Kinder aus sozial schwachen Berliner Familien in Ferienlagern des Wohlfahrtsverbandes »Student für Europa – Student für Berlin«. Ich begleitete sie, wann immer ich die Gelegenheit dazu fand. Ich liebte Brigitte. So, wie man vielleicht nur das erste Mal liebt, rauschhaft, kompromisslos, mit unerschütterlicher Gewissheit. Jemals eine andere Frau zu lieben oder auch nur zu begehren schien mir unvorstellbar.

Das Ende kam schleichend. Ich hatte die Anzeichen nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. »Ich habe mich in einen anderen verliebt«, sagte sie. Ich war fassungslos, fühlte mich taub und leer. Meine Welt zerbrach. Sie war meine große Liebe, seit vier Jahren waren wir ein Paar. Unsere Beziehung, unsere Liebe erschien mir wie eine Art Naturgesetz. Wie konnte sie mich verlassen? Unsere gemeinsame Zukunft wegwerfen? Unvorstellbar. Doch sie tat es. Verbannte mich aus ihrem Leben. Schlimmer noch, ich wurde ausgetauscht. Ein anderer nahm meinen Platz ein, das vor allem war mir unerträglich. Dass ich in den vergangenen Monaten unsere Beziehung vernachlässigt hatte, ihre Liebe und Anwesenheit als selbstverständlich angesehen, mehr Zeit beim Sport und mit meinen Kommilitonen an der Universität verbracht und durch meine fehlende Aufmerksamkeit dem anderen möglicherweise erst die Tür geöffnet hatte, erkannte ich erst viel später. Jetzt und hier galt – sie hatte mich betrogen, verraten und tief verletzt.

Den Verlust und die Verletzung betäubte ich mit Alkohol. Mehr noch, ich suhlte mich in diesem süßen Schmerz, inszenierte und überhöhte ihn. Er wurde zu etwas Dramatischem, Poetischem – so konnte ich ihn besser ertragen. Ich erinnerte mich an die Männer in den Büchern von Henry Miller, Jack Kerouac, Jack London oder Ernest Hemingway. Männer, die ich schon als Teenager bewundert hatte und idealisierte. So wollte ich mich selbst sehen; ein Mann, der die Schläge des Schicksals einsteckt, allen Verletzungen einer feindlichen Welt kämpferisch die Stirn bietet, in heroischer Pose und mit einem Drink in der Hand seinem Untergang ins Auge sieht. Kein trauriger verlassener Verlierer; ich war ein Mann, der sich selbst in seiner romantischen, verlorenen Einsamkeit und seinem Schmerz eingerichtet hat. So sollte Brigitte mich sehen. Meine Traurigkeit, Hilflosigkeit und Verletztheit hingegen zeigte ich niemandem.

Für einige Wochen trank ich beinahe jeden Abend, bevorzugt vor aller Augen. Eines Nachts stand ich an der Bar des Malteserkellers in Aachen, vor mir auf dem Tresen mein zweites großes Weizenbier und der vierte Ouzo. Als ich sah, dass Brigitte und ihr neuer Freund die Bar betraten, kippte ich den Rest des Bieres mit einem großen Schluck hinunter, fixierte die beiden und warf das Glas mit einer kraftvollen Bewegung an die Wand neben ihnen. Das Klirren übertönte die Musik. Sie würde mich, meinen Schmerz und meine Wut, nicht übersehen, dafür würde ich sorgen. Ein anderes Mal verfolgte ich beide bis zu Brigittes Wohnung. Als ich sah, dass im Schlafzimmer das Licht aufflammte, formte ich einen Schneeball mit einem hühnereigroßen Stein darin und warf ihn wütend mit großer Wucht in das Schlafzimmerfenster, die Scheibe barst mit einem lauten Knall. Sollten sie doch einen Höllenschreck bekommen. Das war das Mindeste, was jemanden erwartete, der mir meine Zukunft stahl. Nie mehr, schwor ich mir, würde ich der Betrogene sein.

Einige Jahre später zerstach ich der nächsten Frau, die es wagte, mich wegen eines anderen zu verlassen, die Autoreifen und drohte meinem Nachfolger Prügel an. Auch wenn mich in solchen Momenten beständig mein schlechtes Gewissen plagte, stellte ich meinen Jähzorn und mein cholerisches Temperament nie in Frage. Männer, ganze Kerle, das hatte ich nicht nur in meinen Büchern gelernt, waren eben so. Meine Ohnmacht und Angst dagegen passten nicht in mein Männerbild.

Nicht lange nachdem Brigitte mich verlassen hatte, entdeckte ich das Paradies. Zu der Zeit lebte ich zusammen mit Wolfgang, einem Freund, in einer Dreizimmerwohnung in Aachen und studierte Germanistik und Sport. Nach meinem Abitur hatte ich zunächst ein Jurastudium in Köln begonnen, was sich als großes Missverständnis herausgestellt hatte. Ich hielt nur bis zum kleinen BGB durch. Für Jura hatte ich mich entschieden, nachdem ich Billy Wilders Film »Zeugin der Anklage« mit Marlene Dietrich gesehen hatte. Vor allem Charles Laughton als Strafverteidiger hatte mich sehr beeindruckt, seine Eloquenz und Brillanz, wie er elegant im Rededuell mit dem Staatsanwalt focht, Sätze wie ein Florett. Mir schien, vor Gericht ging es weniger um Recht und Unrecht als vielmehr um den verbalen Wettstreit zweier kluger, scharfzüngiger Köpfe. Das gefiel mir. Eine Rolle, die mir meiner Meinung nach gut zu Gesicht stehen würde.

Die Realität sah natürlich anders aus. Das Studium war fade Paragraphenpaukerei, meine Mitstudenten waren erzkonservative Golf-GTI-Fahrer mit Seitenscheitel, Lodenmantel und Aktenkoffer, wir nannten sie Großstadtförster. Rücksichtslose Karrieristen aus der Jungen Union oder von den Jungliberalen, für die Freiheit nur die Freiheit der Stärkeren bedeutete. Ein fremdes Universum, dem ich mich nicht zugehörig fühlte. Im Gegenteil – ich war links, las Lenin und Marx und sympathisierte mit der RAF. Auf meinem Käfer prangte ein »Atomkraft? Nein danke«-Aufkleber, und an meiner Zimmertür stand »Für Bullen verboten«. Nächtelang diskutierten meine Freunde und ich voller Furor über ein anderes, bewussteres, gerechteres Leben. Bei Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss warf ich Farbbeutel auf Polizisten. Zugegeben, es war nicht nur politische Überzeugung, die mich motivierte. Mich reizten auch die Auseinandersetzung, der Trubel, die Aufregung. Mir gefiel es, dem Staat auf die Füße zu treten, in gewisser Weise meine postpubertären Muskeln spielen zu lassen. Dazu kam, dass sich in den linken Kreisen und bei den Demonstrationen häufig ausnehmend hübsche junge Frauen engagierten.

Wolfgang, meinen WG-Mitbewohner, hatte ich kurz nach der Trennung von Brigitte kennengelernt. Eines Abends saßen wir zusammen in einer Kneipe und beschlossen beim Bier, dass uns eine Luftveränderung guttun würde. Möglich, dass Wolfgang mein ausgestelltes Trennungsleid satt hatte und mich auf andere Gedanken bringen wollte. Zumal er, der sich zuverlässig in Frauen verliebte, die nicht einmal seine Existenz zur Kenntnis nahmen, der Meinung war, ich hätte kein Recht, mich zu beschweren. Aachen war zu dieser Zeit ein Stahlbad für testosterongesteuerte, paarungswillige junge Männer. An der größten Uni der Stadt, der TU, kam ungefähr eine Studentin auf hundert Studenten, der Männerüberschuss war also enorm, das Angebot an potentiellen Partnerinnen gering. Wer sich, wie Wolfgang, stets in die umschwärmtesten Mädchen verliebte, hatte denkbar schlechte Karten. Ein Grund mehr, Aachen den Rücken zu kehren.

Nur mit einem Schlafsack, einer Jeans, einer Badehose, drei T-Shirts und Unterwäsche im Gepäck machten wir uns auf die Reise nach Kreta. Zelte oder Rucksäcke waren für Spießer und Neckermanntouristen. Von Hotelzimmern ganz zu schweigen. Schon die Überfahrt mit der Fähre war eine Offenbarung für mich, wir schliefen an Deck, jemand packte seine Gitarre aus, wir teilten unser Bier und unser Essen mit Menschen, die wir gerade erst kennengelernt hatten, als die Sonne aufging, zeigte sich die Silhouette der Insel im Licht des neuen Tages. Konnte das Leben tatsächlich so schön sein?

Kreta erschien mir als Sehnsuchtsort. Wir schliefen in einer Bucht in der Nähe von Paleochora im warmen Sand, das Letzte, was wir hörten, war das Plätschern der Wellen und das Zirpen der Grillen, am Morgen weckte uns die Sonne, über uns der weite blaue Himmel. Ein kleiner Wasserlauf brachte kaltes, klares Trinkwasser aus den Bergen. Ich genoss die Wärme, hatte meist nur eine Badehose oder eine Jeans mit abgeschnittenen Hosenbeinen an. Am Strand trug ich, wie auch die Frauen dort, gar nichts. So etwas hatte ich noch nie erlebt, nackte Frauen, zum Greifen nahe. Wie gesagt, ich war im Paradies angelangt. Wir ließen uns treiben, schwammen im Meer, kifften am Strand, spielten Blitzschach oder maßen uns beim Armdrücken. Da ich durch das Handballtraining über große Schnellkraft verfügte, gewann ich beinahe jedes Mal, sogar gegen Kerle mit Armen wie Baumstämme. Damit machte ich bei den Kretern großen Eindruck.

In der Nähe der Bucht gab es eine kleine Bar, dort aßen wir Joghurt mit Honig und Nüssen zum Frühstück und tranken abends Retsina und Ouzo. Am Alkohol hatte ich mittlerweile Geschmack gefunden, nicht zuletzt, da einige meiner Studentenfreunde eine Vorliebe für erlesene Weine hatten. Eine Flasche Rotwein gehörte zu einem guten Essen selbstverständlich dazu, eine Art Genussverstärker. Im Jahr zuvor waren Wolfgang und ich zusammen mit Freunden zur Weinernte an die Ardèche gefahren, hatten Trauben gepflückt, im Fluss gebadet und den Tag mit einer Flasche Wein ausklingen lassen. Eine traumhafte Zeit.

Ich war gerne unter Menschen, fühlte mich wohl, wenn ich Teil einer Gruppe war, umgeben von Gesprächen und Gelächter. Für die Zuschauerplätze am Rand war ich nicht geschaffen, ich wollte mittendrin sein, den Takt mitbestimmen, die Gespräche mitgestalten, für Stimmung sorgen, lachen, dumme Sprüche machen, mich streiten und versöhnen. Alkohol als soziales Schmier- und Bindemittel kam mir da sehr gelegen. Bier, Wein und gelegentlich ein Schnaps machten mich locker und beseitigten wie schon bei meinen ersten Knutscherlebnissen verlässlich alle Unsicherheiten. Ich war Animateur und Unterhalter, hätte ich in einem vergangenen Jahrhundert gelebt, ich wäre wohl der Geschichtenerzähler oder eher noch der Gaukler auf dem Marktplatz gewesen. Dass es immer genügend Schnarchnasen gab, die froh waren, wenn sie sich zurücklehnen konnten und unterhalten wurden, bestärkte mich in meiner Rolle.

Wenige Tage nach unserer Ankunft auf Kreta hatten wir uns mit dem Besitzer der Bar und einigen einheimischen Stammgästen angefreundet. Wir gehörten zum inneren Kreis. Waren wir besonders gelöster Stimmung, warfen wir die leeren Ouzo-Gläser an die Wand, über die Köpfe der Touristen hinweg. Wir fühlten uns nicht mehr als Besucher, wir gehörten hierher. Der Ouzo, das Werfen der Gläser war ein Ritual, das uns als Gruppe verband, ein Ausdruck von Lebensfreude und Virilität. Eine Szene wie aus einem Hemingway-Roman, großartig! Dazu kam, dass ich nach kurzer Zeit registrierte, dass ich bei den Urlauberinnen ganz gute Chancen hatte – Anfang zwanzig, groß, blond, durchtrainiert und braungebrannt, wie ich war. Ich hatte einige Affären; da die Urlaubsgäste ständig wechselten, war für Nachschub gesorgt. Darunter waren auch uralte Frauen, also über dreißig, was mir sehr gefiel. Sie hatten Erfahrung, von ihnen konnte ich einiges lernen. In Sachen Sex war ich eher ein Spätstarter, doch jetzt nahm mein Sexleben langsam die Form an, die ich mir immer erträumt und zu Beginn meiner Beziehung zu Brigitte lediglich behauptet hatte. Alles in allem eine großangelegte Renovierung meines Selbstwertgefühls, mein durch die Trennung angeschlagenes Ego erholte sich prächtig. Mein Leben war also doch noch nicht zu Ende.

Eines Morgens nach dem Aufwachen war das Paradies rosa. Über allem lag ein rosa Schimmer, über dem Strand, dem Meer, den Menschen, meiner Haut. Aber das hatte nichts Romantisches: In der Nacht zuvor war es nicht beim Wein und bei drei oder vier Ouzo geblieben, ich hatte im Überschwang eine ganze Flasche geleert. Ich erschrak fürchterlich. Der Ouzo hatte mir nachhaltig die Sinne getrübt, ich konnte meiner Wahrnehmung nicht mehr vertrauen. Das war mir noch nie passiert. Irgendwann verblasste das Rosa, und ich beschloss, daraus meine Lehre zu ziehen und in der nächsten Zeit den Ouzo zu meiden. Für den Rest des Urlaubs trank ich nur noch Raki.

Ausgesoffen

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