Читать книгу Der Fall der Irminsul - Jörg Meyer-Kossert - Страница 4

2 Rune

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Vorsichtig schob Iken das Fell beiseite, das den Eingang verschloss, und betrat die Hütte des Schamanen. Mühsam versuchten ihre Augen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Nachdem sie den Eingang wieder verschlossen hatte, war der kalte Nordwind draußen geblieben und ein intensiver Geruch nach Kräutern und Erde erfasste ihre Sinne. An den Wänden der Hütte hingen zahllose zusammengebundene Pflanzenbüschel, die zum Trocknen dort aufgehängt worden waren. Darunter sah Iken viele kleine Töpfe und Schalen, die mit Pulvern, kleinen Steinen, mit Federn und Wolle, mit Tierhaaren und scheinbar auch mit kleinen Knochen gefüllt waren. Als Schamane war Rune auch für die Kranken und Verwundeten in seinem Stamm zuständig, und so wunderte sich Iken nicht über diesen großen Vorrat an Heilkräutern. Es war ein unbezahlbarer Schatz und zeigte wie vorsorglich und gewissenhaft Rune seine Aufgabe wahrnahm. Daneben lagen in für Iken nicht erkennbarer Ordnung verschiedene Werkzeuge, ein Beil, Messer, Mörser und Stößel und andere Gegenstände, deren Anwendung Iken fremd waren. Zuwenig verstand sie von der Arbeit eines Schamanen.

"Warum kommst du nicht näher?", vernahm sie seine Stimme.

Rune war nirgends zu sehen. Im hinteren Teil der Hütte, soviel wusste Iken allerdings von ihren vorangegangen, seltenen Besuchen, befand sich ein niedriger, durch ein rot durchwirktes Tuch abgetrennter Bereich, den Rune unter anderem als Schlafraum nutzte. Respektvoll schob sie das Tuch beiseite. Der gemütliche kleine Raum war mit zahllosen Fellen, zwei Hockern und einer großen Liegestatt ausgestattet. In der Mitte qualmte ein kleines Feuer, über dem ein kupferfarbener Topf hing, in dem Rune scheinbar einen Tee bereitete. Platz für irgendwelche anderen Teile oder gar Besucher gab es nicht.

Rune blickte sie erwartungsvoll an.

"Was führt dich zu mir?"

Unschlüssig, ob sie sich hinsetzen sollte oder wie sie gar auf einen der beiden Hocker gelangen sollte, blieb sie einfach stehen. Rune schien diesen Platzmangel und ihre Unentschlossenheit überhaupt nicht zu bemerken.

"Ich möchte mit dir über meine jüngste Tochter Frigga sprechen."

Schweigsam musterte er sie. Iken war es leid. Sie arbeitete sich zu einem der Hocker durch und ließ sich nieder. Wenn er ihr keinen Sitzplatz anbot, so musste sie sich wohl selber einen nehmen.

Dann begann sie ihm vom gestrigen Geschehen in ihrem Langhaus zu erzählen. Sie ließ auch die früheren Bilder, die Frigga gesehen hatte, nicht aus und erzählte ihm alles, was sie in diesem Zusammenhang so mit Unruhe erfüllte.


Schweigsam hörte Rune ihrem Bericht zu. Schon nach wenigen ersten Sätzen ahnte er, was hier auf ihn zukam. Er ließ sich jedoch nichts anmerken. Reglos blieb sein Gesicht, während Iken redete.

Rune kannte das Mädchen nur oberflächlich. Blass, für ihr Alter ein wenig klein und mit einem wilden Haarschopf war sie ihm im Kopf geblieben. Das war alles, was er über sie hätte sagen können. Die Hütte der Eltern lag zudem nicht auf seinen gewohnten Pfaden und es hatte bislang auch kaum Grund für ihn gegeben, seine Wege dort vorbei zu lenken.


Ein Mädchen also?!

Dieser Gedanke war ihm bislang nicht wirklich ernsthaft in den Kopf gekommen. Sein eigener Lehrer war Yggsir gewesen, ein bärtiger muskulöser Schamane, und dessen Lehrer Ongard musste wohl ebenso wild und angsterregend ausgesehen haben. Wohl hatte es auch einige weibliche Schamaninnen in der Reihe der Vorfahren gegeben, doch kannte er selbst nun einmal nur diese letzten beiden und war bisher immer von einer weiteren männlichen Nachfolge ausgegangen.

Wenn es stimmen sollte, wenn also tatsächlich an der Aussage der Mutter des Kindes etwas dran sein sollte, dann wäre ihm selbst ein Fehler unterlaufen: dann hätte er sich nicht offen gehalten für die Schau seines Nachfolgers, sondern hätte - ohne es zu bemerken - einer unbewussten Unterstellung, einem Irrtum aufgesessen, einem Anfängerfehler gewissermaßen, der ihm als erfahrenen Schamanen niemals hätte passieren dürfen: sich ein Bild zu machen, bevor ihm die Bilder gegeben wurden!

Ein Unwohlsein lief durch seinen Körper.

Er gab sich einen Ruck. Iken durfte nichts bemerken von seiner Unsicherheit. Er musste fest und sicher wirken.

„Gut", sagte er mit tonloser Stimme.

„Du weißt, es ist deine Pflicht, mir von deinen Wahrnehmungen zu berichten. Und so hast du recht getan mich aufzusuchen. Was dein Kind betrifft, so werde ich mich nach altem überlieferten Gebot zurückziehen, um zu prüfen, was zu prüfen ist."

Er wandte sich um. Iken wusste nicht, ob das Gespräch beendet war und ob sie nun gehen musste. Reglos harrte sie und wagte nicht selbst etwas zu tun.

Rune ging ein paar Schritte auf ein langes hölzernes Eichenbrett zu, das an einer offenbar besonders hergerichteten Wand seines Zeltes von zwei kraftvollen, merkwürdig geformten Wurzeln getragen wurde. Verschiedene Gegenstände, mit denen Iken nichts anfangen konnte, waren darauf in sonderbarer Weise angeordnet. Aus einem Topf entnahm Rune getrockneten Beifuß und aus einem zweiten ein wenig Schlangenmoos. Er ging damit zu seinem ständig glimmenden Feuer in der Mitte des Raumes, setzte sich auf den Boden und bedeutete Iken, sich ein Stück hinter ihm ebenfalls niederzulassen.

Nach endlos erscheinenden Minuten der Stille, in der nur das leise Knistern der Glut zu hören war, begann der Schamane mit unbekannten Silben Worte zu murmeln, deren Sinn sie nicht verstand. Eine scheinbar tonlose Aneinanderreihung, reglos von Rune gesprochen, und dennoch lag eine Spannung über dem Geschehen, die Iken zugleich unheimlich wie heilig erschien.

Plötzlich und völlig unvermittelt warf Rune die Pflanzen in die Mitte der Glut. Ein scharfes Zischen durchschnitt die Stille und eine grelle Feuerzunge schlug empor. Für einen kurzen Moment war alles um sie herum hell erleuchtet. Und dann, genauso schnell wie alles gekommen war, war der Anblick vorbei. Die Glut jedoch war nicht mehr dieselbe: was vorher leicht orangerot vor sich hin geglommen hatte, war nun in ein wildes flackerndes Meer an Farben gewandet.

"Also gut", sagte Rune und erhob sich.

"Ich werde mir das Mädchen ansehen und dann die Stimmen befragen. Wir werden sehen."


Deutlich hatte das Feuer gesprochen. Rune hatte bereits aus Ikens Schilderung Klarheit darüber erlangt, dass das Mädchen genau die Zeichen zeigte, die für eine spätere Schamanin unverzichtbar waren.

Doch das Feuer verriet ihm noch mehr! Schicksalhaftes bahnte sich mit dem Mädchen an. Das bunte Farbenmeer offenbarte, dass er und viele andere eingebunden würden und dass es galt, keinen Fehler zu begehen. Aber hierüber wollte er Iken zunächst in Unkenntnis lassen. In scheinbarer Gleichgültigkeit bedeutete er ihr, dass die Unterredung nun vorerst zu Ende sei, und nachdem sie gegangen war, machte er sich auf, um das Kind bei seiner Arbeit und beim Spielen mit den Freunden zu beobachten und in ein unverfängliches Gespräch zu verwickeln. Er wollte so den Zugang zu ihrem Wesen gewinnen, den er für seine weiteren Schritte benötigte.


Am nächsten Morgen verließ er das Dorf, um sich zur Befragung an seinen Kraftort zu begeben.

Zuvor hatte er die Kleidungsstücke angelegt, die er immer dann anzuziehen pflegte, wenn er sich zu einer außergewöhnlichen Reise zurückzog. Sie waren Bestandteil seines Rituals und brachten ihn auch äußerlich in einen besonderen Zustand.

Gesammelt und konzentriert, sich auf die heilige Handlung vorbereitend, hatte er Stück für Stück mit Bedacht in seine hageren, für einen Mann eher feingliedrigen Hände genommen und hatte sie sich übergestreift. Es dauerte längere Zeit, Minuten voller Bedachtsamkeit, in der er sich von Teil zu Teil zu verändern schien. Dann stand er da: sein Gewand aus Fellen, verschiedene, prächtige Fellstücke der unterschiedlichsten Tiere, darunter nackt, nur der Stein im weichem Hirschlederbeutel nah am Körper. Es war sein ovaler weißer Stein "Tondar", der ihn einst gerufen hatte, als er sich für viele Wochen in die Wälder zurückgezogen hatte. In einer Felsspalte hatte er ihn blinken sehen und hatte ihn unter Lebensgefahr zu sich geholt. Seitdem war er sein fester Begleiter, sein Ratgeber, sein Beschützer, der einzige, der ihn in die Anderswelt begleiten durfte.

Er warf sein Obergewand um, das im Gegensatz zu seinem Fellgewand schlicht und unscheinbar war. Dann nahm er seine lederne Kopfbedeckung vom Haken. Sie war mit wilden Federn geschmückt, mit Holzklappern und Steinchen wirr behangen, damit sie bei jeder Kopfbewegung klangvoll aneinander stießen und er sich damit selbst in einen beliebigen Rhythmus tragen konnte.

Als er sie mit den Händen griff, hielt er kurz inne: War er noch der gleiche, der, der gestern noch mit den fröhlich spielenden Kindern geulkt hatte? Der, der allmorgendlich seinen Wasserkessel zum Brunnen trug, um ihn aufzufüllen, um seinen Tee damit zu bereiten? Und der dabei die Leute des Dorfes mit frischen Sprüchen auf den Lippen zum Tagewerk anhielt? - Er lächelte. Wusste er doch und fühlte es bereits kraftvoll in sich: er hatte sich bereits mit dem Ankleiden ein stückweit von der Außenwelt getrennt und von der Person, wie sie von den anderen dort wahrgenommen wurde.

Er faltete die Kopfbedeckung zusammen und legte sie an den dafür vorgesehenen Platz in seiner Felltasche, die mit Räucherwerk, Kräutern, verschiedensten Feuergewerken gefüllt war. Dann gürtete er die Tasche und legte als letztes sein Messer an, das er nur für seine ganz speziellen Rituale verwendete. Ein letztes Mal blickte er auf das Innere in seinem Zelt; er bat seine Helfer um Beistand, löschte das Feuer und drehte sich um. Weder Getränk noch Mahlzeit nahm er mit. Er klappte das Fell zur Seite und machte sich auf den Weg.


Er verließ das Dorf in Richtung der aufgehenden Sonne. Erst weit später schlug er die eigentliche Richtung ein. Vorher jedoch drehte er sich zum Dorf um, zog auf der Erde mit einer Haselrute einen Kreis um sich und sprach einen Bann - er wollte sicher sein, dass ihm niemand folgte.

Sein Ziel war ein Ort, den nur er kannte; sein geheimer Rückzugsort, den er bei wichtigen Fragen wie dieser aufsuchte. Ungewiss war, wie lange er fortbleiben würde - dies bestimmte nicht er selbst. Vielmehr lag alles Weitere in der Hand der Helfer, die zu treffen er aufgebrochen war.

Nachdem Rune seine neue Richtung eingeschlagen hatte, verfiel er in einen gleichmäßigen, monotonen Schritt. In der unendlichen Weite des Schnees wurden alle Geräusche dumpf geschluckt - tiefe Stille umgab ihn. Er hatte sich zwei derbe Haselruten beschafft, die ihm als Stöcke dienten. So umgab ihn nur der regelmäßige Takt seiner Schritte und das schleifende Tack -Tack der Stöcke im Schnee, dem er sich ganz überließ. Automatisch passte sich bald schon sein Atem diesem Rhythmus an und nach einer Weile war er bereits ein Stück in die unteren Sphären seines Selbst gesunken. Er bemerkte weder Kälte noch Anstrengung. Tack - Tack - Schritt - Schritt; nur das allein drang an sein Ohr und wies ihm den Weg. Automatisch wandte er sich hier nach links, dort nach rechts. Blind fand er den Weg, zu oft schon war er ihn gegangen.

Doch ab einer ungewöhnlich geformten Felsengruppe wurde er plötzlich wieder hellwach für Zeichen im Außen:

"Gut so", murmelte er, als er im Schnee die frische Spur eines Fuchses kreuzte. Und wenig später nickte er zufrieden mit dem Kopf, als er erst in den frühen Morgenstunden abgeknickte Äste einer Tollkirsche erblickte.

"Gut! Sehr gut!"

Nach Stunden erreichte er eine einzelne Eiche, die am Eingang dieses Tales stand, einem Torpfeiler gleich, hoch, knorrig und von kräftigem Wuchs. Rune hielt an, legte Felltasche und Messer ab und verneigte sich tief vor dem Baum.

"Sei gegrüßt, Hüter des Tales", sprach er.

"Ich bin gekommen wie immer. Wieder einmal bitte ich dich um deine Kraft und um deinen Schutz."

Dann stellte er sich nah vor den Baum. Mit dem Gesicht ihm zugewandt erhob er beide Arme weit nach oben und berührte mit den Handflächen die rissige Rinde. Er schloss seine Augen und neigte den Kopf, sodass auch die Stirn Kontakt mit dem mächtigen Baumriesen bekam. Mit seinen gespreizten Beinen stand er schräg gegen den Baum gelehnt als ob er ihn stützte. In seinen Ohren begann ein hintergründiges Rauschen, dunkel und wild, das zu einem tiefen Dröhnen anwuchs. Von den Handflächen an spürte er einen mitreißenden Strom seine Arme herablaufen, und weiter durch seinen Hinterkopf sein Rückgrat hinunter. Sein Blut im Körper toste. Die Eiche und er waren verbunden, ihre Kraft floss in seiner und seine in ihr und er wusste: sein Kommen würde nicht umsonst sein.

Lange verharrte er in dieser Haltung und spürte den Kreislauf zwischen Eiche und Ihm, zwischen Wasser und Fleisch, zwischen Naturgeistern und ihm, dem Schamanen. Und irgendwann, als der Zeitpunkt gekommen war, als die gegenseitige Begrüßung ihr Ende gefunden hatte, und das wunderbare Ineinander Tanzen sich gelegt hatte, gab er sich aus der Umschlingung frei - aufgeladen, gereinigt, die Kräfte egalisiert, er und die Eiche, die Eiche und er - ein und dasselbe Kraftfeld!

Von nun an war er sich der guten Zeichen sicher. Nur eines noch galt es abzuwarten!

Er dankte dem Baum, hob Messer und Felltasche auf und ging die Böschung herab, dem Tal entgegen. Kurz nach einer leichten Bodenerhebung konnte er in der Ferne, deutlich abgegrenzt vom Dickicht anderer Bäume, drei weitere Eichen ausmachen, nah an einer Felswand, seitlich im Tal. Sein Ort! Er war ganz nahe!

Nun kam die letzte Ungewissheit. Er wusste: wenn er jetzt etwas falsch machte, war seine Sache in Gefahr. Still ließ er sich nieder, da wo er gestanden hatte, ohne Deckung, weit sichtbar für jedermann. Er kreuzte die Beine und spürte in den Atem des Tales hinein.

Nach einer Weile legte er beide Hände an den Mund, formte die Finger seiner rechten in ungewöhnlicher Weise um die der linken Hand und gab dann drei schrille kurze Pfiffe von sich. Laut schallten sie in die Weite und Tiefe des Tales hinein.

Warten - das war die leichteste Übung! Niemals hätte er sich hierüber Gedanken gemacht. Nein, die Schwingung war es, die stimmen musste, die Schwingung zwischen ihm und dem Tal und dem, auf das er wartete!

Doch da sah er es! Behände und leichtfüßig, quirlig und doch zielgenau, hüpfte und sprang ihm etwas über Baumwipfel, Äste, Zweige und dann auch wieder am Boden über den Schnee entgegen. Sein Freund! Sein Freund und langjähriger Helfer, ohne den die Reise nicht gelingen konnte: das Eichhorn, welches in den drei Eichen wachte, während er seine Sache vollbringen würde!

Rune hatte Nüsse mitgebracht und andere schmackhafte Samen, die er nun mit ruhiger Hand dem Eichhorn anbot. Es nahm sie aus seiner Hand entgegen und fraß. Er fühlte die Wärme des Fells, die kleinen Krallen und den weichen buschigen Schwanz, und Freude durchströmte sein Herz. Nun wusste er sich endgültig willkommen geheißen!


Alles Weitere war wie ein wiederkehrendes Nachhause kommen. Beiden waren die nächsten Schritte klar: auf dem Weg zu den drei Eichen wurde Rune von dem wissenden Tier begleitet; als er ankam und sein Begrüßungsritual begann, blieb das Tier still auf seiner Schulter, und als Rune im Anschluss die nahegelegene Felswand nach dem Eingang zur Höhle absuchte, in die er sich zurückziehen würde, sprang das braune Tierchen als erstes voran in die modrige Luft hinter den bei der letzten Abreise von Rune aufgeschichteten Reisigzweigen.

Er war angekommen und alle Zeichen verhießen eine gute Verbindung. Die nächsten Tage verbrachte Rune mit der unmittelbaren Vorbereitung der Reise: Kontakt aufnehmen mit dem Geist des Tales, die Verbindung mit den Tieren, Pflanzen, Mineralien und der Natur herstellen, um so das Netz der Kraft ganz direkt erfahren zu können! Er würde nur reisen können, wenn sein Bewusstsein mit dem Feld der Elemente dort verbunden war.

Dazu gehörte, dass er ausschließlich aß, was im Tal gewachsen war, und trank, was durch die Böden- und Gesteinsschichten des Tales gesickert war. Hierfür hielt er in der Höhle stets Vorräte aus allen Jahreszeiten bereit: Wurzeln und getrocknete Beeren, Rinde, Pilze und Blattwerk und diverse weitere essbare Anteile, selbst Erde wie auch Asche von verschiedenen Feuerzeremonien hatte er in unterschiedlichen Behältnissen in der Höhle vorrätig.

Tropfwasser aus der Höhlendecke, welches sich in einem natürlich entstandenen Becken fing, hatte er in einem kleineren Überlaufbehälter so aufgefangen, dass er selbst im Winter, wie jetzt, diesen nur über seine Feuerstelle hängen musste, um das sachte darin geschmolzene Wasser anschließend zu sich nehmen zu können.

Er aß nur kleine Mengen. Wasser jedoch trank er ausgiebig. Stundenlang saß er am Ausgang der Höhle. Von der kleinen Anhöhe sog er den Blick in das stille Tal in sich auf und fühlte sich mit allen seinen Sinnen in es hinein, um sein Bewusstsein zu den Wesen darin auszudehnen. Sobald die Dämmerung kam, umkreiste er sein Feuer und sog den Rauch der verbrannten Materialien tief in seine Lungen hinein. Dabei trug er seinen Kopfschmuck, schwang den Kopf in verschiedensten Rhythmen, und ließ die Klangteile prasselnd aneinanderschlagen, bis die Wogen der Energie abebbten und ihn in ein gleichmäßiges Stampfen mit seinen Füssen auf dem Boden der Höhle führten.

Erst als er sich tief verbunden wusste mit allen Elementen des Tales, dem Geist der Pflanzen, sowie mit Wind, Sonne, Wasser und Schnee, begann er sein eigentliches Vorhaben.

Neben seiner Feuerstelle nahm er eine Hand voll kleiner Steine, sehr unterschiedlich in Farbe, Material und Struktur, bedächtig in beide Hände. Er verweilte. Ihre Frequenzen, ihren unterschiedlichen Geist, ihre Energie zu fühlen, mit ihnen zu kommunizieren und zu hören, welche Botschaften sie ihm übermitteln wollten, fiel ihm jetzt leicht.

"Gibt es etwas, was ihr mir mitteilen möchtet?"

"Habe ich eure Erlaubnis, mit euch meine Reise einzuleiten?"

Der Geist der Mineralien zeigte sich ihm. Aufmerksam hörte Rune zu. Er nahm sie mit allen Sinnen wahr.

Dann warf er sie vor sich auf den sorgfältig bereiteten Boden. Rune blickte still und unverwandt auf das gefallene Muster. Nach endlosem Starren schloss er die Augen. Er war bereit! Er lud die Mächte des Tales ein, mit ihm auf die Reise zu gehen. Eine Antwort erbat er, eine Antwort zur Frage: was hat es mit dem Mädchen auf sich, mit Frigga, dem kleinen, unscheinbaren Kind aus seinem Dorf?

Still wartete er ab, horchend, demütig, nichts fordernd, nichts erwartend, nur offen, offen, weit... weit... in einer anderen Ebene versunken, dennoch präsent und klar und um sein Anliegen bewusst. Es zeigte sich ein Kreis verschiedener Helfer um ihn. Er könne wählen, hieß es, wählen, wer mit ihm auf die Reise gehen sollte. Er fragte, ob die weise Alte da sei:

"Die, die alles weiß, die, die alles sieht."

Es erhob sich aus dem Kreis eine in graues Linnen gekleidete Alte, gestützt auf einen schweren Knüppel. Ihre Konturen waren noch verschwommen. Füße, in einfachen Holzschuhen, sah er, Rockzipfel an den Knöcheln, darüber eine Schürze. Doch schon pochte die Alte drei Mal energisch mit dem Knüppel auf dem Lehmboden auf und forderte ihn auf, mit ihr zu kommen. Es gelte, einen langen Weg zu beschreiten.

Sie gingen. Lehmiger, schmaler Pfad. Weit schien er in die Ferne zu führen. Doch schon nach einer

kurzen Strecke hielt die Alte neben einer einfachen Pfütze an. "Hier müssen wir hinein! Schau in die Tiefe! Wirst du es schaffen?"

Er blickte in das modrige Wasser. Unter der Oberfläche dunkle Ungewissheit. Ein schwarzes Loch tat sich auf. Das Loch - tief drangen seine Augen hinein. Noch spürte er seine Füße auf dem lehmigen Boden, sah die Alte, wie sie neben ihm am Rande der Pfütze stand. Doch sogleich sanken sie beide in das schwarze Maul, in die Öffnung, Schwerelosigkeit begann.

Ein schwarzer Tunnel führte in die Tiefe. Spiralförmig glitten sie tiefer und tiefer. Tiefer noch. Nochmals tiefer! Der Tunnel verzweigte sich.

"Rechts oder links? Wähle!", forderte die Alte.

Rune zögerte. Was würde ihm vorenthalten bleiben, wenn er sich für eine der Richtungen entschied? Welch anderer Weg niemals wieder erreichbar? Die Alte drängte. Rune wählte.

"Links", entschied er.

Der weitere Weg führte in unglaubliche Tiefen, schwarze Pupillen unzähliger Augen umkreisten ihn, dunkle Nebel - bis der Ruhepol erreicht war, der die Antworten brachte. Einfach waren sie, klar, deutlich - so klar! Wie gut, dass er gekommen war!

Dann der Rückweg. Er glaubte, die Reise gehe ihrem Ende zu, die Antworten seien gegeben worden. Noch einmal erreichten sie die Weggabelung. Doch wider Erwarten wurde Rune zum Anhalten aufgefordert. Erstaunt hörte er die Alte fragen:

"Du darfst auch noch die rechte Seite schauen! Möchtest du?"

Rune zögerte nicht. Die wilde Reise verlief nun ins Helle, nach oben. Höher, höher, höher. Von ganz oben, vom Wipfel des Weltenbaums* herab, winkte sein Eichhorn zu ihm herunter. Und er schaute wahnwitzige Bilder, Bilder, von denen er nicht geglaubt hätte, dass sie gesehen werden könnten. Bilder, die seine Vorstellungkraft sprengten - und doch wusste er: was er hier sah, würde Wahrheit werden: Die Welt der Sachsen würde bedroht werden! Blut tränkte die Schlachtfelder, fremde Götter erschienen in ihren heiligen Hainen und Ikens Tochter war die Schamanin, die das Volk in diesen schweren Tagen führte. War sie in seine Fußstapfen getreten? Sich selbst konnte er nicht erblicken.

Als Rune wieder zu sich kam mussten Stunden vergangen sein. Er war bis zur Quelle gekommen! Erschöpfung und Glücksgefühl waren in ihm. Zugleich Entsetzen. Am Wahrheitsgehalt gab es nichts zu zweifeln! Das erste was er von der mittleren Welt spürte, waren die Krallen des Eichhörnchens, welches auf seiner Schulter saß. Es hatte ihn bewacht und zur rechten Zeit zurückgeholt.

Guter Begleiter!

Rune hatte sich immer auf ihn verlassen können. Schon mancher war in der Anderswelt geblieben und hatte den Weg zurück nicht mehr gefunden.

Auf seinem Heimweg konnte er nicht anders als an die Zukunft denken. Was würde sie mit sich bringen für seinen Stamm, für die Sachsen, was für ihn selbst und welches Schicksal würde Ikens Tochter erfahren?

Wie auch immer. In seiner Verantwortung würde es liegen, dafür zu sorgen, dass sie eine entsprechende Ausbildung bekäme und für ihre Aufgabe gewissenhaft vorbereitet würde. Auf jeden Fall musste er zunächst mit Iken sprechen.


Am nächsten Morgen hatte er sie zu sich gerufen. Er hatte ihr erklärt welche Bedeutung die Bilder hatten, die in Frigga immer wieder hochkamen und dass ihre Tochter jetzt lernen müsse mit ihnen richtig umzugehen.

"Sie hat alle Anlagen, die eine Schamanin benötigt. Aber ohne Anleitung wird sie nur darunter leiden und sie nicht richtig zu gebrauchen wissen. Deshalb möchte ich sie ausbilden und in meine Lehre nehmen."

Betroffen hatte Iken vor ihm gesessen, hatte eine Weile nur auf den Boden gestarrt. Die Gedanken waren in ihrem Kopf aufgetaucht, ohne dass sie sie selbst erdacht hätte. Sie kamen und gingen, mehr Ahnung als Überlegung, mehr Angst und Sorge als Nachdenken. Iken war kaum imstande sich ihrer aufkommenden Tränen zu erwehren.

"Lass mir meine Tochter, nimm sie mir nicht weg. Ich weiß, welche Last auf deinen Schultern liegt. Die Aufgabe eines Schamanen ist wahrlich kein leichtes Amt. Dafür ist Frigga nicht geschaffen. Schau sie dir doch an, wie zerbrechlich und dünn sie ist. Einer solchen Aufgabe wäre sie nie gewachsen. Ich bitte dich, erspare ihr diesen Lebensweg!"


Rune, der ein weiches Herz hatte, tat sich schwer mit dieser Situation. Einer Mutter, die um ihr Kind bat, ein "Nein" entgegen zu werfen, brachte er nicht fertig. Aber die höhere Pflicht zu vernachlässigen, dieses Kind seiner Bestimmung zu zuführen, wäre verwerflich. Das Für und Wider sorgfältig abwägend, entschloss sich Rune einzulenken, wohlwissend, dass Frigga ihrer Bestimmung ohnehin nicht aus dem Weg würde gehen können.

Vorerst wollte er sich der mütterlichen Sorge beugen und Frigga in ihrer Familie belassen. Aber seine Pflicht, ihren Lebensweg zu unterstützen, war ihm in der jenseitigen Welt zu deutlich gemacht worden. So würde er vorerst im Hintergrund bleiben, jederzeit bereit, helfend einzuspringen, wann immer es notwendig werden würde.


Soviel hatte er bei seinem Eintauchen in die andere Welt gesehen, in so viele Geschehnisse war ihm Einblick gewährt worden. Und doch musste er bei diesem Gespräch wieder einmal demütig anerkennen, dass das Schicksal ungeahnte Wege bereithielt, deren verschlungene Pfade ihm nicht offenbart wurden und die doch zum geweissagten Ziel führen würden.


Der Fall der Irminsul

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