Читать книгу Die Vielgeliebte - Jörg Mauthe - Страница 8

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Unerwartet von jäh einsetzendem Schmerz überfallen zu werden, von so gräßlichem Schmerz, daß man sich, auch wenn man ein starker tapferer Mann ist, wie ein Wurm krümmen und laut stöhnen muß, ist ein widerwärtiges Erlebnis.

Wenn sich dergleichen aber in einem gutbesuchten Heurigenlokal und zu jener nachmitternächtlichen Stunde ereignet, in der das Publikum endlich dahin gekommen ist, seiner Sinne nicht mehr ganz mächtig und somit gut aufgelegt zu sein – dann tritt zum hilflos machenden Schmerz auch noch die Scham hinzu, aus der Rolle gefallen zu sein und ein ganz und gar unpassendes Schauspiel zu bieten. Vollends schlimm wird die Sache, wenn man, sei’s aus Charakter, sei’s aus beruflichen Gründen, viel Wert darauf legen muß, so wenig Aufmerksamkeit wie nur möglich auf sich zu ziehen. Um Haltung zu ringen nützt da wenig, das vermehrt den Krampf der Kolik nur noch. In einem solchen schlimmen Augenblick will man nur eines, nämlich rascheste Hilfe.

Die anderen Gäste aber, die sich nun um den Stöhnenden drängen, reagieren leider panisch. Einer empfiehlt, den Leidenden in die Seitenlage zu bringen; ein anderer rät, gleichfalls aus vagen Erinnerungen an weit zurückliegende Erste-Hilfe-Kurse, die Füße – oder besser den Kopf? – hochzulagern; einer stürzt zum Telefon, aber das ist von einem Betrunkenen blockiert; die Kellnerin ruft laut, ob vielleicht ein Arzt im Lokal ist, aber gerade diesmal ist natürlich keiner da; um den Telefonhörer, den der Betrunkene nicht aus der Hand geben will, entspinnt sich eine Rauferei; der plötzlich Erkrankte stößt nun bereits dumpfe Schreie aus; manche steigen auf Sessel, um besseren Überblick zu haben …

… und dann kann es, wenn der Leidende Glück im Unglück hat, passieren, daß eine kleine Person mit schneidender Stimme für Vernunft sorgt, die zwei relativ Nüchternsten aus der Menge heraussucht, mit deren Hilfe den sich Krümmenden aus dem Lokal schafft, ihn in ihr Auto verlädt und schleunigst zum nächsten Spital fährt.

»Die Ärzte«, sagte diese kleine Person am darauffolgenden Montagmorgen zu mir, ehe wir unsere Arbeit aufnahmen, »gehören vertilgt. Und in die Spitäler sollte man Bomben schmeißen. Aber große!«

»O je!« sagte ich mißtrauisch, denn ich wußte, was von solchen Mitteilungen zu halten war. »Du hast wieder einmal Krach gemacht?«

»Und was für einen!« sagte sie in einem Tonfall, der darauf schließen ließ, daß sie bei der Ausrottung von Ärzten und der Demolierung von Spitälern bereits schöne Anfangserfolge verzeichnen konnte.

»Na, dann schildere, mein Kind.«

»Sag nicht Kind zu mir. Daß ich dir erzähl …«

Sie hatte also den Mann kurzerhand in ihren Volkswagen verladen, um ihn schnellstens ins nächste Spital zu bringen. Auf dem Weg dorthin war die Kolik oder der Anfall oder was immer so überwältigend geworden, daß der Unbekannte schon mehr tot als lebendig, jedenfalls aber bereits bewußtlos schien. Der Nachtportier des Krankenhauses aber war davon keineswegs beeindruckt, sondern eher geneigt gewesen, die Sache als eine gegen ihn persönlich gerichtete Ruhestörung aufzufassen, hatte umständlich wissen wollen, warum man denn da nicht die Rettung oder den ärztlichen Notdienst gerufen hätte, und schließlich wissen lassen, daß man den Erkrankten ins Ferdinand-Spital am entgegengesetzten Ende der Stadt zu bringen habe, wo erstens sowieso Nachtdienst gemacht werde und zweitens freie Betten vorhanden seien.

»Da hab’ ich dann Krach geschlagen!« beendete die Freundin die drastische Schilderung dieses Vorgangs.

»Mit Erfolg?«

»Meine Krachs haben meistens Erfolg.«

»Ich weiß, ich weiß. – In welchem Krankenhaus hat sich denn diese Geschichte abgespielt?«

»Im Dorotheer-Spital. Na, die werden dort noch eine Weile an mich denken!«

Diese Mitteilung am Montagmorgen freute mich wenig, denn es gehörte zu meinen Gewohnheiten, am Abend eines jeden Montags einen alten Freund aufzusuchen, um in seinem Dienstzimmer ein Glas Rotwein zu trinken und gescheit zu plaudern, ehe wir gemeinsam und gemächlich die Mariahilfer Straße hinunter in die Innere Stadt spazierten; Montage pflegen, wie jeder Berufstätige weiß, von Ärgerlichkeiten erfüllte Tage zu sein – und eben drum hatte ich’s mir so eingerichtet, daß ihnen dergestalt wenigstens ein harmonischer Ausklang sicher war.

Jenes bequeme Dienstzimmer jedoch befand sich im Dorotheer-Spital, und sein Inhaber – und Leiter dieses Krankenhauses – war mein Freund, der Medizinalrat.

Ob sie im Spital ihren Namen oder ihre Arbeitsadresse hinterlassen habe, fragte ich sie besorgt. Nein, sagte sie, oder vielleicht doch, das wisse sie nicht mehr so genau. Ob sie nach dem Portier womöglich auch noch einem Arzt Krach gemacht habe? Und wie! sagte sie. Einem großen Dicken, der ein schwarzes Monokel getragen und vor Arroganz gestunken habe.

Was eine ziemlich zutreffende Charakterisierung des Medizinalrates war.

Die kleine Affäre fügte also den üblichen Montag-Widrigkeiten noch eine weitere hinzu. Zwar war der Medizinalrat nie in meinem Büro gewesen, konnte also nicht wissen, daß es sich bei der Krachmacherin der letzten Nacht um meine Mitarbeiterin handelte, wußte andererseits auch sie nicht, daß ich mit jenem einäugigen Arzt befreundet war – aber wenn sie ihren Namen und ihre Adresse doch hinterlassen hatte, war damit zu rechnen, daß über kurz oder lang auch ich in die Angelegenheit einbezogen würde. Und obwohl es sich im Grunde nur um eine Lappalie handelte, ging’s mir doch den ganzen Tag im Kopf herum, wie und mit welchen entschuldigenden Worten ich sie, falls sie zur Sprache käme, ausbügeln sollte. Ich muß in meiner Kindheit ein Trauma erlitten haben, das mich Zwistigkeiten zwischen mir lieben Personen stets über Gebühr fürchten ließ.

Es war aber dann überraschenderweise der Medizinalrat, der, kaum daß ich abends in einem seiner Lederfauteuils versunken war, das Wort ergriff – und wenn ich sage, daß er es »ergriff«, dann meine ich das auch, denn genauso ging er stets mit Worten um: zugreifend und sie packend, ausschweifend mit ihnen und sie so bald nicht wieder hergebend.

»Kannst du dir vorstellen«, sagte er, während er wie ein Elefant durch die üppige Landschaft seines Zimmers stampfte, »daß ich Beängstigung verspüren könnte? Daß ich in Angstzustände, ja aus Angst geradezu in ein, wenn auch nur sekundenlanges, Koma verfallen könnte? Kannst du dir das vorstellen?«

»Nein«, sagte ich. Ich wußte, daß der Medizinalrat im letzten Krieg als Jagdflieger zweimal abgeschossen worden war, daß sie ihm dafür erst ein Ritterkreuz umgehängt und später aus ähnlicher Ursache noch das Eichenlaub draufgepickt hatten.

»Du kannst es nicht, denn du kennst mich«, sagte er befriedigt. »Und ich konnte es auch nicht, schon seit langer Zeit nicht mehr.«

Später war er dann degradiert, an den Füßen aufgehängt, fast zu Tode geprügelt und schließlich in eine Strafkompanie gesteckt worden; seither trug er ein schwarzes Monokel vor einer leeren Augenhöhle.

»Heute nacht aber hab’ ich Angst gehabt – echte Angst. Man sollt’s nicht glauben.«

Dann, nach dem Krieg, war er zwei Tage und eine Nacht lang mit zerbrochenen Knochen im Steilhang des Mount Cirbiz gehangen, hatte er den zweiten Platz einer Judo-Staatsmeisterschaft (Schwergewicht) errungen und so weiter.

Er war ein Mann von großer Extravaganz, berstend vor Wissen, von lärmendem Wesen und sehr melancholisch; die flache Glasdose auf seinem Schreibtisch enthielt etliche Gelatinekapseln, die, wie er behauptete, mit Zyankali gefüllt waren; ihr Anblick, sagte er, gäbe ihm allerhand interessante und gelegentlich auch köstliche Gedanken ein: Schau dir, sagte er etwa, diese kleinen Dinger an und bedenke, daß in ihnen alles enthalten ist, was du wünschst, das Nichts und die Unendlichkeit, das Absolutum und das endgültige Arkanum! – Ich bin nie dahintergekommen, ob er’s ernst meinte oder ob er mit solchen Bizarrerien nur seinem Drang nachgab, andere zu verblüffen, jenem Drang, der ihn zu einem der begehrtesten Pokerspieler der Welt hatte werden lassen (er ist deswegen oft nach Paris oder New York geflogen, immer angenehm erschöpft zurückgekommen, hat dann umgehend für sein Spital sündteure Apparaturen angeschafft, die ihm von den Beamten verweigert wurden, doch hat er diese Wohltaten jedesmal sorgfältig an die große Glocke gehängt, worauf ihm die Beamten erst recht Scherereien verursachten) – ja, er war stets ein Mann mit vielen Eigenschaften, unter denen Gier und eine ordentliche Portion Narrheit nicht die am wenigsten charakteristischen waren; aber Ängstlichkeit gehörte gewiß nicht zu ihnen.

»Es ist nicht zu glauben«, sagte er und schüttelte den Riesenkopf mit den weißen Stoppeln, »was einem auf dieser Welt nicht alles passieren kann! Zum Beispiel, daß mir ein weibliches Wesen, ich weiß nicht, war es ein Mädchen oder eine Frau, das mir nicht einmal bis zur Brust reichte …«

Er zeigte mit der Hand in eine Gegend, in der sich sein Nabel befinden mochte.

»… daß mir ein solches Geschöpf Angstgefühle verursachen könnte. Kannst du dir das vorstellen? Ist dir schon sowas passiert?«

»Erzähl bitte Genaueres«, sagte ich und war erleichtert, denn er würde anders gesprochen haben, wenn er mich nicht für ahnungslos gehalten hätte.

»Bitte sehr. Und trink einen Schluck – Übung macht den Meister, und vielleicht bring’ ich dir durch allmähliche Gewöhnung doch noch bei, was Rotwein ist. Der Casus ist wirklich exakter Beschreibung wert: Heute nacht also gegen zwei – ich habe wieder einmal hier geschlafen, oder vielmehr: ich schlafe schon seit einigen Wochen hier, denn meine Familie geht mir wieder einmal in unbeschreiblicher Weise auf die Nerven, ja, ich weiß, ich bin ein schwer erträgliches Monstrum, dies ist wahr, gehört aber nicht hierher – wie dem auch sei, heute nacht also gegen zwei erhebt sich draußen am Gang vor meiner Tür, erhebt sich, wie soll ich es definieren: ein Geschrei? ein Getöse? ein Streit? Sagen wir, daß es ein Mordskrawall war, höchst unpassend für ein Institut wie dieses, dem ein Arzt vorsteht, der Schlaf schon deshalb für die beste aller Medizinen hält, weil sein eigenes Schlafbedürfnis ein außerordentliches ist. Ich schlafe gern und tief, und meine Sklaven wissen, daß ich unleidlich bin, wenn ich aus meinen süßen Träumen geweckt werde. Dementsprechend wütend über den Krach vor meinem Zimmer fahre ich auf, sause zur Tür, reiße sie auf – und was finde ich dort draußen vor? Was?«

Der Medizinalrat war, ich bemerkte es verwundert, ziemlich aufgeregt; ich hatte ihn so eigentlich noch nie gesehen. Trotzdem vergaß er auch jetzt nicht seine rhetorischen Kniffe, die er, wie vieles andere, meisterhaft beherrschte: er ließ die unbeantwortete Frage in der Luft hängen, putzte nachdenklich sein schwarzes Monokel – eine Gewohnheit von ihm, die rätselhaft war, denn er sah ohnehin nicht hindurch steckte es wieder vor die Augenhöhle, holte ausreichend Luft und beantwortete seine eigene Frage:

»Ich sah zu meiner Linken die Oberschwester an der Wand lehnen, und zwar bleicher als ebendiese; du wirst nach so vielen Besuchen bei mir vielleicht den Eindruck gewonnen haben, daß es sich bei der Schwester Sigrid um eine ausgesprochene Bestie handelt, und dieser Eindruck wäre richtig, denn die Schwester Sigrid ist wahrhaftig eine solche, ein Dragoner mit Busen, ein Weib aus Eisen, das den Teufel das Fürchten lehren könnte – gottlob, wie ich fromm hinzufüge, denn solcherart werden die Damen und Herren des medizinischen Personals in der Zucht und Ordnung des Herrn gehalten wie in keinem anderen Wiener Spital.«

»Ja, so einen Eindruck habe ich von ihr«, sagte ich.

»Umso besser. Und nun imaginiere bitte weiter, daß diese Oberschwester nach Luft schnappt und der Sprache nicht mehr fähig ist. Denke dir ferner zu meiner Rechten den Portier Brosenbauer, an welchem die Rettungsleute schon so viele Haufen von Blutüberströmten, in Schmerzen sich Windenden und Sterbenden vorbeigetragen haben, daß ihm längst Hornhäute über die Seele gewachsen sind – denke dir diesen Mann in einer Erscheinungsform, in der es ihm vor Wut die Red’ derart in den Hals hinein verschlagen hat, daß er am Rande eines Apoplexus steht. Stell dir ferner einen mazedonischen Krankenpfleger vor, der von unserer Sprache nur die bösen Worte kennt, die ihm der liebe Herr Brosenbauer und die liebe Schwester Sigrid zwanzigmal pro Tag an den Kopf werfen, der aber jetzt vor Glück buchstäblich die Zähne bleckt. Stell dir das vor!«

»Und wo bleibt in diesem Bild der Kranke?« sagte ich.

»Der Kranke? Woher weißt du, daß da ein Kranker vorhanden war?«

»Ich denk’ mir’s halt«, sagte ich und schwor mir, besser auf der Hut zu sein. »In einem Spital? Um diese Zeit?«

»Na ja, ein Kranker war natürlich da. Eine schwere Nierenkolik offenbar oder eine akute Appendicitis. Lag auf der Bahre hinter jenen Vertretern der Spitalsfolklore und war bewußtlos. Und vor alledem stand … ah, ich sage dir!« Das Mammut, viel zu groß selbst für dieses geräumige Zimmer, blieb eine Weile stehen und wiegte sich nachsinnend hin und her; in den Regalen schepperten leise die geschmacklosen, aber massiv silbernen und goldenen Tee-und Kaffeegeschirre, welche dankbare Exoten als Präsente für die Behandlung streng geheimer Krankheiten hinterlassen hatten; in den Fenstern wurde es schon dämmrig, und ich dachte, daß es Zeit würde, endlich die Mariahilfer Straße hinunterzubummeln, um dem ärgerlichen Montag einen harmonischen Abschluß zu geben. Aber der Medizinalrat dachte leider nicht daran; er war begierig, seine Geschichte loszuwerden.

»… Ich sage dir: es hatte dieses Geschöpf, nur wenig über den Nabel reichte es mir, es hatte zu dieser unmenschlichen Zeit von zwei Uhr morgens und in der miserablen Nachtbeleuchtung, die wir draußen haben, etwas von einer Erscheinung an sich. Von einer Erscheinung, jawohl, ich finde kein präziseres Wort dafür, obwohl sich diese Erscheinung in Worten und Wendungen äußerte, die ausgesprochen irdisch klangen und ziemlich bodenständig artikuliert waren, sehr originell, wie ich trotz meiner Verschlafenheit und meines Erschreckens bemerkte, nicht gerade zimmerrein, und in einer Lautstärke vorgetragen, die einem durch Mark und Bein schnitt; es würde mich nicht wundern, wenn der Verputz im Gang seit heute nacht Sprünge zeigte …«

»Na schön«, sagte ich ungeduldig, denn ich begriff noch immer nicht, was den Medizinalrat eigentlich so erregte, »du bist halt von einer nervösen Person beschimpft worden. Trag’s mit Würde, sowas kann schon einmal passieren, auch einem berühmten Mediziner, und wir sollten jetzt endlich …«

»Du verstehst überhaupt nicht, was ich dir erzählen will«, sagte der Medizinalrat. »Laß mich gefälligst ausreden. Wo war ich? Ach ja, bei den Posaunen von Jericho. Trotz dieser Töne also und trotz der unüberhörbaren Ordinärität etlicher Ausdrücke, unter denen der mehrfach wiederholte Hinweis, daß ich ein fettes Arschloch sei, noch vergleichsweise milde war, trotz und bei alldem hatte dieses winzige Frauenzimmer, du wirst lachen, wenn ich es dir sage, etwas Leuchtendes an sich. Eine Aura sozusagen. Einen buchstäblich sinnlich wahrnehmbaren Schein, wenn du willst. Und das war es, was mich erschreckt hat, was mir, glaub’s oder glaub’s nicht, Angst gemacht hat! Ja, ich habe mich vor diesem Geschöpf gefürchtet.«

Ich sagte nichts, denn ich merkte endlich, daß der Medizinalrat nicht, wie so oft, nur ein amüsantes Histörchen erzählen, sondern von einer ernstlichen Beunruhigung berichten wollte.

»Ich habe mich heute den ganzen Tag hindurch, als ob ich nichts Besseres zu tun hätte, mit der Frage beschäftigt, ob gewisse Redewendungen wie die von der glühenden Wut, vom sprühenden Zorn, von der flammenden Begeisterung und so weiter, ob die nicht einen physikalischen Zustand beschreiben, der an dazu besonders disponierten Personen, an Menschen zum Beispiel von einer gewissen gesteigerten Lebensintensität, tatsächlich so etwas wie ein wahrnehmbares Leuchten hervorrufen kann. Bei Heiligen, die ja sicherlich sehr lebendige Wesen waren, gilt das ›leuchtende Antlitz‹ ja fast als Stereotyp; der bekannte Heiligenschein ließe sich solcherart als rares, aber nicht übernatürliches Phänomen erklären. Ich habe mich während meiner medizinischen Laufbahn nie um solche Schwerbeweis barkeiten gekümmert, aber vielleicht tu’ ich’s noch einmal, denn diese Begegnung hat mich beeindruckt, ja, sehr beeindruckt.«

Diese Schilderungen meines Freundes bereiteten mir Freude und große Sorge. Ich freute mich, daß er das Einzigartige am Wesen der in Frage stehenden Person so gut erkannt hatte und davon so überwältigt war. Was er gesagt hatte, stimmte alles, besonders aber seine Erkenntnis ihrer Lebensintensität. Ja, ihre Präsenz war überwältigend: was immer sie tat, tat sie ganz und gar, als täte sie es nur ein einziges, nämlich dieses Mal, ohne Erinnerung daran, daß sie es vielleicht schon früher einmal getan hatte, und ohne daran zu denken, daß sie es vielleicht wieder tun würde. Darum auch war sie durch und durch unschuldig, als stünde sie gänzlich außerhalb von Ursachen und Wirkungen. Auch tat sie alles, was sie tat, ohne Rückund Vorsicht, vielmehr ganz dem augenblicklichen Tun hingegeben: sie konnte zweiundsiebzig Stunden durcharbeiten, ohne auch nur von ihrem Sessel aufzustehen – das bedeutete drei aufeinanderfolgende Nächte ohne Schlaf; aber sie konnte – was sie freilich zu selten tat – gut und ebenso lange schlafen, denn sie benützte den Schlaf nicht als Droge, sondern genoß ihn wie Essen oder Trinken oder das Schwimmen in einem See. Sich zu verstellen, war ihr unmöglich: wenn sie sich freute, zeigte sie es, wenn sie litt, zeigte es sich, und wenn sie zornig wurde – nun, der Medizinalrat hatte es erlebt.

»Leuchten, ein sinnlich wahrnehmbares Leuchten! Sowas wie ein Heiligenschein, verstehst du?« sagte er. »Nicht, daß es sich um eine Heilige gehandelt haben dürfte, nein, so weit gehe ich nicht, eine Heilige würde mich ja wohl nicht einen ausgefressenen Volltrottel nennen und Verbrecher, der die Menschen glatt krepieren läßt, weil er vor Faulheit stinkt und so weiter.«

Warum aber war ich auch besorgt, wenn ich mich doch freute, daß ich diesen Mann, dessen Urteil mir in vielen Dingen wichtig war, mit solcher Anerkennung, ja Begeisterung von einem Menschen sprechen hörte, den ich liebte?

Da ist sie nun wieder, die Frage, um die ich einen Umweg gemacht habe, sooft sie sich mir stellte, täglich also, die Frage, die ich sowenig beantworten kann wie die nach den Umständen und Ursachen meiner sonderbaren Heiligkeit. Nicht danach, ob sie liebte, ging die Frage, sondern nach dem Wie davon; denn ich liebte sie nicht nur als eine Frau, wie fast jeder Mann, der in ihre Nähe kam, sondern auch als der Heilige, zu dem sie mich wider Willen gemacht hatte und dem sie sich ein für allemal so völlig anvertraut hatte, daß er solcherart unausgesetzten Zugang zu der wirklichen Wahrheit eines anderen Menschen fand, was, wie der Mensch nun einmal beschaffen ist, selbst dem Liebenden höchstens augenblicksweise gelingt, auf Dauer aber eben nur dem Heiligen zuteil wird; darum war sie einzigartig für mich, wie das letzte noch lebende Exemplar einer schon längst ausgestorben geglaubten Spezies für einen Naturforscher oder Ethnologen; ich wußte zu jeder Minute, was sie dachte, aber immer hatte sie mit viel unschuldiger Listigkeit schon längst vorher aus mir herausgebracht, was ich dachte, oder wußte sie, wie ich von Mal zu Mal denken würde, um so denken zu können wie ich (daß dem so war, wußte sie hingegen nicht; das Reflektieren war keineswegs ihre Stärke); am Ende liebte ich sie wohl als mein besseres, weil deutlicheres Ich. Ich bin kein glücklicher Mensch, also bin ich sentimental; da ich sentimental bin, suche ich das Glück nicht bei mir, sondern bei anderen. Und sie war, könnte ich heute sagen, mein Glück.

Deshalb war meine Sorge um sie jederzeit fast so groß wie meine Liebe: wie ein Entdecker suchte ich meinen Fund ein wenig geheimzuhalten oder ihn wenigstens davor zu bewahren, von anderen in seiner ganzen Bedeutung erkannt zu werden. Ich war nicht eifersüchtig, niemals, auf keinen, den sie liebte – nicht auf Tuzzi, nicht auf den Fürsten, nicht auf ihren Geschiedenen. Aber ich fürchtete jeden, der ahnungslos und unwissend in ihren Kreis trat und vielleicht nicht genug Liebe mitbrachte, um das Einmalige dieser Existenz zu begreifen und mit uns anderen zu bewahren, sondern es aus Unwissenheit zerstören würde.

Das war, so ungefähr, der Grund, warum mich die Mitteilungen des Medizinalrates mit Sorge erfüllten; seine in jeder Hinsicht schwergewichtige, raumverdrängende und zynische Persönlichkeit wünschte ich nicht in der Nähe meines Geheimnisses zu sehen; ich konnte mir den Medizinalrat nur allzugut als Zerstörer vorstellen; und er kannte mich wahrhaftig gut genug, um mich, falls er’s wollte, in meiner Rolle als Hüter und Heiliger in jedermanns Augen lächerlich machen zu können oder zu peinigen bis aufs Blut.

Alle sind gekommen, alle sind sie da.

Ich lasse mich ein wenig tiefer in die Hand des Silbernen sinken, öffne trotz meiner Benommenheit die Augen und sehe lächelnd die schwankende Silhouette des Mammuts an: Wie falsch habe ich den Medizinalrat eingeschätzt! Und wie sehr habe ich damals sie unterschätzt!

Er zieht fragend die Schultern hoch, aber ich habe ihm nichts mehr zu sagen. Ich schließe die Augen wieder und gehe weiter nach innen und den langen Weg zurück.

Es ist ein interessanter Weg; das eilige Gras der Zeit hat ihn da und dort bereits überwachsen; hier und dort setzt sich an den Tatsachen der vergangenen Gegenwarten schon das Moos der Vergeßlichkeit an. Vieles ist nicht mehr so, wie es damals schien, und ich bin durchaus nicht sicher, daß der Weg wirklich dorthin zurückführen wird, wo er einst angefangen zu haben schien.

Aber das macht nichts: im Nachhinein beginnt alles zu stimmen.

Was jetzt geschieht und noch geschehen wird, ist verwirrend, unsicher und nicht bedeutend.

Aber was schon passiert ist, ist wahr. Die Zeit hat’s in Sicherheit gebracht.

Ja, da staunt man manchmal.

Der Medizinalrat hatte sich eine Zigarre angezündet, und die glühte, wenn er daran sog, in dem nun schon fast dunklen Zimmer auf, bald da, bald dort, als wäre sie sein verlorenes Auge.

»Es war der Auftritt dieser kleinen Furie«, sagte seine dröhnende Stimme, »ein grandioses Ereignis, und wie alle großen Begebenheiten spielte er sich sehr rasch, sozusagen in Sekundenschnelle ab. Nichtsdestoweniger fand das salamandrische Geschöpf Zeit genug, mir auch noch Watschen anzudrohen, falls ich mich nicht umgehend über den Patienten hermachen sollte, und als ich, das rein technische Problem dieser Drohung bedenkend – denn das kleine Ding reichte mir wie gesagt knapp über den Nabel, fragte, wie sie das wohl anstellen würde, schleudert diese winzige Erinnye da nicht einen von den Wartesesseln vor mich hin, springt mit einem Satz hinauf – und wahrhaftig, besäße ich nicht hervorragend funktionierende Reflexe, ich hätte die erste Ohrfeige seit Kindertagen gekriegt!«

»Wie ging die Sache aus?« fragte ich, denn ich wollte ihr ein Ende machen.

»Da ist weiter nicht viel zu sagen. Der Mann wurde operiert, von meinen eigenen Händen, die ja an sich viel zu kostbar für einen Blinddarm sind, aber es war gut, daß ich selbst dranging, denn, das muß zur Unehre des Portiers Brosenbauer gesagt sein, mit diesem Appendix war’s höchste Eisenbahn, allerhöchste. Weshalb man mit Recht folgern könnte, daß besagte kleine Leucht-Furie dem Mann das Leben gerettet hat, einem Mann, der übrigens ein bemerkenswerter Fall ist, nicht in medizinischer Hinsicht, meine ich, sondern in beruflicher. Offenbar ein ganz großes Kaliber auf seine Art.«

»Inwiefern?«

»Erzähl’ ich dir vielleicht ein anderesmal, wenn meine Klatschsucht zufällig gerade größer sein sollte als meine Achtung vor der ärztlichen Schweigepflicht.«

»Auch recht«, sagte ich und stand auf. »Und da nun alles in Ordnung ist, können wir ja endlich gehen?«

»Es ist nichts in Ordnung«, sagte der Medizinalrat. »Nichts.«

Natürlich nicht. Er hatte mir die Szene nicht als Anekdote erzählt wie anderes, was ihm täglich mit seinen Schwestern, die ihn fürchteten, seinen Patienten, die ihn vergötterten, und seinen Kollegen, die er laut verachtete (weshalb sie ihn herzlich haßten), an Kuriosem widerfuhr, sondern er wollte sich mir anvertrauen.

Ausgerechnet er ausgerechnet mir.

Ich versuchte, schwächlich genug, noch einmal auszuweichen.

»O je«, sagte ich, »… nicht in Ordnung? Ist dein bemerkenswerter Patient schließlich doch noch … ?«

»Mit dem ist alles bestens, ich sagte es schon. Aber diese Person: sie ist verschwunden, während der Appendix in den Operationssaal gerollt wurde. Einfach verschwunden, keinen Namen hinterlassend oder sonst einen Hinweis. Ich habe natürlich den Patienten befragt, kaum daß er aufgewacht war, aber er hat sie nicht gekannt, nie zuvor gesehen, wurde von ihr lediglich in einem Heurigenlokal aufgelesen und hierher gebracht – aus und erledigt. Ich habe inzwischen selbstverständlich Fallen aufgestellt, wenn sie anrufen oder in persona hier auftauchen sollte, um sich nach ihrem Schützling zu erkundigen, aber die sind bis jetzt leer geblieben.«

»Du scheinst das sehr zu bedauern.«

»Und du beliebst mich heute partout nicht verstehen zu wollen, guter Freund!« sagte der Medizinalrat wütend. »Bedauern!? Ja begreifst du Idiot denn nicht, was da heute nacht vorgegangen ist? Das passiert mir ja nun wahrhaftig nicht alle Tage beziehungsweise Nächte, daß mich da jemand teils mit deutlich sichtbarer Aura, teils mit Watschendrohungen dazu zwingt, einem Menschen das Leben zu retten! Ist es mir denn wirklich nicht gelungen, dir beizubringen, daß es sich bei diesem furchterregenden Hexengeschöpf um etwas absolut Einzigartiges, schlechthin Einmaliges handeln muß, das einem in solcher Lebendigkeit nur einmal und nicht wieder über den Weg läuft? Wo bleibt deine von uns so hoch gerühmte Einfühlungsgabe?«

»Gelegentlich versagt sie halt«, sagte ich, »vielleicht, weil es sich da um übersinnliche Erscheinungen handelt. Laß uns endlich gehen. Ich habe einen Montag voll Ärger hinter mir und brauche frische Luft.«

Es half nichts. Er kannte mich zu gut.

»Mein lieber Freund«, sagte er, und seine Stimme klang nun gefährlich leise, »ich muß mich heute sehr über dich wundern. Deine Reaktionen sind nicht so, wie ich sie nach langjähriger Freundschaft von dir erwarten darf. Sie gehen daneben; sie sind falsch. Oder sind sie vielleicht gar gefälscht? Es kann nicht sein, daß du mich nicht verstanden und nicht begriffen hast, daß dies das bewegendste Ereignis war, das ich seit – ach, was weiß ich, seit wann erlebt habe. Und doch tust du so, als hätte ich dir lediglich erzählt, daß die Schwester Sigrid mit dem Türhüter Brosenbauer eine Liebschaft hat. Ich werde dich nicht fragen, warum du dich so seltsam verhältst, wenn du mir’s nicht selbst sagst, denn du bist ein so entsetzlich schlechter Lügner, wie du ein recht guter Schweiger bist, und ich will mir deine Freundschaft nicht verderben, indem ich dich zum Lügen zwinge. Aber wenn da etwas verschwiegen wird, was mit jener Person zusammenhängt, dann krieg’ ich’s noch irgendwie heraus aus dir, verlaß dich drauf!«

»Ich glaube«, sagte ich, »daß ich heute nicht mehr in die Stadt gehen werde. Ich bin müde. Vielleicht bin ich deshalb so wenig einfühlsam heute.«

»Verstehst du’s denn wirklich nicht?« sagte der Medizinalrat. »Daß ich mich auf meine alten Tage in diese winzige Höllengeburt verliebt habe und voll Angst deswegen bin?«

Ich fragte sie am nächsten Tag, ob sie wisse, was aus dem Mann geworden sei, den sie da ins Spital geschafft habe, wie es ihm gehe und so weiter. Sie sagte, nein, sie wisse nichts davon und habe auch keine Lust, sich über den Ausgang der Operation zu informieren: »Entweder hält er mich dann von der Arbeit ab, weil er sich bei mir bedanken muß, oder ich müßte womöglich noch zu seinem Begräbnis gehen und kondolieren. Aber was geht denn mich eine wildfremde Witwe an?«

Das war mit der Vernünftigkeit gesprochen, wie sie heute noch in der Wiener Vorstadt, aus der sie kam, zu Hause ist. Und mir war’s recht, des Medizinalrats halber und weil offenbar auch seitens des unbekannten Erretteten keinerlei unvorhersehbare Verwicklungen zu befürchten waren.

Denn Verwicklungen gab’s damals nachgerade genug – oder jedenfalls so viele, daß ich mir der Last, ein Heiliger sein zu müssen, mit zunehmender Bestürzung bewußt zu werden begann.

Die größte Schwierigkeit, die man als Heiliger hat, besteht nämlich darin, daß man von der Macht, die man als solcher hat, praktisch keinen Gebrauch machen darf. Wenigstens sehe ich das so. Denn was wäre das für ein Heiliger, der in das Schicksal seiner Gläubigen eingreift, um es dahin oder dorthin zu wenden, wie er es gerade für notwendig hält? In ein Schicksal einzugreifen heißt, es von sich abhängig zu machen – und das kann doch wohl unmöglich ein heiliges Tun sein?

Nein, ein Heiliger, der seine Funktion ernst nimmt, darf nichts tun, auch wenn’s ihm schwerfällt; seine einzige Aufgabe ist, dazusein. Er darf lediglich hoffen, daß alles schon irgendwie gut ausgehen wird.

Nur einer, der selbst ein Heiliger war, kann ermessen, wieviel Sorgen man in dieser Stellung hat und wie miserabel man sich dabei meistens vorkommt.

Ich glaube nicht, daß sich – außer mir – heutzutage noch irgend jemand den Kopf über die Frage zerbricht, was denn nun eigentlich das Heilige an einem Heiligen ist; das Heilige besitzt derzeit nur einen geringen soziologischen und überhaupt keinen ökonomischen Stellenwert, und was die Träger des Heiligen, also die Heiligen, betrifft, so sind fast alle Funktionen, die sie früher ausübten, von der Sozialgesetzgebung, der neuzeitlichen Medizin, und, soweit Seelisches im Spiele ist, von psychotherapeutischen Beratungsstellen und der pharmazeutischen Industrie zweckentsprechend übernommen worden; und schließlich ist auch das Problem, daß die Gesellschaft (jenes gespenstische Monstrum, von dem keiner recht weiß, was es eigentlich ist) nun einmal aus kollektivpsychohygienischen Gründen eine gewisse Dosis an Verehrungsund vielleicht Anbetungswürdigem benötigt, völlig zufriedenstellend, ja perfekt durch die Massenmedien gelöst worden; deren hauptsächliche, um nicht zu sagen: vornehmste Aufgabe besteht ja darin, der Gesellschaft jene Vorbilder und Devotionsfiguren zu liefern, die gerade gebraucht werden beziehungsweise den aktuellen Trend in idealer Weise personifizieren, Kurzzeitund Wegwerf-Heilige also, die jederzeit zur Hand und anstrengungslos im Gebrauch sind.

Die Öffentlichkeit hat somit derzeit wirklich kaum Veranlassung, sich über die Frage nach dem Heiligmäßigen Gedanken zu machen.

Ich freilich habe mir über sie jahrelang und bis vor wenigen Tagen den Kopf zerbrochen. Denn da ich nun einmal ein Heiliger war, wollte ich immer auch dahinterkommen, warum und inwiefern ich einer war.

Wenn ich durch die Stadt ging oder übers Land fuhr, hielt ich mich oft damit auf, in die eine oder andere Kirche einzutreten, nicht aus Frömmigkeit, auch nicht aus dem Wunsch nach dieser, sondern der Stille wegen, jener unvergleichlichen und endgültigen Stille, die man nur in diesen heiligen Häusern und sonst nirgends findet.

Fast immer waren sie leer, wenn ich sie besuchte, abgesehen vielleicht von kleinen alten Frauen, die so unbeweglich in den Gestühlen kauerten, daß man sie für Teile der Einrichtung hätte halten können, und – gelegentlich – einem Priester, der geduldig in einem einzigen von vielen Beichtstühlen auf einen Sünder wartete.

Diese alten Priester haben mir immer leid getan; es muß, denke ich, schrecklich sein, zwar die Macht zu besitzen, andere Menschen von ihren Sünden freizusprechen, aber keine Chance zu haben, von dieser einzigartigen Macht auch Gebrauch zu machen, sondern untätig zusehen zu müssen, wie sich die Sünden dieser Welt ungetilgt zu riesigen Bergen häufen oder zu einer kritischen Masse verdichten, die irgendwann nicht mehr zu beherrschen sein wird.

Wahrscheinlich ist dieses Mitleid überflüssig, weil die Priester selbst solche Gedanken wohl gar nicht haben, sondern in den Beichtstühlen nur ihre Pflichtstunden absitzen, als Beamte einer zwar höheren, leider aber mit unklaren Kompetenzen ausgestatteten Behörde. Dennoch, oft habe ich das Gefühl gehabt, man sollte den einsamen Männern was Gutes tun, sich hinknien und ihnen irgend etwas beichten, irgendwelche verwickelten und ausgiebigen Sünden, von denen sie ein paar Tage lang zehren könnten. Aber da ich solche Sünden nicht begehe, müßte ich sie erfinden, und das würde von diesen geschulten Spezialisten sicher durchschaut werden; übrigens weiß ich die Worte und Zeichen nicht, mit denen sich ein Gläubiger im Beichtstuhl zu erkennen gibt.

(Und außerdem geht mich das alles ja gar nichts an; im Gegenteil könnte ich ganz zufrieden sein wenigstens mit diesem Ergebnis einer vor langem begonnenen Entwicklung, denn haben nicht solche Männer meine Väter und Vorväter dreimal vertrieben? Haben sie nicht meinen Brüdern im Geiste so übel mitgespielt, wie sie’s nur konnten und solange sie’s konnten? Und würden sie’s nicht wieder tun, wenn sie’s nur könnten? Ich weiß nicht, ob zwischen Abeliden und Kainiten je Liebe möglich sein wird; aber ich, ein Kainit und weiter kein Christ, bin christlicher als sie: Ich habe wenigstens Mitleid mit ihnen. Ob es wohl, nach ihren Maßstäben, eine Sünde wäre, mitleidige Sünden zu erlügen? Ich sollte den Legationsrat danach fragen – als Jesuitenzögling und Jurist müßte er eine so kasuistische Frage beantworten können. Aber dazu wird’s wohl nicht mehr kommen.)

Ich trat als Fremder ein in diese Kirchen, blieb stehen, atmete ihre Stille – die wahre, echte Stille riecht nach Staub, nach Verwelkung und verbranntem Harz, und dann schritt ich, wie ich es gelernt habe, von rechts nach links an den nördlichen Seitenaltären vorbei, blieb vor dem Hochaltar, höflicherweise, eine Weile stehen und ging dann die Südseite entlang zum Eingang zurück.

Auf diesen Wanderungen bin ich vielen anderen Heiligen begegnet.

Sie stehen auf Voluten und Podesten, breiten die Arme aus oder drücken sie ans Herz. Niemals sahen sie mich an, sondern nur still vor sich hin oder auch in einen Himmel hinauf, der, dem Blickwinkel ihrer Augen nach zu schließen, früher viel tiefer herabgehangen sein muß als heute.

Ich betrachtete sie sorgfältig und versuchte, irgendeine Ähnlichkeit zwischen ihnen und mir zu entdecken, fand aber keine.

Meistens kam ich nicht einmal hinter die Gründe ihrer Heiligkeit. Viele wurden wohl einfach nur deswegen heilig, weil sie ihres Glaubens wegen auf besonders komplizierte Manier umgebracht worden waren; zur Erinnerung daran tragen sie die Instrumente ihrer Tötung mit sich herum, Pfeile und Lanzen, aber auch Blattsägen, Steine, Roste sowie Hacken und Kreuze in verschiedenen Ausführungen; einer hat ein Schlachtermesser im Schädel stecken, ein anderer zeigt die Haut her, die man ihm heruntergeschunden hat, ein dritter die Spindel, auf die seine Gedärme gewickelt wurden; auch große Wasserkessel, Giftbecher, Schwerter, Nägel, Mühlsteine und Zangen kommen vor; das ist gewiß eindrucksvoll, meiner Meinung nach aber nicht hinreichend: Diese Leute wußten doch wenigstens, warum sie umgebracht wurden oder sich umbringen ließen, und darin lag doch ein gewisser Vorzug, eine Belohnung vielleicht sogar, die mit dem Begriff des Heiligen nicht recht in Einklang zu bringen ist – du liebe Güte, wie viele sind nicht ebenso oder auf noch viel gräßlichere Weise umgebracht worden und mußten dabei noch die zusätzliche Folter erleiden, nicht zu wissen, warum man ihnen das antat? Und doch brachte sie das nicht einmal in die Nähe der Heiligkeit.

Ich will mich damit nicht an den frommen Märtyrern vergehen – wenn es auch genug fanatische Absonderlinge unter ihnen gegeben hat, die ihrem Tod geradezu nachliefen, so mögen es doch in der Mehrzahl bedeutende und sympathische Leute gewesen sein, sondern will nur sagen, daß ich an dieser Art von Heiligkeit keinerlei Anteil habe; auch zähle ich sowieso nicht zu den Schafen, die ihres Glaubens wegen, sondern eher zu den Böcken, die von Zeit zu Zeit ihres Unglaubens willen vertilgt werden.

Ich lernte freilich auch andere Gattungen von Heiligen kennen, solche, die sich nicht durch ihren Tod, sondern durch ihr Leben empfohlen haben, Heilige der Sanftund Langmut, der Keuschheit und schieren Güte. Sie tragen ein Kindlein auf dem Arm oder einen Lilienstengel in der Hand und sind gewöhnlich nicht aus Holz geschnitzt, sondern aus Gips gefertigt. Im Gegensatz zu den Märtyrern scheinen sie auch jetzt noch bescheidene gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen; darauf deuten jedenfalls die Kerzlein hin, die bisweilen noch zu ihren Füßen flackern.

Aber auch mit diesen Heiligen kann – oder von mir aus: darf – ich mich nicht vergleichen; dazu habe ich mich denn doch zu gut durch die Jahre des Dschungels geschlagen, habe ich Fallen nicht nur zu vermeiden, sondern auch zu legen gewußt; ich bin nicht nur gejagt worden, war vielmehr auch selbst Jäger, o ja, ich bin schon auf meine Rechnung gekommen, ich habe mir schon meine Stücke vom Kuchen heruntergeschnitten, mir meinen Anteil am Sozialprodukt und an den Früchten, gelegentlich sogar eine sichere Beute fahrenlassen, ehe ich selbst gebissen wurde; nicht, daß ich mich deshalb schämen müßte, durchaus nicht, im großen und ganzen habe ich mich ziemlich an die Spielregeln gehalten, gelegentlich sogar eine sichere Beute fahrenlassen, auch nie mehr Verletzungen verursacht, als notwendig waren – aber für die Aneignung von irgend etwas Heiligem oder Heiligendem war da weder Zeit noch Raum.

Nein, die Heiligen in den Kirchen teilten mir nicht mit, was an mir heilig sein könnte, noch auch, wo eigentlich der Punkt ist, an dem irgend etwas – ein Leben, ein Mensch – heilig wird.

Durch die Stille der Kirchenschiffe erholt, sonst aber verwirrt wie zuvor, ging ich dann zurück unter das Dunkel der Westemporen, sah noch einmal hinüber zu dem schwachen Licht aus den unbenützten Beichtstühlen und bat, ehe ich hinaus in den Lärm zurückkehrte, Gott, an den ich nicht glaube, mir die schwere Last abzunehmen, ein Heiliger sein zu müssen.

Ich sonderbarer Heiliger ich.

Immerhin; wenn ich auch nie dahintergekommen bin, was ich mit jenen Heiligen gemeinsam hatte, so kann ich doch definieren, was mich von ihnen zu meinem Nachteil unterschied: Sie dürfen, wenn ihnen Geheimnisse anvertraut werden, in erhabenem oder, je nachdem, gütigem Schweigen, das doch alles ausdrückt, verharren; ich aber mußte darauf jeweils etwas sagen, wenn nicht sogar antworten. Ferner kennt ihre Heiligkeit doch auch Ruhepausen, in denen sie nicht in Anspruch genommen wird; meinen Beobachtungen nach werden die Gläubigen bei ihnen nur zu gewissen Zeiten, des Abends etwa, vorstellig. Und schließlich haben sie ja sonst nichts zu tun, als eben da und heilig zu sein. Mich aber traf’s zu jeder Zeit, während der Arbeit, beim Kaffeetrinken, hinter dem Grüßgottsagen, oft auch durchs Telefon, manchmal unter dem Zeichen der Wichtigkeit, meistens aber nebenbei, ohne Vorankündigung. Und eben in den Tagen vor jener Nacht, in der dem Medizinalrat merkwürdige Leuchtphänomene zuteil wurden, war meine Heiligkeit schon schwer strapaziert worden.

»Der Tuzzi … Glaubst, sollt’ ich?«

»Was?«

»Na ja: ihn heiraten.«

»Will er denn?«

»Glaubst, ich hätt’ vielleicht ihn um seine Hand gebeten oder was?«

»Nein, das nicht, aber …«

»Na eben. – Also: sollt’ ich?«

Ich atmete nach dem ersten Schreck ein wenig auf. Wäre sie entschlossen gewesen, hätte sie »soll ich?« gefragt; sie hatte aber den Konjunktiv »sollt’ ich?« gebraucht, und das bedeutete für einen, der sein Österreichisch gut gelernt hatte, daß sie das Problem noch rein abstrakt betrachtete und von mir nur wissen wollte, ob sie sich’s überlegen sollte, es sich zu überlegen.

Der Legationsrat also …? Nein, überraschend war’s nicht. Ich wußte, daß er sich seit Jahren um sie bemühte, er hatte daraus kein Geheimnis gemacht, ja mich sogar, sobald er meine Relation zu ihr begriffen hatte – und das war ihm schnell gelungen, auf die vornehmste Manier, nämlich die schweigende, um meine Erlaubnis dafür ersucht: Ich habe sie ihm denn auch, hoffentlich ebenso vornehm-diskret, erteilt, obwohl da nichts zu erteilen war und sich Tuzzi möglicherweise nicht einen Pfifferling darum geschert hätte, wäre sie ihm versagt worden; einem Mann wie Tuzzi öffnen sich immer Ausund Umwege; aber er hatte von vornherein auf Geduld gesetzt und auf ein langsames Selbstverständlichwerden dessen, was er anstrebte, nicht aus kühlem Kalkül, sondern weil er es vollkommen ernsthaft meinte; es ging ihm da um Endgültiges, dessen Erreichung er durch keinerlei Sorglosigkeit gefährden wollte. Für mich, den Zuschauer, war sein unermüdliches, leises Werben fast schon zu einem Zustand geworden, an den ich mich gewöhnt hatte, weil er sich kaum zu verändern schien – und drum war ich von der Frage meiner Freundin eben doch überrascht. Was zum Kuckuck hatte den Tuzzi plötzlich bewogen, von seiner Strategie der Geduld abzuweichen?

»So sag schon was!«

»Ich möcht’ zunächst wissen: hat er dir wirklich einen Heiratsantrag gemacht? Expressis verbis – ich meine: einen richtigen, deutlichen?«

»Ha nein! Dazu ist er viel zu diplomatisch. Er hat nur gesagt, daß er mir irgendwann einmal einen machen wird.«

»Und was hast du gesagt?«

»Daß er mir schon nicht davonlaufen wird.«

»Wer? Er? Oder sein Antrag?«

»Das kann er sich auslegen, wie er will.«

Zwei Diplomaten also, die einander gewachsen waren. Dennoch: daß der Legationsrat diese Option, denn um nichts anderes handelte es sich, jetzt schon eingebracht hatte …?

»Wenn das so ist«, sagte ich erleichtert, »dann hast du ja noch Zeit genug, es dir zu überlegen.«

»Ja. Aber soll ich?«

»Ich finde«, sagte ich, »daß dieser Tuzzi ein sehr guter Mann ist, seriös, sauber, zuverlässig, herzhaft, gescheit und ich weiß nicht, was noch alles.«

»Du weißt, daß du nur nein zu sagen brauchst, und ich schick’ ihn stantepede in die Wüste?«

»Ich weiß. Aber das würde er nicht verdienen.«

»Du weißt, daß du nur ja zu sagen brauchst, und ich tu’s?«

»Ich weiß, aber ich sage nicht ja.«

Diese Du-weißt-ich-weiß-Versicherungen waren rituelle Formeln, von ihr seit langem in unsere Gespräche eingeführt und für uns beide von großer Bedeutung: sie bestätigten mir feierlich meine Macht, und ihr, daß ich diese Macht nur in einem alleräußersten Fall anwenden würde. Wir nahmen dieses Responsorium beide sehr ernst, ernster selbst als das Große Ehrenwort, das Kinder einander geben. Ich glaube nicht, daß wir die kleine Liturgie öfter als fünfoder sechsmal verwendet haben; aber wir waren jedesmal sehr befriedigt, wenn wir es getan hatten.

»Du weißt«, sagte ich, »daß ich dir in solchen Angelegenheiten weder zunoch abraten kann. Sie betreffen dich allein, und folglich mußt du schon selbst entscheiden, was du tun willst.«

»Dann wart’ ich ab.«

»Wie du meinst. Übrigens, bei dieser Gelegenheit: ich bin dir für die Bekanntschaft mit diesem Legationsrat ausgesprochen dankbar. Ich mag ihn sehr. Wo hast du ihn eigentlich her?«

»Ach«, sagte sie, »mit dem hab’ ich einmal was gehabt.«

Das war eine Mitteilung, auf die ich so wenig gefaßt war, daß ich sie nur ungläubig anhören konnte.

»Mit dem Tuzzi? Ausgeschlossen!«

»Aber ja doch!« sagte sie ungerührt. »Du kannst mir’s schon glauben. Das war damals, erinnerst dich, in diesem heißen Sommer – du bist damals irgendwo in der Welt herumgeflogen. Ich war in Mariazell, bei einer alten Tante. Und da ist mir der Tuzzi vor der Kirche dort in die Arme gefallen. Hitzschlag oder Kreislauf oder sowas. Naja, bei der großen Hitze damals …«

»Du scheinst eine besondere Begabung für die Rettung interessanter Männer zu haben. Warum hast du mir denn davon nichts erzählt?«

»Hätt’ ich müssen?« fragte sie besorgt. »Entschuldige bitte! Wenn ich gewußt hätte, daß du’s wissen willst …«

»Nein. Du erzählst mir, was du willst, und nicht ein Jota mehr – ein für allemal.«

Auch das waren Sätze aus unseren geheimen Ritualen, öfter gebrauchte, aber dennoch verbindliche, den Bann und die Ordnung unserer Beziehung bekräftigende und darum von uns geliebte Worte.

»Es war eine verrückte Geschichte damals«, sagte sie erklärend. »Er war ja sehr lieb, aber total durcheinander, direkt ein bisserl wahnsinnig – und ich war’s vielleicht auch, wegen der Hitze und weil du so entsetzlich weit weg warst …«

»Sag bitte nicht, daß ich was damit zu tun gehabt habe.«

»Doch! Wenn du nämlich zu lang weg bist, dann werd’ ich schwindlig.«

»Was heißt das?«

»Ich krieg’ dann so ein Gefühl, als ob ich mich an nichts mehr anhalten könnt’. Wie wenn ich mit der Seilbahn fahr’ und seh’ das Seil reißen. Verstehst du?«

Ich verstand es nur zu gut, denn genau das ist der Fluch, der einem Heiligen vorbehalten ist: anwesend sein und zusehen zu müssen.

»Ich versteh’s. Aber ich begreife nicht, daß ich die ganze Zeit hindurch nicht begriffen habe, daß da was war oder ist zwischen euch. – Aber da ihr euch vermutlich gut genug kennt, warum benimmt sich denn der gute Tuzzi dann wie ein schüchterner Anbeter? Und warum mußt du dann erst lange überlegen, ob du ihn heiraten sollst?«

»Du verstehst überhaupt nichts. Ich sag’ dir doch: das in Mariazell war eine idiotische Geschichte – na, das ist ein blöder Ausdruck, denn sie war schon sehr schön auch. Aber jedenfalls war sie total daneben. Er hat mich in seiner Verdrehtheit mit irgenwem, nein, mit irgendwas anderem verwechselt, hat phantasiert – ach, das ist alles so durcheinander gewesen. Und ich hab’ ihn doch überhaupt nicht gekannt.«

»Aber immerhin doch wohl geliebt.«

»Quatsch. Ich lieb’ doch nicht jemanden, den ich nicht kenn’.«

»Ich nehme an, daß du mir mit diesem Axiom einen essentiellen Einblick in die Psyche des Weibes an sich gegeben hast.«

»Was hab’ ich?«

»Vergiß es. Aber nun kennst du ja den Legationsrat wohl besser als damals …«

»Klar. Ich hab’ ihn nachher lange Zeit nicht mehr gesehen, hab’ auch gar keine Lust darauf gehabt – du weißt ja, Verrücktheiten mag ich eigentlich nicht. Dann sind wir einander am Graben zufällig über den Weg gelaufen, mir war’s gar nicht sehr recht, aber ihn hat’s direkt aus der Wäsch’ g’haut, wie er mich gesehen hat! ’tschuldige meine unvornehme Ausdrucksweise, aber genau so hat er dreingschaut. Da hab’ ich lachen müssen und – na ja, dann haben wir angefangen, uns doch noch kennenzulernen.«

»Und da du ihn kennst, liebst du ihn auch?«

»So ungefähr.«

»Und das genügt nicht?«

»Mir schon. Das Komplizierte dran ist nur, daß ich ja viele kenne …«

»… und also liebst?«

»Klar. Das Genie zum Beispiel. Oder meinen Geschiedenen. Von dir selbstverständlich gar nicht zu reden. Und den Lipkowitz …«

»Was? Den auch?«

»Wo er doch dein Freund ist? Und ist er vielleicht nicht ein lieber Mensch, der Fürscht?«

So also stellte sich damals die Lage für mich, den Heiligen, dar: Dem Problem Tuzzi kaum entronnen, war ich schon mitten drin im Problem des Fürsten Lipkowitz-Zweyensteyn. Denn bei der Erwähnung dieses Namens – und durch die Art, in der sie ihn betonte – wurde mir endlich klar, warum der Legationsrat von seiner Linie abgewichen war und die Option auf einen Heiratsantrag gestellt hatte. Und nun lauerte im Hintergrund noch dazu der Medizinalrat, von dem anonymen Appendizitiker ganz zu schweigen.

Ja, damals fing das Heiligsein, das ja gewiß auch seine Vorzüge und sogar Freuden haben mag, entschieden an, ein rechtes Kreuz für mich zu werden.

Irgendwas ist nicht in Ordnung.

Es ist die Stille. Sie ist einfach zu groß nach den Schüssen vorhin. Man hört buchstäblich nichts. Das summende Grundgeräusch, das anfänglich noch aus der Stadt heraufdrang, ist auch verstummt. Der Lärmpegel muß während der letzten Minuten auf Null gesunken sein.

Ich öffne benommen die Augen und sehe, wie etwas Bewegung in die stumm Dastehenden kommt. Sie wenden einander die Gesichter zu, ziehen die Augenbrauen in die Höhe, zucken ratlos die Schultern.

Nur ein Geräusch, ein leises, aber in dieser Stille laut genug, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: jemand gleitet von hinten her durch Ausweichende und an die andere Seite des Silbernen.

Ich drehe mit Mühe den Kopf dahin und sehe, daß es der Horsti ist. Oder der Hansi? Jedenfalls ist es einer der Buben des Silbernen, und anscheinend überbringt er irgendeine Meldung, eine Nachricht oder sowas.

Dann sagt der Silberne – und jetzt, wo endlich einer den Mund auftut, klingt’s, als ob geschrien würde: »Es wird noch ein Zeiterl dauern, meine Herrschaften. Irgendeine Störung dort unten. Wir müssen noch warten. Machen wir’s uns ein bissl bequemer.«

Der Medizinalrat verläßt seine Position, kommt, einen Halbkreis ziehend, herüber, bleibt vor uns stehen und sagt: »Ihm geht’s nicht gut, was?« Ich verstehe mit einiger Verzögerung, daß er den Silbernen gefragt, aber mich gemeint hat. Der Silberne dürfte wohl genickt haben, denn nun hebt mich der Medizinalrat unter dem anderen Ellbogen an, und gemeinsam führen oder tragen sie mich ein paar Meter weit weg. »Setz dich«, sagt der Medizinalrat, und ich gehorche, denn dies ist ein ärztlicher Rat. Ich stelle fest, daß ich nun im Schatten sitze und die schwarze Gruppe da vorne sich zögernd aus ihrer Geschlossenheit löst. Etliche lassen sich auf die reichlich vorhandenen Steinränder nieder, andere lehnen sich an die Stämme kleiner Bäume, hinten zündet der Zwerschina eine Zigarette an.

Es geht mir nicht gut?

Es geht mir sogar sehr gut, so gut wie schon lange nicht.

Es genügt, daß ich die Augen wieder schließe: schon befinde ich mich wieder in der vollkommenen Sicherheit dessen, was gewesen ist.

Die Geschichte vom Lipkowitz ist eine lange Geschichte, und ich bin mir nicht ganz sicher, daß ich alle ihre Teile ordentlich zusammensetzen kann. Einige an ihr sind ziemlich rätselhaft.

Sie jedenfalls, meine – oder auch: unsere – Freundin, akzeptierte den Fürsten vom ersten Augenblick an, obzwar sie in ihrer Kindheit bei den Roten Falken mitgetan hatte und seither – und als Kind der Vorstadt sowieso – mit beträchtlichen Vorurteilen gegen das Reiche und anspruchsvoll Auftretende behaftet war.

»Man sollt’s nicht glauben, daß es so was gibt!« sagte sie, verblüfft und hochachtungsvoll in einem, als sie den Lipkowitz zum erstenmal gesehen hatte.

Ja, man sollte es nicht glauben, daß es sie gibt, aber es gibt sie wirklich immer noch.

Manchmal fährt man, wenn man über Land fährt, an langen Mauern entlang, und hier und da steht zwischen den Mauern ein Schmiedeeisengitter, und man will einen Blick hindurch werfen auf das, was hinter diesen Mauern versteckt ist, aber bei dem Tempo, mit dem das Auto fährt, sieht man nicht viel, höchstens ein Stück Gelb, das zwischen den Bäumen hinter der Mauer durchschimmert; und daraus schließt man dann, wenn man schon wieder vorbei ist, daß dort ein Schloß gestanden sein dürfte.

In solchen von der Gegenwart abgetrennten Schlössern leben viele von ihnen auch heute noch, und öfter als man es glaubt, leben sie dort recht gut. Die Schlösser werden halbwegs instand gehalten, die Gutsbetriebe daneben vielfach musterhaft bewirtschaftet, und die großen Wälder, passende Umgebung sowohl wie solide wirtschaftliche Grundlage, gehören immer noch dazu.

Sie leben abseits der Geschichte, von der sie hervorgebracht wurden und an deren weiterer Produktion sie sich dann maßgeblich beteiligt hatten, abseits auch von dem, was man heutzutage Gesellschaft nennt und was, summarisch gesehen, keine gute, sondern eben nur das ist, was in Wien »a G’sellschaft!« heißt, also eine schlechte – aber sie sind so wenig ausgestorben wie Schnecken bei heißem Wetter. Sie haben sich nur zurückgezogen, in den Schatten der Geschichte, und dort gehen sie nur miteinander um, heiraten sie nur unterund kümmern sie sich nur umeinander. Seitdem in Österreich die Aristokratie of fiziell abgeschafft wurde, leben die österreichischen Aristokraten so exklusiv wie nie zuvor.

Soviel also über den soziologischen Hintergrund meines Schulfreundes Lipkowitz.

Freund? Nicht ganz. Zwar wäre ich seiner ganz gern geworden, und er, wenn ich mich nicht täusche, ebensogern der meine. Aber die Geschichte hat’s verhindert.

Er kam, das ist lange her, erst in der sechsten Gymnasium-Klasse zu uns, weil sie ihn aus einer anderen Schule hinausgeworfen hatten, und blieb dann bei uns auch nur ein Jahr, weil ihm unser Geschichtsprofessor, der ein besonders dummer und selbst für damalige Verhältnisse ungewöhnlich bösartiger Mensch war, wegen »Verächtlichmachung nationalsozialistischen Gedankenguts« die Note verweigerte. Dabei hatte der Lipkowitz gar nichts anderes getan, als nur leise gelächelt, wenn der Trottel auf dem Katheder von den Brandenburgern und den Hohenzollern, vom »großen« Friedrich und von diesem gräßlichen Bismarck sprach, von Figuren also, die selbst in den Jahren des Tausendjährigen Reichs an einer österreichischen oder damals vielmehr ostmärkischen Schule einfach nicht als legitim, geschweige denn als glorios darstellbar waren.

Unsere ganze Klasse, die Hitlerbuben eingeschlossen, machte sich denn auch ein Vergnügen daraus, den Professor mit hinterhältigen Fragen und sorgfältig ausgetüftelten Einwänden in immer absurdere diesbezügliche Argumentationen hineinzutreiben. Aber selbst grausames Kollektivgelächter vermochte diesen tückischen Mann nicht so zu irritieren wie das stille Lächeln des Lipkowitz. Das erst brachte ihn wirklich aus der Façon, obwohl sich der Lipkowitz als einziger an der Professorenreizerei nicht beteiligte – weil er vorsichtig sein mußte wegen seiner Schulzulassung und der Schwierigkeiten, die seine Familie mit den Nazis in anderer Hinsicht ohnehin schon hatte, sondern nur eben dasaß und vor sich hin lächelte. Das konnte der Professor nicht ertragen, und so konzentrierte er den ganzen Haß, den er gegen uns empfand, auf den Lipkowitz.

Diese Reaktion war dumm und ungerecht, nicht aber unlogisch. Denn die Lipkowitz (ursprünglich in Böhmen daheim) und die Zweyensteyn (aus der Steiermark) wie auch die Lipkowitz-Zweyenstein (schließlich in Wien und unter der Enns ansässig) waren seit dem 17. Jahrhundert allzeit unerschütterlich auf der Seite und zum höheren Ruhme des Hauses Habsburg gegen alle jene gestanden, die nach der nunmehr allein zu habenden Geschichtsauffassung als Herolde des endlich ausgebrochenen Großdeutschen Reiches gedeutet werden mußten: sie waren im Dreißigjährigen Krieg als Feldherren gegen die Protestanten gezogen, hatten im Siebenjährigen und 1866 als Generäle gegen die Preußen gekämpft, gehörten 1870 zu den Befürwortern eines Revanchekrieges an der Seite der Franzosen und waren nach 1918 Heimwehrführer gewesen; andere Lipkowitze und Zweyensteyne hatten als Minister gedient, jedoch gab es auch einen seinerzeit berühmt gewesenen Chirurgen und zumindest einen ebensolchen Literaten unter ihnen; der ältere Bruder meines Lipkowitz war, an seinem Erbfolgerecht nicht interessiert, 1938 nach Amerika gegangen und beantwortete von dort seine Einberufungsbefehle zur Deutschen Wehrmacht mit unflätigen offenen Postkarten.

Insofern war’s also nicht unbegreiflich, daß ein Halbidiot wie unser Geschichtsprofessor das Lipkowitz-Lächeln nur als einen von Unterrichtsstunde zu Unterrichtsstunde fortgesetzten Akt der Sabotage und des Widerstandes auffassen konnte.

Tragischkomisch daran war jedoch, daß der Lipkowitz gar nicht wirklich lächelte, sondern nur so aussah, als täte er’s. Es war dieses Lächeln Jahrhunderte früher vielleicht ein tatsächliches gewesen, ein höfliches und diplomatisches, das dann viele Generationen solange entwickelt und eingeübt hatten, bis es schließlich zu einer bloßen Familieneigenschaft wurde, so wie die drahtigen Haare des Lipkowitz, die er nie kämmen mußte, weil sie sich schon von selbst in eine straff disziplinierte Frisur legten, ein Familien-Merkmal wie der Lapislazuli-Ring, den jeder Lipkowitz zur Firmung erhielt (das Wappen zeigte ein Einhorn hinter einer aus zwei Steinen zusammengesetzten Mauer, darüber einen Stern).

Alle sind sie gekommen, alle sind sie da. Das Große Kaliber und der Geschiedene und der Lipkowitz …

Wo steht er denn? Ach ja, da links, neben dem Genie. Er hat sich seit damals überhaupt nicht verändert. Diesen Anzug aus feinem schwarzen Loden haben wir damals heimlich und neidvoll bewundert, obwohl wir es nie gewagt hätten, sowas anzuziehen, wir bürgerlichen und proletarischen Lederhosenund Knickerbockerträger. Sein Drahthaar ist nicht dünner geworden seitdem und so schwarz wie je, mit Ausnahme natürlich der dekorativen weißen Strähne über dem rechten Auge, von der wir aus irgendwelchen Gründen vermuteten – danach gefragt haben wir ihn nie, daß sie durch eine Einreibung mit Dachsfett entstanden sei.

Und wie damals und später scheint er zu lächeln und kann nichts dafür.

Die Klasse solidarisierte sich gegen den Geschichtstrottel und machte, eingeschlossen wiederum die Hitlerbuben, recht tapfere, wenn auch vergebliche Versuche, den Lipkowitz zu verteidigen. Aber im Grunde mochte sie ihn gleichfalls nicht, denn sein fatales Lächeln wirkte nicht minder verheerend auch auf all das Kleinbürgerliche und Proletenhafte, Unsichere und Halbfertige, das da rund um ihn in den Schulbänken hockte. Er befand sich in der peinlichen Situation des Schwans, der unters Hausgeflügel, oder eines Einhorns, das unter Weidevieh geraten ist. Freundschaft kommt da nicht zustande.

Ich war der einzige, der begriff, daß dieses Einhorn keineswegs hochmütig, sondern einfach hilflos war, und ich versuchte sogar, es ihm zu zeigen. Das freute ihn, und mir wäre es recht gewesen, wenn er den nächsten Schritt zur Annäherung getan hätte, denn ich befand mich als der Intellektuelle und Sprecher der Klasse gleichfalls in einer Außenseiterposition, in der mir Freundschaft erwünscht war. So hätte es nicht viel bedurft, daß wir Freunde wurden; es würde genügt haben, mich zum Beispiel aufzufordern, ihn einmal zu besuchen oder mit ihm ins Stadion zu gehen; aber leider lud er mich nicht dazu ein, sondern fürs nächste Wochenende zu einer Wildschweinjagd; damit wollte er bestimmt nicht Eindruck auf mich machen – sowas hat einer, der Lipkowitz heißt, in Österreich nicht nötig – sondern nur eine Freude; ihm bedeutete dergleichen ja nichts Extravagantes. Mir aber schien das entschieden zu viel des Guten und viel zu feudal. Wenn er’s wenigstens nicht »Sauhatz« genannt hätte! Das paßte auch irgendwie zum Katholischen an ihm und ging schlechterdings nicht an, denn als Republikaner und Klassen-Tribun hielt ich’s nun einmal mit den Kleinbürgern und Proleten, und denen wollte ich mich nicht entfremden. Also lehnte ich etwas zu brüsk ab. Er nahm das lächelnd zur Kenntnis, und so wurden wir damals leider keine Freunde.

Vielleicht aber wären alle diese Hindernisse – der Name, das Lächeln, die lange Lodenhose, die weiße Strähne, der Siegelring und die Sauhatz – die zwischen dem Lipkowitz und der Klasse und ihm und mir die Verständigung erschwerten, doch zu überwinden gewesen, wenn da nicht im Hintergrund noch etwas gewesen wäre, was seiner sowieso schon umwitterten Figur eine nachgerade schon ins Mythische reichende Zusatz-Dimension verlieh – nämlich seine Schwester.

Sie trug den zauberhaft-anspruchsvollen Namen Aglaja und war viel schöner als alle anderen Mädchen, die ich je gesehen habe, eine junge Göttin mit schneeweißer Haut und dichtem blonden Haar, das in der Sonne kupfern schillerte, eine geradezu unirdische Erscheinung, die sich dahinbewegte wie ein Reh oder auch wie Diana auf der Rehpirsch – du lieber Himmel, man kann so pure Schönheit nicht anders beschreiben als durch Vergleiche und gar nicht so viele Vergleiche finden, um sie auch nur halbwegs zu beschreiben: sie war eben schön wie keine andere, sie würde sogar dem damals propagierten Rassenideal entsprochen haben – nordisch blau-blond und herrisch, wenn sie nicht dieses Propagandabild durch den simplen Umstand, daß sie eine Lipkowitz war, lächerlich gemacht hätte.

Wir sahen sie fast täglich, denn fast täglich holte sie, vom benachbarten Mädchengymnasium kommend, ihren Bruder von der Schule ab. Wenn wir Proleten und Bürger uns rudelweise durch das Schultor quetschten, stand sie schon da, angelehnt an das Drahtgitter des gegenüberliegenden Parks, ein wunderschönes, elegant durchgestrecktes Bein vor sich hin gestellt, das andere in Kniehöhe hinten an den Zaun gestemmt, gerade vor sich hinsehend, keinen von uns beachtend, lächelnd erst dann, wenn sie den Lipkowitz sah, ihm halbwegs entgegenund hierauf mit ihm abgehend, eingehängt in seinen Arm und nun auch ihn abschließend von uns.

Ja, das war’s: diese Erscheinungsform des Lipkowitz-Zweyensteynischen überstieg einfach unsere Möglichkeiten, sie lag in einem Bereich, in den selbst unsere verborgensten und verdorbensten Jungmännerträume nicht hineinlangten, vor dem wir uns vielleicht auch fürchteten: wer die Schönheit angeschaut mit Augen und so weiter.

Als der Geschichtstrottel dann seinen Willen durchgesetzt hatte, der Lipkowitz aus der Klasse abging und wir somit um Mittag auch die Göttin nicht mehr sahen, waren wir alle eher erleichtert.

Das Aglaja-Wesen scheint übrigens nicht gekommen zu sein; es war vorhin überhaupt keine Frau in der Gruppe zu sehen außer der Kwapil und der Helga – aber das sind Randfiguren, Statistinnen, nicht vergleichbar mit der Bedeutung, die das Aglaja-Wesen in dieser ganzen Geschichte besitzt. Oder ist sie unterdessen eingetroffen? Ich mag mich nicht nach ihr umsehen jetzt, aber die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen; selbst wenn sie zufällig gerade im Lande sein sollte, gibt’s ja da unten diese Störungen, von denen der Silberne vorhin gesprochen hat. Ich hoffe, das Aglaja-Wesen heute nicht zu sehen. Es gehört zwar dazu, aber nicht hierher.

Jedoch behielten wir, der Lipkowitz und ich, einander par distance im Auge: ich ihn, weil er nicht aufgehört hatte, mich zu interessieren, er mich, weil er seinerzeit vielleicht gern mit mir Freundschaft geschlossen hätte.

So wußte ich, daß er, sehr jung noch, nach dem Kriegsende und dem Tod seines Vater zurück in das Schloß auf dem Land gezogen war, um den Gutsbetrieb, das Sägewerk und die Papierfabrik weiterzuführen, was er mit überraschender Tüchtigkeit und beachtlichem kommerziellen Geschick tat, wie mir Kollegen aus der Wirtschaftsjournalistik gelegentlich erzählten; und wiederum etliche Jahre später schickte er mir eine Einladung, seiner Hochzeit mit einer ebenfalls sehr vornehm doppelnamigen Gräfin beizuwohnen, eine Einladung, die das Sauhatz-Syndrom in mir heftig aktivierte, denn nicht nur wurde auf diesem Faltblatt von edelstem Papier mit erlesensten Antiqua-Lettern die Hochzeit »Vermählung« genannt und sollte samt feierlicher Brautmesse in der Karlskirche – wo sonst?, doch nicht in St. Stephan, wo höchstens die Bürgerlichen heiraten! – stattfinden, nein, es war ferner als geeignete Kleidung für alle Beiwohnenden ausdrücklich der Frack vorgeschlagen, und, versteht sich, »U.A.W.G.«. Aber wie kommt einer wie ich dazu, sich auch noch Entschuldigungsgründe einfallen lassen zu müssen, wenn er keinen Frack besitzt und zu sowas sowieso nicht gehen will? Ich habe nichts gegen die Papierhandlung Huber & Lerner oder die k.u.k. Hofzuckerbäckerei Demel ihr gegenüber, obwohl ich mich darüber ärgere, daß jetzt auch unsere Sozialisten schon am Kohlmarkt Törtchen verzehren beziehungsweise Stahlstich-Visitkarten bestellen, kaum daß sie ihren elterlichen Hausmeisterund Gemeindewohnungen entronnen sind; für den, der sich in den Grundmustern unseres sonderbaren Landes auskennt, hat so etwas freilich tiefere Bedeutung und vielleicht sogar was Symptomatisches an sich, was man bei der Erstellung längerfristiger Zukunftsprognosen in Rechnung stellen müßte – ach, dieser rote Jungpolitiker mit den berechtigten Hoffnungen auf höhere und, wer weiß, höchste Staatsämter, mit dem ich da, ist auch schon wieder eine Zeit her, im Zuge saß, so schön braungebrannt war er, wohl im Urlaub gewesen?, nein, er hatte sich die gesunde Farbe auf einer Dienstreise geholt, in Triest hatte er geweilt und im Friaulischen, wegen eines Kulturaustausches und weil da irgendwas wegen der Hilfeleistungen für die Erdbebenopfer hatte besprochen werden müssen – es muß so um 1977 herum gewesen sein, wenn ich mich recht erinnere. Und in Triest hatten sie gerade ein Wiener Kaffeehaus eröffnet, ein riesiges Franz-Joseph-Bild hing dort an der Wand, und eine Militärmusik spielte – man muß sich das nur vorstellen, sagte der Jungpolitiker, ein Mann aus der dritten Generation, schon aus einer linken Universitäts-Ecke hervor auf den Kohlmarkt geraten – man muß sich das vorstellen, die spielten den Radetzkymarsch! Als ob das nicht etliche Jahrhunderte früher die verhaßteste Melodie gewesen wäre, die je italienische Ohren verletzt hat! Und als ich mich deklarierte, als Österreicher, Wiener, Politiker – na, einen solchen Approach (er sagte wirklich »Approach«!) möcht’ ich in Niederösterreich haben! Den hab’ ich nicht einmal in Ottakring, obwohl schon mein Urgroßvater dort ein alter Sozi war. Aber erst dann in Friaul, sagte die junge, kraftvolle Stütze der Sozialistischen Partei Österreichs, das war direkt schon überwältigend, dort laufen junge Leute mit Leiberln herum, auf denen der Doppeladler drauf ist, reden von Österreich, als wär’ das noch was, und Sie werden es mir nicht glauben, aber um ein Haar hätt’ mir ein altes Mutterl die Hand geküßt, wie sie gehört hat, wer ich bin, grad’ im letzten Momenterl noch hab’ ich’s verhindern können! Ja, dort sind wir noch wer, mehr als bei uns zu Hause! Und wie ich voriges Jahr in Ungarn war, also zunächst war die Atmosphäre ja etwas steif, aber dann, nach ein paar Flascherln Tokayer, also ich sag’ Ihnen, dieses alte Österreich – … Mehr sagte er dann nicht, es war ihm wohl endlich, schließlich war er ja ein gelernter und tüchtiger Politiker, aufgegangen, daß er sich da doch ein bißchen vergaloppiert hatte; nachher gab er mir dann eine Visitkarte mit seiner Privattelefonnummer, auch die eine unverkennbare Geschmacksleistung des Hauses Huber & Lerner, natürlich.

Ach ja, mir ist schon klar, wohin das alles gerichtet ist und wie sich das einrichten wird bei uns, wenn die kommende Eiszeit an den Donauufern überlebt werden sollte: dann wird wohl das alte Grundmuster wieder zum Vorschein kommen, und selbst ich muß zugeben, daß sich’s nach allen Erfahrungen in diesem Muster vielleicht relativ gut und vernünftig leben lassen wird, nicht nur von den neuen und alten Aristokraten, sondern auch von meinesgleichen. Aber mein Vater, ein alter Liberaler, wäre nie zum Demel gegangen, und ich hoffe doch sehr, daß wenigstens einer meiner Enkel Kainit und Republikaner sein wird, wenn die österreichische Geschichte wieder einmal ins Monarchische rutschen sollte.

… Ich habe mich verlaufen. Diese Rückwege in die vergangene Zeit haben halt ihre Abzweigungen, und der da führt weiter zu nichts. Also wieder ein Stück zurück. Wohin? Ach ja: Huber & Lerner.

Ich bin dann doch zur Vermählung des Lipkowitz gegangen, nicht im Frack, versteht sich, sondern im schwarzen Sonntagsehrenkleid der Liberalen, womit ich nicht den geringsten Anstoß erregte, denn es waren genügend andere Gäste vorhanden, die sich zwar eine gepflegte Familientradition, nicht aber einen Frack leisten konnten.

Er hatte sich seit unseren Schultagen nicht verändert, und auch jetzt ist er, so wie er da steht, die nur leicht erweiterte und korrigierte Ausgabe von früher.

Die Braut, eine sportliche Person mit scharfem Gesicht, paßte zu ihm – ich sah sie mir freilich kaum an, denn da war auch das Aglaja-Wesen und nahm mir den Atem weg: es hatte sich in den Jahren seither sehr verändert, und zwar zum noch Schöneren hin. Sie war schon seinerzeit unvergleichlich gewesen, als sie noch, einen Fuß vor sich gestellt und den anderen in Kniehöhe gegen das Gitter gestemmt, unsere befangenen Blicke unbewegt übersehen hatte; nun aber, reifer geworden und sichtlich vertraut mit den Kunstgriffen der Kosmetik, der Grand Coiffure und der Haute Couture, war sie vollendet. Ich sage nicht, daß es angenehm war, sie anzuschauen; ein solches Gefühl empfand ich nicht, sondern eher ein gegenteiliges: denn die Natur hatte sich in dieser jungen Frau den Scherz geleistet, die Kunst an Perfektion zu übertreffen, doch was sie da geschaffen hatte, war, weil singulär, ein Monstrum. Ein Monstrum an Schönheit, gewiß, aber halt doch ein Monstrum.

Es kann schon sein, daß ich mit diesen und ähnlichen Feststellungen ein wenig übertrieb und daß diese Gefühle vielleicht ein bißchen von jenem hilflosen Zorn beeinflußt waren, den die meisten Männer angesichts allzu perfekter Frauen empfinden, weil sie sich einfach nicht vorstellen können, wie man sowas ins Bett kriegen und was man dort damit anfangen sollte, worauf sich natürlich Impotenz-Ängste einstellen et cetera. Jedenfalls, und während mir der Duft nach Weihrauch und sterbenden Blumen, ein ziemliches Gedränge und die überlaute Orgelmusik das Denken schwermachten, zog das Aglaja-Wesen meine Aufmerksamkeit ganz ausschließlich auf sich, und nicht die Zeremonie vor dem Altar. Und darum war ich, während die Katholiken ringsum gebannt dorthin schauten – denn das Ritual erreichte eben seinen Höhepunkt, der einzige, der bemerkte, daß von dieser Schönheit nicht nur etwas Erschreckendes, sondern auch etwas Herzzerreißendes ausging; diese Aglaja schien mir den zahlreich hinter ihr aufragenden Marmorengeln verwandter als den Menschen neben ihr, nur daß die Engelsfiguren auf ihren Piedestalen lebendiger waren als sie, weil sie leise hinund herschwankten – aber diese momentane optische Verwirrung verflog gleich wieder, und ich erkannte, neuerlich erschreckend, daß es keineswegs die Engel waren, die umzufallen drohten, sondern vielmehr das Aglaja-Wesen offenbar am Rande einer Ohnmacht zitterte.

Ich wollte hin zu ihr, aber es standen zu viele Hochzeitsgäste zwischen uns, und es war auch nicht notwendig, denn sie fiel nicht um, sondern hielt sich mit starkem Willen aufrecht; dann aber, während der Priester mit der Verlesung des Ehegelöbnisses begann, wurde das über alle Vorstellungen schöne Gesicht erst blutleer und versteinerte gleich danach so, als ob sich die entleerten Adern mit irgendeiner schnell erstarrenden Flüssigkeit füllten, und das immerhin doch lebendige Gesicht verwandelte sich in ein schönes weißes Marmording, womit die Übereinstimmung der Natur mit der Kunst endgültig erreicht war.

In genau diesem Moment drehte sich der Lipkowitz um, während seine Frau ihm noch den Ring an den Finger steckte, und blickte in dieses Medusengesicht, versteinerte aber nicht auch noch, sondern sah es nur mit sehr viel Mitleid an. Ich hoffe jedenfalls, daß es Mitleid war. Gleich darauf, als das Aglaja-Wesen schließlich doch zusammenfiel – nein, sie fiel nicht zusammen, sie kippte stocksteif zur Seite und in die Arme der Nächststehenden –, drehte sich auch die nunmehrige Fürstin Lipkowitz-Zweyensteyn um. Aber ihre Augen drückten durchaus kein Mitleid aus, sondern herzliche Freude.

Es war dies eine schlimme Geschichte; und ich dachte, daß ich mich der unruhigen und verworrenen Empfindungen angesichts der Arm in Arm von der Schule hinwegspazierenden Lipkowitz-Geschwister gar nicht so hätte schämen müssen, damals, als wir noch in die Schule gingen.

Das fernere Schicksal des Aglaja-Wesens gestaltete sich dann übrigens völlig undramatisch: es wurde nicht lange danach geheiratet, von keinem Supermann, ganz und gar nicht, sondern von einem Versicherungsmensehen mit wohlklingendem Namen und geringem Geist, der keinerlei Begriff von der exquisiten, ja monströsen Schönheit seiner Frau hatte – aber Schönheit ist wohl etwas, dem leider nur die Dummen gewachsen sind. Die Einbußen, die dabei fällig werden, treffen dann auch nicht sie, sondern die Schönheit, weshalb denn auch die Aglaja bald danach, wenn sie im Eiles oder im Landtmann Bridge spielte, zwar immer noch recht ansehnlich wirkte, aber nicht das geringste Erschrecken mehr auslöste.

Den Lipkowitz selbst traf ich nach seiner Hochzeit wiederum viele Jahre lang nicht. Ich las nur irgendwann einmal in der Zeitung, daß sich seine Frau während eines Reitturniers das Genick gebrochen habe, kondolierte und erhielt zwei Tage später die Todesanzeige; diesem Stahlstich von Huber & Lerner entnahm ich, daß als einziges Kind eine Tochter namens Aglaja den Tod ihrer Mutter in tiefer Erschütterung, jedoch dem Willen Gottes sich fügend, betrauere.

Hierauf vergingen abermals Jahre um Jahre meines Lebens, in denen der Lipkowitz wiederum nicht auftrat. Nur wenn ich auf der Nordautobahn nach Krems fuhr, die Auwälder des linken Donauufers entlang, und nahe vor Tulln eine Sekunde lang zwischen den Bäumen einen gelben Schimmer sah, fiel er mir ein, denn dort stand das Schloß, in dem er lebte. Aber ich fuhr selten nach Krems.

Daß es nach so langer Zeit schließlich doch wieder zu einer Begegnung mit ihm kam, ergab sich eher zufällig. Wir hatten in unserem kleinen Verlag ein dickes Repräsentations-Buch zusammenzustellen, eine von der Landesregierung und den Fremdenverkehrsstellen subventionierte Angelegenheit, die uns wenig Lust und viel zeitraubende Recherchierarbeit bereitete, aber dem Unternehmen Geld einbrachte; in diesem Wälzer tauchte der Name Lipkowitz-Zweyensteyn mehrfach auf, sowohl in historischen als auch in wirtschaftlichen Zusammenhängen; mein ehemaliger Schulkamerad hatte nämlich auch weiterhin tüchtig gearbeitet, sein Familienerbe um ein paar holzverarbeitende Betriebe ansehnlich vergrößert und sich, wie man so sagt, zu einem beachtlichen Wirtschaftsfaktor herausgewachsen. Die ihn betreffenden Daten hätten wir uns zwar leicht von der Handelskammer besorgen können, aber ich wollte mir Zeit ersparen, und schließlich war’s doch ein Anlaß, ihn wieder einmal zu sehen, außerdem waren noch Fotos zu machen von ihm, seinen Betrieben und dem Schloß – kurz, ich schrieb ihm, und kaum hatte er den Brief erhalten, kam er auch schon, ohne sich vorher anzumelden, in unser Büro.

Er hatte sich, ich stellte es mit Neid und einer leichten Aufwallung des Sauhatz-Syndroms fest, auch nach dieser nun doch schon beträchtlichen Zeit kaum verändert; und was sich im Detail doch verändert hatte, war wiederum nur leichte Korrektur der ersten und inzwischen sowieso schon geringfügig verbesserten Ausgabe. Es war alles da, wie eh und je, der schwarze Lodenanzug, das Lächeln, die Dachsfett-Strähne im schwarzen Drahthaar; hinzu war lediglich jene gewisse Sicherheit getreten, die einem der Berufserfolg beschert; auch legte er jetzt eine unvermutete Fertigkeit an den Tag, ein Gespräch zu beginnen und zu unterhalten – aber vielleicht hatte er diese Vorzüge auch schon früher besessen und war nur nicht dazugekommen, sie zu gebrauchen.

Die Lipkowitz-Daten gaben mehr her, als zu vermuten gewesen war; er erzählte mir einige Anekdoten aus dem Leben seines Vaters, die zu den Ereignissen von 1934 und 1944 bemerkenswerte Fußnoten lieferten; seine kommerziellen Interessen waren verzweigter, als ich angenommen hatte; und in seinen Besitzungen befanden sich kulturhistorisch interessante, aber noch nie fotografierte Dinge, die dem Illustrationsteil des Buches eine unerwartete Bereicherung sicherten.

Eine lange Rederei wurde daraus, als hätten wir die endlosen Dialoge nachholen wollen, die unter Siebzehnjährigen geführt werden, sobald sie Freundschaft miteinander schließen; wir gingen vom Büro zu einem gemeinsamen Mittagessen, entdeckten dabei, daß noch viel mehr Informationen auszutauschen waren, kehrten infolgedessen wieder ins Büro zurück, redeten weiter, ließen uns Kaffee kochen und waren sehr angetan voneinander; dann lud er uns, sie und mich, zum Abendessen ein, ins Hauswirth in der Otto-Bauer-Gasse – und die ganze Zeit hindurch rührte sich meine alte Sauhatz-Allergie nur ein einziges Mal: als sie während einer kurzen Abwesenheit des Fürsten »Man sollt’s nicht glauben, daß es sowas noch gibt!« ausrief; das gab mir doch einen Stich.

Daß der Fürst meinem Roten Falken sehr gefiel, war von Anfang an nicht zu übersehen – sowas war nie zu übersehen bei ihr, denn wenn ihr wer gefiel oder gar, was freilich selten vorkam, imponierte, dann teilte sie das auf der Stelle jedem mit, der gerade anwesend war, ohne Umstände, auch dem Betreffenden selbst, und sagte es nicht nur in Worten, sondern auch mit Lippen, Augen, Nasenflügeln, ihren Stirnfalten und Augenbrauen, mit denen sie umging wie ein Musiker mit seinem Instrument: sie vermochte mit ihrem Gesicht alles auszudrücken, was sie wollte – und an jenem Tag wollte sie und drückte Entzücken über diese Begegnung aus.

Die Vielgeliebte

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