Читать книгу Der Fall der Irminsul - Jörg Meyer-Kossert - Страница 3
1 Odo
Оглавление753 n.d.Zw In einer großen Siedlung im alten Sachsenland
Bläulicher Qualm kroch aus den kleinen Feuerzungen unter dem Suppenkessel. Ein verführerischer Duft nach frisch gekochter Bohnensuppe mit Dinkel durchzog das Langhaus bis in seine letzten Winkel. Immer wieder sah Frigga* von ihrer Arbeit auf und blickte in das Feuer. Die Wintertage waren kurz, aber für Frigga schienen sie kein Ende zu nehmen. Auch die Arbeit, die ihre Mutter ihr aufgetragen hatte, war nicht dazu angetan ihre Stimmung zu verbessern. Den ganzen Morgen über hatte sie die vielen nicht mehr frischen Bucheckern aus ihren spröden Hüllen befreit, und die harten Schalen hatten ihre Finger rot und schorfig werden lassen. Vier Familien lebten in ihrem Langhaus, wollten essen und trinken. Da war es selbstverständlich, dass auch die Kinder mithelfen mussten bei der täglichen Arbeit. Frigga wickelte gedankenverloren ihre rotblonden, widerspenstigen Locken um den Zeigefinger, um ihnen wenigstens etwas Form zu geben. Immer wieder vergaß sie die kleinen dreieckigen Früchte in den beiden Körben vor ihr und starrte ins Feuer. Wie kurze Messer sahen die zuckenden Flammen aus. Manchmal glaubte sie im Zusammenspiel ein Bild zu erkennen. Aber so schnell wie es gekommen war, so schnell löste es sich in einem zerfließenden Farbspiel wieder auf. Iken, ihre Mutter, warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Sie verstand, dass ihre jüngste Tochter sehnsüchtig auf die wärmere Jahreszeit wartete. Während sie selbst geschickt das hölzerne Schiffchen durch die Fäden des Webrahmens gleiten ließ, dachte sie daran, wie lieb ihr doch dieses eigensinnige Kind in der letzten Zeit geworden war. Für ihre elf Sommer, die sie jetzt zählte, hatte sie schon ein enormes Eigenleben entwickelt und ihre Eltern vor Probleme gestellt, die sie bei ihren anderen drei Kindern so nicht erlebt hatte. Aber Iken hatte auch bemerkt, dass Frigga ein Mädchen mit großem Herzen war. Und so hatte sie großzügig darüber hinweggesehen und im Stillen erhofft, dass aus ihr einmal eine eigenständige, selbstbewusste Frau werden würde, für die sich vielleicht ein angesehenerer Mann interessieren würde als es ihr Answin war. Langsam hatte sich eine innige Liebe zu diesem oft schwierigen Kind entwickelt.
Das ruhige Surren des Webschiffchens wurde regelmäßig vom dumpfen Stampfen des Stößels unterbrochen, mit dem Friggas Schwester Fastada mit gleichgültiger Miene auf das Getreide eindrosch.
Niemand sprach ein Wort. Alle hingen ihren Gedanken nach, die von der schweren und stickigen Luft im Haus eingehüllt wurden. Und so durchzog der monotone Rhythmus der arbeitenden Frauen das ganze Langhaus und ergriff nach und nach die Herrschaft über die anwesenden Menschen.
Frigga konnte ihren Blick nicht von den lodernden Flammen abwenden, zu sehr faszinierte sie das Spiel des Feuers - wie die flackernde Glut es leuchtend rot von sich stieß, die Hitze mit empor reißend, und mit bläulichem Schein sich in den Rauchfang verflüchtigte.
Wie die Geweihenden eines Kronhirsches sprossen die Flammen dem Kessel jetzt entgegen. Sie züngelten um ihn herum als wenn sie ihn mit ihrer Hitze schmelzen wollten. Hingerissen vom Farbenspiel der rötlichen Zungen wähnte sich Frigga bereits inmitten des brennenden Feuermeeres zu stehen. Während sie noch in die die heiße Lohe starrte, fügte sich dem flammenden Geweih des Hirschen ein flüchtendes Tier hinzu - und dann zerfloss alles wieder, kaum dass Frigga in die angsterfüllten Augen dieses herrlichen Tieres geblickt hatte. Flüchtete der Hirsch vor den Flammen? Frigga konnte nicht mehr wegsehen. Der Zauber des Feuers hielt sie fest im Griff.
Plötzlich warfen die Flammen ihr rennende Beine entgegen, nein, es waren Männer, die sie sah.
Der Rhythmus im Haus entließ sie nicht aus seiner Gewalt. Wie gebannt starrte Frigga in das Feuer. Träumte sie?
Sie wollte sich kneifen, aber die Finger griffen ins Leere. Immer tiefer drang ihr Blick jetzt in das Feuer ein. Schon lief sie mit den Männern im Wald, setzte gemeinsam mit ihnen über querliegende Äste hinweg und musste ständig vor auftauchenden Bäumen ausweichen. Die Männer schienen sie nicht zu bemerken. Sie hetzten nur weiter. Pfeile flogen, zwei stürzten. Aber die Gesichter blieben verschwommen. Schreie tönten durch den Wald. Neben ihr tauchten drei Männer auf, die offensichtlich zu ihrem Stamm gehörten. Sie trugen einen Eibenzweig auf dem Arm gemalt. Und dann erfasste ein eisiger Wind ihre Haare.
Friggas unterdrückter Aufschrei endete in einem Gewürge. Iken sah aufgeschreckt zu ihr hinüber.
"Odo, du musst kommen", rief jemand hinter ihr.
"Schnell !"
Frigga blickte sich erschrocken um. Die Tür des Langhauses war aufgestoßen worden. Der Wind war herein gefegt und mit ihm zwei erregte Männer. Von einem Augenblick auf den anderen war die Ruhe und Gleichmütigkeit dahin. Das Webschiffchen ruhte und auch der Stößel in Fastadas Hand legte eine Pause ein.
Alle blickten unmutig wegen der Unterbrechung zum Eingang.
Mürrisch richtete sich Odo auf seiner Liegestatt auf.
"Was kann an einem solchen Tag denn schon so wichtig sein!"
Er reckte sich und erwartete eine Antwort. Die Bestürzung in den Augen der Männer drang nur langsam zu ihm vor. Der eiskalte Wind erfasste mittlerweile auch den letzten Winkel des Raumes und vertrieb die mühsam erzeugte Wärme des Feuers. Odo blickte noch unwilliger. Die Ankömmlinge registrierten die ablehnende Haltung der Hausbewohner und versuchten es jetzt mit einer offiziellen Meldung.
"Mein Fürst! Wir hatten einen Zusammenstoß mit den Flussmenschen im Eibenwald. Drei von ihnen sind jetzt tot. Der Rest ist entkommen."
Erstarrung machte sich breit. Alle Augen richteten sich in gespannter Erwartung auf die beiden Boten.
Odo schien auf einmal schneller wach zu werden als ihm lieb war. Im Nu stand er auf seinen Beinen.
"Haben sie euch angegriffen?"
"Nein. Aber sie haben gewildert. Einen von den Hirschen aus dem Eibenwald hatten sie erwischt und waren dabei ihn auszuweiden als wir kamen. Ein Reh und mehrere tote Füchse hatten sie bereits auf ihre Pferde gebunden."
Odos Gesichtshaut nahm eine andere Farbe an. Die dünnhäutige Narbe, die in seinem dichten Bart entsprang, knapp am Auge vorbeilief, um in seinen blonden Haaren wieder zu verschwinden, schwoll an wie ein kleiner Gebirgsbach nach einem starken Regenfall.
Der Eibenwald war ihnen heilig und die darin lebenden Hirsche wurden niemals gejagt. Eiben waren ihre Lebensbäume. Sie waren nicht nur die ältesten Bäume, die es überhaupt gab. Sie waren die Bäume des ewigen Lebens. Aus alten, umgefallenen Stämmen entwickelten sie nicht selten neue junge Triebe, die wieder zu kraftvollen Eiben heranwuchsen. Außerdem war das Holz hart und bestens geeignet, Bogen und Speere herzustellen.
Sogar die Irminsul, das erhabene Abbild des Weltenbaumes* der Sachsen war aus dem Stamm einer einzigen, uralten Eibe hergestellt worden. Sie bildete das Zentrum ihrer Welt und war Sinnbild für ihr Verständnis der Zusammenhänge des Lebens. Kein Wunder, dass dieser Baum ihnen heilig war, und ein Dorf wie das Ihre, das einen ganzen Wald solcher Eiben auf seinem Gebiet besaß, in besonderem Ansehen bei den übrigen Sachsen stand.
Allerdings wäre auch ohne die Besonderheit des Eibenwalds die Verletzung des Jagdreviers durch fremde Jäger einem Angriff auf die Hoheitsrechte der Eibenhüter gleichgekommen. Das war ihr Stammesgebiet. Da durfte niemand anders jagen. So verbreitete sich dann auch die Nachricht wie ein Lauffeuer durch das Dorf.
"Das ist nicht wahr. Ich kann das nicht glauben."
Entsetzt und aufgebracht nahm der sonst ruhige Odo die Nachrichten entgegen.
"Komm mit und schau dir die drei Toten an."
Alle eilten durch die niedrige Türe und rannten zum Dorfplatz.
Auch Frigga versuchte den Eingang zu erreichen. Allerdings weniger aus Interesse an den drei toten Männern als vielmehr, um dem beschwerlichen Entkernen der Bucheckern und um den Fragen der Mutter zu entkommen. Aber bevor sie die schwere Eichentür erreichen konnte, stellte sich Iken ihr in den Weg und sah sie fragend an. Ihr Interesse an den Nachrichten der Boten war erloschen, nur auf Frigga war ihre Aufmerksamkeit gerichtet.
"Hast du wieder etwas gesehen?"
Iken hatte ein hageres und ernstes Gesicht, das von vielen feinen Fältchen durchzogen war. Wenn sie allerdings ärgerlich war, konnte dieses Gesicht einen derart einschüchternden Ausdruck annehmen, dass nicht nur ihr Mann Answin, sondern auch viele der älteren Krieger ihr weit über das ihr zustehende Maß Respekt zollten.
So wagte Frigga erst gar keinen Versuch, ihre Bilder vor der Mutter geheim zu halten. Sie nickte leise. Stille trat ein. Dann zog die Mutter sie sanft neben sich an einen Platz nahe am Feuer.
"Was hast du gesehen? Hat es mit dem übereingestimmt, was die Boten berichtet haben?"
Iken war eine einfache Frau, die wegen ihres handwerklichen Geschicks innerhalb des Stamms der Eibenhüter sehr beliebt war. Ihre kunstvoll bestickten Lederwamse und die warmen Beinkleider waren vor allem bei den Kriegern sehr gefragt. Sie selbst war allerdings eine eher zurückhaltende Frau, was sich bei den Geschäftsabschlüssen nicht unbedingt als förderlich erwies. Auch hatte sie ihre Menschenkenntnis hierbei schon öfter getrogen.
Aber als Iken jetzt forschend in die hellblauen Augen ihrer Tochter sah, wurde ihre Ahnung schnell zur Gewissheit. Frigga hatte schon öfter ähnliche Bilder gesehen, die die später eingetretenen tatsächlichen Ereignisse meistens vorweggenommen hatten. Und so war es dieses Mal wohl auch geschehen. Nachdem sie sich eine Weile über den Vorfall am Feuer ausgetauscht hatten, sagte Iken:
"Ich werde morgen mit Rune sprechen. Wir müssen ihn nun endlich einweihen und ihm von deinen Gesichtern berichten. Er muss es wissen und nur er kann uns sagen, was genau es zu bedeuten hat und ob etwas zu tun ist."
Frigga nickte, obwohl ihr dabei nicht ganz geheuer war. Nicht wegen Rune. Zwar hatte sie als kleines Mädchen großen Respekt vor dem obersten Schamanen* ihres Stammes. Aber Angst flößte er ihr nicht ein. Nein. Es war ihr nicht geheuer, weil sie nicht wusste, ob es Unrecht war, dass diese Bilder immer wieder zu ihr kamen. Frigga war einfach nicht wohl bei diesem Gedanken.
Schon von weitem sah Odo die Pferde und eine große Zahl von Menschen, die hier zusammenströmte.
Als er sich näherte machte die Menge ehrfürchtig Platz. Es war unerträglich kalt und Odo bedauerte es jetzt schon, dass er das Haus verlassen hatte, ohne einen Pelz oder ein Fell mitgenommen zu haben. Es war der härteste Winter seit vielen Jahren und Odo war klar, dass der Hunger und die schwindenden Vorräte nicht nur seinen Stamm so in den unnachgiebigen Würgegriff genommen hatte, sondern wahrscheinlich auch diejenigen, die jetzt bei ihnen in ihrer letzten Verzweiflung Nahrung gesucht hatten.
Mit großen Schritten erreichte er die Pferde. Drei offenkundig tote Jäger wurden gerade losgebunden, um sie ab zu nehmen und auf die Erde zu legen.
"Es sind Flussmenschen", ließ sich Derk vernehmen.
"Die Reitdecken ihrer Pferde tragen alle das blaue Flussband."
"Wer kann ausführlich berichten, was passiert ist?"
Odo sah sich wütend um.
Derk, ein erfahrener alter Krieger trat jetzt vor.
"Ich war mit Baruch und Koloman auf Suche nach Wild. Wir wurden aufmerksam, weil unsere Pferde Wind von ihnen bekommen hatten. Aber offenbar hatten auch die Flussleute Verdacht geschöpft. Wir konnten sie nicht wirklich überraschen. Als wir durch die Büsche brachen sind sie Hals über Kopf geflohen. Auf einer kleinen Lichtung vor uns haben wir diesen kapitalen Hirschen gefunden. Da habe ich den beiden Jungen das Zeichen zum Angriff gegeben. Ich glaube es waren fünf Männer. Aber obwohl sie in der Überzahl waren, sind sie geflohen. Diese drei haben wir zur Strecke gebracht."
Zustimmendes Gemurmel erhob sich.
"Die zwei anderen sind uns entkommen."
Derk schien zufrieden mit sich und seinen Begleitern.
"Ihr habt das gut gemacht", gab ihnen auch Odo seine Anerkennung.
"Nehmt das Wild von den Pferden herunter und versorgt es. Die Ohren des Hirschen bringt ihr mir zum Thing heute nach Sonnenuntergang ins Langhaus mit. Derk, du teilst fünf Kundschaftergruppen ein. Ihr reitet sofort aus und kontrolliert das Gebiet in dem Dreieck zwischen der Eibenfestung, dem Ort, an dem ihr die fremden Jäger überrascht habt und den Flussauen. Sie werden zwar längst weg sein, aber vielleicht sind ja noch andere mit der gleichen Absicht unterwegs."
Damit drehte sich Odo um und verließ den Platz.
Nach dem Abendessen, das Odo als Fürst des Stammes mit seiner Familie im Langhaus einnehmen durfte, kamen die ältesten Männer und alle, die mit ihm den Rat des Stammes bildeten, zusammen.
Odo hatte jetzt ordentliche Beinkleider angelegt und trug ein Wams aus feinem Ziegenleder. Um den Hals hatte er die goldenen Torques* gelegt, die ihn als Fürsten des Stammes auszeichneten.
Nachdem alle Platz genommen hatten, wurde Bier ausgeschenkt und über das Erlebnis des heutigen Tags erzählt bis Odo sich endlich erhob und in die Runde blickte.
"Eibenhüter!
Ihr habt alle gehört was geschehen ist. Die Flussmenschen sind mitten im Frieden in unser Gebiet eingedrungen und haben unsere heiligen Eibenwälder entweiht, in dem sie dort gewildert haben. Sie wollten unsere Tiere jagen und stehlen und haben nicht einmal Halt gemacht vor der unantastbaren Würde des Hirsches.
Wir müssen beraten wie wir diesen Friedensbruch beantworten."
Odo machte eine Pause und schaute auffordernd in die Runde.
"Frechheit! Wenn sie nichts mehr zu beißen haben, sollten sie einen Boten schicken und um Nahrung bitten. Aber die Blöße wollen sie sich wohl nicht geben."
Radbod, der für seine giftige Zunge bekannt war, hatte sich nicht mehr zügeln können.
"Das sollte sie mindestens zwanzig Schweine kosten. Sollen sie doch selber zusehen, wo sie sie herholen können."
Seine Mundwinkel spiegelten das Gift seiner Worte wieder.
"Nehmt lieber zwanzig Ladungen Trockenfisch. Das bringt uns über den Winter."
"Zehn Ladungen und zehn Schweine."
Die Stimmen gingen laut durcheinander, und in kurzer Zeit heizte sich die Stimmung immer mehr auf bis sich schließlich Rune, der Schamane erhob. Seine dürre Gestalt zeigte deutlich, wie sparsam er Nahrung zu sich nahm und wie oft er fastete. Die Sicherheit und Glaubwürdigkeit aber, die von seiner Person ausging, nötigte jedem Menschen ein hohes Maß an Achtung ab. Schnell kehrte Ruhe ein als die versammelten Menschen erkannten, dass er zu ihnen sprechen wollte, und erwartungsvolles Schweigen breitete sich aus.
"Freunde! Der Winter ist dieses Jahr wesentlich härter als in den vergangen Jahren. Ich denke, die Ems, die die Menschen aus den Flussauen ernährt, wird mit dickem Eis überzogen sein. Ihre Vorräte gehen sicherlich zu Ende. Natürlich ist das kein Grund, in unserem Land zu wildern. Aber sie werden nichts mehr haben, was sie uns im Tausch hätten geben können oder was wir jetzt als Schadensersatz fordern könnten."
Rune versuchte seine Leute zu mäßigen. Er war in einfaches Leinen gekleidet und trug darüber ein helles Schaffell gegen die Kälte. An seinem Hals baumelte ein Amulett aus weißen Federn, die an kurzen Hanffäden aufgezogen waren.
"Wir sollten zunächst einen Boten zu Chrodegang schicken und eine Erklärung von ihm als ihrem Fürsten verlangen."
Unzufriedenes Gemurmel wurde hörbar und es entwickelte sich eine anhaltende Diskussion.
Odo ließ sie gewähren. Die Krieger unter ihnen ließen bei solchen Aussprachen gerne ihre Muskeln spielen. Aber die Älteren und Ruhigen wussten geschickt, die Kriegstreiberei zu beruhigen.
Aufmerksam horchte er in den Wortwechsel hinein und ließ allen Männern genügend Zeit sich Gehör zu verschaffen. Als er meinte, die allgemeine Stimmung genügend durchblickt zu haben, verschaffte er sich erneut Ruhe, indem er wiederholt auf seine kleine Trommel schlug bis Ruhe eingekehrt war.
"Eibenhüter!
Es ist Winter und wir haben genug damit zu tun, Nahrung zu beschaffen und alles für das nächste Frühjahr in Ordnung zu bringen. Ihr wisst so gut wie ich, dass wir im Moment weder zu den Flussauen marschieren können, um uns mit Waffengewalt den uns zustehenden Ersatz zu holen, noch zur Irminsul, um einen großen Thing einzuberufen.
Deshalb schlage ich vor, dass wir zwei Boten zu Chrodegang schicken, so wie Rune gesagt hat, und um Erklärung bitten. Wenn es gut geht, werden sie uns für das nächste Frühjahr Ersatz zubilligen. Ich fürchte jedoch, so wie ich Chrodegang kenne, dass wir uns die Schweine und den Trockenfisch dann im nächsten Sommer dort selber abholen werden müssen."
Zustimmendes Gemurmel wurde laut.
"Derk! Nimm dir zwei Männer und reite zu Chrodegang. Die drei toten Diebe bleiben als Pfand hier im Dorf. Sag ihnen, wenn sie die Drei trotz ihres Frevels in Ehren in die Anderswelt schicken wollen, so können sie sie hier abholen. Aber wir erwarten eine angemessene Entschädigung. Wir werden ja sehen, was sie uns anbieten."
Derk nickte entschlossen und begann sofort seine Vorbereitungen zu treffen.
Vier Tage später, der Nordwind wütete noch entschiedener als vorher, bat eine Abordnung der Flussmenschen vor den Palisaden um Einlass. Odo empfing sie im Langhaus mit finsterem Gesicht.
"Was habt ihr uns zu berichten?"
Die drei vom Frost gezeichneten Boten schienen sich nicht besonders wohl in ihrer Haut zu fühlen.
" Mein Fürst!", begann der Sprecher von ihnen.
"Unser Fürst Chrodegang schickt dir diese zwei Schafe als Zeichen seiner guten Absicht. Die jungen Männer, die in eurem Wald gejagt haben, waren noch unerfahren und waren sich der Reichweite ihrer Tat nicht bewusst."
Lautes Murren und wütende Proteste der Umstehenden waren die Antwort.
"Der Fluss ist zugefroren und gibt uns keinen Fisch mehr. Unsere Vorräte sind größtenteils aufgebraucht und viele von uns leiden Hunger. Lass uns unsere drei Männer mitnehmen, damit wir ihnen einen ehrenvollen Abschied in die Totenwelt mitgeben können. Im kommenden Sommer werden wir euch nochmals einen Karren mit getrocknetem Fisch bringen."
"So leicht kommt ihr uns nicht davon."
"Halunken!"
"Männer, die die heiligen Gesetze nicht beachten, brauchen kein ehrendes Geleit ins Totenreich."
Die Zwischenrufe wurden lauter und übertrafen sich gegenseitig. Odo konnte sich nur mühsam Gehör verschaffen. Aber er ließ es auch gerne zu, dass die Flussmenschen sahen, welche gereizte Stimmung bei seinem Stamm herrschte.
"Für den Frevel, unter den heiligen Eiben Hirsche zu jagen, gibt es keine Entschuldigung. Das wisst ihr genauso gut wie wir."
Odo rang mit sich selbst um eine Lösung. Er wollte die gute Nachbarschaft zu den Flussmenschen nicht zu sehr belasten. Aber dieser versuchte Raub durfte auch nicht ungesühnt bleiben. Sonst war der Nachahmung Tür und Tor geöffnet.
"Cernunnos*, der Gehörnte, dem diese Tiere unterstehen, wird euch selbst dafür sein Opfer abverlangen. Aber auch uns werdet ihr nicht mit zwei Schafen dafür abspeisen können. Bringt uns im nächsten Frühjahr zwei Ochsenkarren voll mit Stockfisch und dann wollen wir dieses Mal Nachsicht mit euch haben. Sollten wir euch aber noch einmal in unseren Wäldern erwischen, so werden unsere Krieger euch die rechte Antwort geben. Geht und bringt Chrodegang diese Antwort. Und nehmt die toten Wilderer mit nach Hause."
Odo nickte knapp mit dem Kopf und wies mit der Hand zur Türe. Für die Boten war das sein Zeichen, dass die Anhörung beendet war. Mit eisigem Schweigen bildeten seine Stammesmitglieder eine Gasse, durch die die Boten den Raum verlassen mussten. Sie waren froh, als sie das Dorf und am Ende auch die Palisaden unbeschadet hinter sich hatten.
Obwohl die Strafe auch härter hätte ausfallen können, war sich Odo darüber im Klaren, dass zwischen ihm und Chrodegang von nun an eine unausgesprochene Feindschaft begonnen hatte. Den vorgeschlagenen Handel würde Chrodegang wohl zähneknirschend annehmen, aber eines nicht allzu fernen Tages würde er ihm diese Niederlage heimzahlen wollen. Und die Gelegenheit hierzu sollte schneller kommen als beide argwöhnten.