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5 Inuktalik (Manitoba), Herbst 2017

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Über die Hudson Bay war der Herbst gekommen. Shane und Max hatten den Sommer über ihr Blockhaus renoviert und sich einen kleinen Garten angelegt. Mehrere Solaranlagen versorgten sie mit Strom und warmem Wasser. Für alle Fälle hatten sie auch noch einen kleinen Generator angeschafft. Sie waren völlig autark. Max hatte sich voller Arbeitswut über den alten Steg hergemacht. Hier lag jetzt ihre einzige größere Errungenschaft, die sie erstanden hatten: ein Aluboot mit Außenborder. Nachdem Max sich von Tom noch so manchen Kniff beim Angeln abgeschaut hatte, füllte sich mit Hilfe des neuen Bootes ihre Vorratskammer bald reichlich mit frischem Fisch für den Winter. Haltbar gemacht und gefrostet wurden die Vorräte allein durch die bereits jetzt herrschenden tiefen Außentemperaturen, die auch den außerhalb des Hauses liegenden Vorratsraum durchzogen. Das Angeln machte Max zudem sehr viel Spaß. Es kam seiner Neigung – einfach verträumt im Boot zu sitzen und in Ruhe nachdenken zu können – entgegen. Es war wie damals mit Mal, wenn sie am Cuyahoga River gesessen und stundenlang aufs Wasser geguckt hatten, um den Wellen und dem vorbeitreibenden Strandgut hinterher zu träumen.

Aber jetzt stand der Winter vor der Tür. Es würde ihre erste große Bewährungsprobe werden. Wenn sie mit dem Winter und seinen Folgen zurechtkamen, dann würde das Land ihnen auch auf Dauer zur Heimat werden können. Die Kälte hatte schon so manche Zuwanderer, die sich hier niederlassen wollten, wieder vertrieben. Und es war nicht nur die Kälte draußen. Es war die mehr als halbjährige Erstarrung, in die das Land mit Beginn des Winters fiel. Das Leben spielte sich dann nur noch innerhalb der Ortschaften ab. Draußen legte sich eine eisige Stille über die Tundra und ließ die Menschen in ihren Häusern bleiben. Wer mit dieser sechsmonatigen Einsamkeit und Gleichförmigkeit nicht zurechtkam, wurde hier niemals heimisch.

Das offene Wasser ging jetzt mit jeder Nacht weiter zurück. Die Zeit des Fischens ging zu Ende. Allenfalls an einigen Eislöchern konnte Max dann sein Glück noch versuchen. Viel interessanter wurde jetzt die Robbenjagd. Aber da musste Tom ihm noch reichlich Nachhilfe geben.

Bald kamen die ersten Schneestürme. Die letzten Wasserlöcher froren schnell zu, und die Temperaturen gingen auch tagsüber kräftig unter Null. Von einem der zahlreichen fahrenden Händler hatten sie sich einen Hundeschlitten mit Geschirr erworben. Sie hatten dafür zwei von Max’ Holzschnitzereien eintauschen müssen und ein halbes Dutzend Felle, die Shane gegerbt hatte. Sie hatte sich als sehr geschickt im Gerben erwiesen und war mit einigen Trappern schon regelmäßig im Tauschgeschäft. Für die langen Winterabende hatte sie sich vorgenommen, für sich und – wenn die Felle reichten – auch für Max einen Mantel zu machen.

Zu Nanook, Alishas und Toms Geschenk, hatten sie sich mittlerweile noch eine weitere Hündin gekauft, und Tom hatte ihnen noch zwei Hunde bis zum nächsten Frühjahr von seinem Hof geliehen. Vier Hunde, hatte Tom gesagt, sind das Mindeste für ein gutes Gespann. Jedenfalls bei den hiesigen Entfernungen. Max hatte Tom mehrfach beim Anleinen und Einspannen zugeschaut. Und so wartete er gespannt auf seine erste Schlittentour mit den Hunden.

Es war stets einer seiner Träume gewesen, mit dem Hundegespann durch die arktische Landschaft zu fahren. Eigentlich war es mehr als nur ein Traum. Es war eines der Ziele seines Aufbruchs aus Cleveland gewesen: frei zu sein. Frei mit seinen Hunden über die endlose Tundra fahren zu können, nicht mehr ferngesteuert an einer unsichtbaren Leine, an unsichtbaren Moralvorstellungen, an nicht mehr hinterfragten Verhaltensmustern. Er wollte nicht in einem Kohlenmonoxyd ausstoßenden Auto auf vorgegebenen Wegen fahren, an roten Ampeln sinnlos warten, obwohl meilenweit kein Auto kam. Er wollte nicht 50 Meilen pro Stunde fahren, nur weil ein entsprechendes Schild ihm dies gebot. Es gab Vorschriften ohne Ende: im Verkehr, in der Moral, in den Gesetzen, in der Arbeitswelt, in der Erwartungshaltung der Leute, Vorschriften in der Kleidung und im Benehmen.

Dieses Land hier war für ihn mehr als bloß eine Zuflucht vor dem verlogenen Leben in den Staaten – eine Zuflucht vor einer Gesellschaft, die nicht mehr merkte, wie sie zu unfreien Marionetten von verantwortungslosen Wirtschaftslenkern und Politikern wurde. Dieses Land war eine der letzten Möglichkeiten, wenigstens teilweise in Freiheit zu leben, und die Fahrt mit dem Hundeschlitten durch die weglose, verschneite Tundra war in seiner Vorstellung stets der Inbegriff dieser Freiheit gewesen.

Allein die weite Entfernung von den Machtzentren ließ ihn ein wenig Unabhängigkeit und Freiheit spüren. In der einsamen Weite der Schneelandschaft gab es keine vorgezeichneten Spuren, keine Wege, denen man folgen musste. Der Augenblick der Entscheidung, wie und wohin er sich bewegte, gehörte nur noch ihm und seinem freien Willen. Die Fahrt mit dem Hundegespann über das grenzenlose Eis war der bildliche Ausdruck von Max’ innerem Drang nach Freiheit und seinem Verständnis von sich selbst.

Nach zwei Wochen – als das Eis fest genug war – kam Tom. Er half ihm beim Einspannen der Hunde ins Geschirr. Sie waren kaum zu bändigen, obwohl außer Nanook alle drei Hunde erfahrene Schlittenhunde waren. Die Nervosität, die auch die Tiere zu Beginn des Winters vor ihrer ersten Schlittenfahrt verspürten, war deutlich zu sehen. Aber als sich die Männer schließlich hinten auf ihre Schlitten stellten und das Kommando zum Losfahren gaben, schien sich das Durcheinander wie von Geisterhand aufzulösen. Max erfasste ein unsagbares Glücksgefühl, als der Schlitten über das Eis hinaus auf den See glitt. Der zarte, leichte Schneefall verwandelte sich mit zunehmender Geschwindigkeit in spitze Kristalle, die unerbittlich auf Max’ Gesicht prasselten, und die roten, wilden Haare, die aus der Mütze hervorschauten, waren bald nur noch weiß und eisverkrustet. Der kleine Seitenarm, an dem Tom und Max wohnten, erweiterte sich nach wenigen Minuten Schlittenfahrt zu einem breiten See. Hier hatte Max seine ersten Lachse gefangen.

„Zur Robbenjagd werden wir allerdings mit dem Schneemobil besser zurechtkommen“, rief Tom durch den Fahrtwind hindurch. „Die Entfernungen sind viel schneller zu bewältigen. Bis zum offenen Meer sind es immerhin fast acht Meilen, und schließlich leben

wir hier ja auch nicht mehr in der Steinzeit.“ Tom ahnte nicht, was in Max vorging.

Die kaum zu bändigenden Hunde, das Stürmen des Fahrtwindes, das Schleifen der Kufen im Eis – alles rief ihm zu: Das ist es, was du wolltest, das ist deine Freiheit! Sein Herz pochte wild. Der Brustkorb war voller Glück. „Nanook, Imbra, Aja, Inook, come on, go, go, go.” Max ließ die Zügel locker und brüllte seine Freude heraus. Nanook und Imbra liefen gut im Geschirr. Es war, als ob sich Max’ überschäumende Freude auf die Hunde übertrug. Sie liefen schneller als Toms Gespann und schoben Meter um Meter zwischen die beiden Schlitten. Max fing Feuer und schürte den Lauf seiner Hunde. Nach zehn Minuten hatte er Tom gut 1000 Fuß hinter sich gelassen.

„Na warte, du alter Grünschnabel“, knurrte Tom. „Ich krieg dich schon.“

Aber Max ging es nicht darum, Tom hinter sich zu lassen. Er war sich seiner mangelnden Erfahrung durchaus bewusst und hätte niemals ernsthaft versucht, sich in seiner ersten großen Schlittentour mit Tom zu messen. Vielmehr hatte Max Tom fast ganz vergessen.

Er studierte seine Hunde genau. Ihre Reaktionen auf seine Kommandos schienen ihm noch immer nicht ganz richtig. Aber ihre ungestüme Kraft und das Temperament, mit dem sie nach vorn drängten, waren seiner eigenen Art, durchs Leben zu gehen, nur allzu ähnlich. Seinen Augen und sein Kopf wurden von den Hunden wie magisch nach vorn gezogen. Längst bemerkte er die eisige Kälte auf seinen Wangen nicht mehr. Er sah nur noch die sanfte, weiße Schneedecke vor sich und den Horizont, der ihm scheinbar immer näher kam. Sein Herz fing an, im Rhythmus der trommelnden Pfoten zu schlagen, und sein Atem glich immer mehr dem Hecheln der Hunde. Seine Beine schienen zu rennen. Er rannte mit Nanook und Imbra. Der Schnee, den ihre Pfoten aufwirbelten, spritzte links und rechts am Schlitten vorbei, und Max flog wie in Trance in die unendliche Weite seines Traums hinein.

Sie hatten den See und den anschließenden Fluss hinter sich gelassen und kamen nach einer Stunde an die offene Hudson Bay. Als Tom sah, wie Max geradewegs auf eine vor ihm liegende Schneeverwehung zufuhr, witterte er seine Chance.

„Jetzt hab ich dich! Links, lauft links“, rief er seinen Hunden zu. Er machte einen weiten Bogen und fiel dadurch noch mehr zurück. Aber dann kam Max in den Tiefschnee. Seine Hunde fingen an zu springen. Max wurde langsamer und verlor seine Fahrt. In wenigen Minuten war Tom mit ihm auf gleicher Höhe und flog förmlich an seinem Freund vorbei.

„Und jetzt bekommst du für diese Frechheit noch eine kleine Lektion“, murmelte Tom in seinen Bart. Er ließ seinen Hunden jetzt freien Lauf, und nach einer Viertelstunde wurde Tom immer kleiner und verschwand endlich ganz aus Max’ Gesichtsfeld. Verdammt, was hat der vor, ging es Max durch den Kopf. Als er Tom schließlich gar nicht mehr sehen konnte, hielt er seine Hunde an. Auf dem See und den Flüssen kannte er sich gut aus. Aber hier draußen war er noch nicht gewesen. Er war weit vom Ufer entfernt und merkte erst jetzt, dass er die Orientierung verloren hatte.

Tom wird schon zurückkommen, dachte er bei sich. Als sich die Hunde langsam beruhigt hatten, hörte er, wie unruhig das Eis war. Es knackte in unregelmäßigen Abständen, als wenn es ihm drohen wollte, und dann folgte eine beunruhigende Stille. Max setzte sich auf seinen Schlitten. Von Tom war keine Spur zu sehen. Plötzlich hörte er einen Peitschenknall, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Max blickte sich erschrocken um. Weit und breit war niemand zu sehen. Natürlich nicht! Was hatte er sich gedacht! Der Schreck saß ihm tief in den Gliedern. Er dachte an Toms Warnungen über die Spannungen im Eis und die Risse. Da war es wieder. Diesmal klang es ganz anders, eher wie traurige Stimmen aus der Tiefe, unbekannt und bedrohlich.

Wo Tom bloß steckte? Die Geräusche und das Knallen schienen völlig unkalkulierbar. Dann sah er auch die starken Risse im Eis. Mit fiebriger Hast versuchte Max wieder Ordnung in die Hunde und das Geschirr zu bekommen. Aber das war mehr als schwierig. Bei der Abfahrt hatte Tom alles gerichtet. Es hatte so spielerisch und einfach ausgesehen, und Max begriff, dass es reichlich naiv von ihm gewesen war, sich so sicher auf dem Schlitten zu fühlen. Es fehlten ihm die grundlegendsten Dinge. Allmählich ergriff ihn echte Sorge, und er blickte sich immer wieder um, ob Tom nicht zu sehen war.

Die Hunde sprangen durcheinander. Sein Zurufen entfachte mehr Verwirrung, als dass es Ordnung stiftete. Erst nach mehreren erfolglosen Versuchen brachte er sein Gespann endlich einigermaßen vor dem Schlitten in Gang. Zwar hatten die Leinen sich reichlich verdreht, aber Max war froh, endlich wieder zu fahren. Nach einiger Zeit tauchte ein kleiner Punkt vor ihm auf. Beim Näherkommen stellte er fest, dass es Tom war. Er atmete erleichtert durch.

Tom saß genüsslich grinsend auf seinem Schlitten und schlürfte einen heißen Tee.

„Okay, okay.“, meinte Max, nachdem er seinen Schlitten zum Halten gebracht hatte. „Es war wohl etwas verfrüht, dir meine hinteren Kufen zeigen zu wollen.“

„Etwas?“, höhnte Tom. „Viel zu früh. Das hier ist doch kein Hundesportrennen in Toronto. Du bist hier in der Wildnis. An jeder Ecke lauert eine Gefahr. Und da benimmst du dich wie ein kleiner

Junge auf der Rennbahn.“

Das hatte gesessen. Max hatte begriffen, was Tom ihm sagen wollte. Er setzte sich neben ihn, und dann lachten sie beide. Tom war zwar erst einundzwanzig Jahre, aber ein alter Hase, was diese Dinge betraf. Seit vier Jahren besuchte er Hunderennen in Nunavut und Manitoba und hatte manchem Einheimischen schon Kenntnisse voraus. Nicht zuletzt weil er mit etwas mehr Distanz auch die Fehler in den Gebräuchen der Inuit sah und Verbesserungsideen entwickelt hatte. Auf der Heimfahrt zeigte Tom ihm kleine Wasserlöcher mitten im Eis.

„Diese Löcher graben die Robben selbst, damit sie an die Luft kommen und atmen können“, sagte Tom. „Die Inuit nennen sie Aglou. An solchen Löchern werden wir Jagd auf die Robben machen können. Aber es wird noch zwei Wochen dauern, bis das Eis dort draußen dick genug ist.“

Max war es egal. Er war trotz Toms zwischenzeitlichem Verschwinden voller Begeisterung über ihren Ausflug. Das Leben an der Hudson Bay war ihm ein ganzes Stück näher gerückt.



Die letzten Jäger des blauen Planeten

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