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3 Chrodegang

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761 n.d.Zw. Eine Siedlung der Sachsen im Emsland


Es tropfte von den Ästen und Bäumen. Es tropfte vom Himmel ohne Unterlass. Und auch der Speer ließ ein nicht endendes Rinnsal von Wasser auf den Boden fließen. Jeder Schritt hinterließ ein saugendes Geräusch im morastigen Boden der Flussauen. Der an einer großen Windung der Ems liegende, nur leicht befestigte Ort stand ohnehin auf einem Boden, der aufgrund der Flussnähe immer leicht feucht war. Jetzt aber, wo es seit Wochen geregnet hatte, sanken die Menschen, wo sie auch gingen und standen, bis zu den Knöcheln im Schlamm ein.

Die beiden benachbarten Stämme der Eibenhüter und der in den Flussauen lebenden Flussmenschen hätten sich keinen schlechteren Zeitpunkt für diesen Kampf aussuchen können. Aber der Herbstwind fegte bereits die ersten bunten Blätter von den Bäumen und man wollte diesen Entscheidungskampf nicht weiter hinausschieben. Im Winter waren alle froh, wenn sie nicht draußen in der Kälte unterwegs sein mussten. So hatten sich Rune und Hrabanus, die beiden Schamanen, schließlich auf den heutigen Tag geeinigt. Es war drei Tage nach der Tag- und Nachtgleiche. Eine Zeit des Übergangs, in der sich der Sommer verabschiedete und der Herbst die Herrschaft übernahm. Für die heutige Entscheidung sicher ein idealer Zeitpunkt, da er Veränderungen, gleich welcher Art, möglich machte. Aber er rückte auch die Anderswelt nah an die Menschen heran, sodass ihr Einfluss nicht zu leugnen war. Sollten die jenseitigen Kräfte einen der beiden Gegner bevorzugen, so waren diese Tage bestens geeignet, ihren Willen zu spüren.


Eigentlich hätte der Kampf überhaupt nicht stattfinden müssen. Die beiden Stämme hatten seit vielen Jahren eine gute Nachbarschaft gepflegt. Nur Chrodegang hatte seit einiger Zeit dieses Kräftemessen gewollt und hatte es gesucht.

Nach der Wilderei im heiligen Eibenwald war die Zwietracht zwischen Odo und Chrodegang schon kaum noch zu verhindern gewesen. Aber als vor sechs Jahren der große Thing* an der Irminsul Odo zum neuen Anführer aller westfälischen Sachsenstämme ausgerufen hatte, da war die Feindschaft offen zu Tage getreten.

Kurz zuvor war Siard von Corvey nach langer Vorherrschaft in hohem Alter gestorben und es musste ein neuer Fürst der Sachsenstämme gewählt werden.

Chrodegang von den Flussauen war gegen ihn, Odo von den Eibenhütern, angetreten, um sich wählen zu lassen. Aber Chrodegang war noch jung und ein unberechenbarer Hitzkopf. Wenn es in schwierigen Lagen nach seinem Kopf ging, so sollte stets das Schwert die Entscheidung bringen. Umsicht und Versöhnung waren Eigenschaften, die kaum einmal Zugang zu seinem Herzen fanden.

Und nicht zuletzt hatten viele Stämme den Frevel, den er ihm Wald der Eibenhüter begangen hatte, noch nicht vergessen. Sie hatten Angst, Cernunnos, den obersten Gott des Waldes gegen sich aufzubringen, wenn sie einen Mann zum Fürsten der Stämme wählten, der gegen dessen uralte Gesetze verstoßen hatte als er unter diesen heiligen Bäumen Tiere hatte jagen lassen.

Und so hatten die meisten Stämme damals für Odo gestimmt und ihn zum neuen Anführer gewählt. Um die ewige Zwietracht unter den Stämmen zu unterbinden, wurde von allen Stammesführern ein Eid auf den neu gewählten Anführer geleistet.


Chrodegang hasste ihn seitdem. Jede gemeinsame Entscheidung der Stämme wurde von ihm nur soweit mitgetragen, wie er unbedingt musste. Bot sich ihm auch nur die kleinste Gelegenheit, Odo eins auszuwischen, so tat er es.


Im Frühjahr des auf die Wahl folgenden Jahres hatte Karl, der Frankenkönig, die Eresburg angegriffen. Odo war mit seinen Männern zur Hilfe geeilt und hatte die Stämme, die in der Nähe wohnten, um weitere Krieger gebeten. Viele waren gekommen, manche mit kleinen Truppen, manche mit größeren. Nur Chrodegang hatte die Boten zurückgeschickt und hatte ausrichten lassen:

"Wenn der große Fürst Odo bereits an der Eresburg weilt, dann werden Chrodegang und seine Flussmenschen nicht mehr nötig sein. Solltet ihr aber nach einem weiteren Mondumlauf immer noch nicht Herr über die Franken geworden sein, so schickt uns nochmals Boten."


"Eine Unverschämtheit!"

Odo hatte getobt.

"Er hat mir den Treueeid als Anführer der westfälischen Sachsenstämme geleistet. Wenn er sich an diesen Eid nicht mehr halten will, so ist er es auch nicht mehr wert, Anführer der Flussmenschen zu sein. Wir werden auch ohne ihn siegen und danach wird er Besuch von uns erhalten."

Aber die Zeichen standen schlecht auf der Eresburg. Karl der Große war mit einem Heer von über 13000 Mann angerückt. Mehr als 2000 von ihnen waren gepanzerte Reiter. Die Eresburg war zwar gut befestigt, aber gegenüber einem solchen Heer würden sie auf die Dauer nicht bestehen können. Odo hatte mit seinen 4000 Kriegern nicht gewagt, die Übermacht des Frankenkönigs in einer offenen Feldschlacht anzugreifen. Nach einem Mondumlauf hatte er nochmals Boten zu Chrodegang gesandt, aber wiederum nur eine ausweichende Antwort erhalten. Nach zwei weiteren Mondumläufen war die Eresburg dann gefallen.

Zermürbt und abgemagert waren Odo und sein Heer in ihre Dörfer zurückgekehrt. Und jetzt hatte er auch noch die schwierige Aufgabe, Chrodegang für seinen Treuebruch zur Rede zu stellen. Dabei ging es nicht nur um eine Zurechtweisung, vielmehr war sein Ziel, dass Chrodegang seinen Treueeid erneuerte. Zum Kampf gegen die Franken brauchte er die Unterstützung aller Stämme, auch die der Flussmenschen.

Nochmals Boten zu schicken, hatte er vermieden. Er wollte sich nicht erneut verhöhnen lassen. Und aufschieben ließ sich diese Angelegenheit angesichts des bevorstehenden Winters noch nicht einmal für wenige Wochen. Würde er erst im nächsten Frühjahr zu Chrodegang reiten, würde sich dessen Haltung verfestigen und Odos Ansehen bei vielen Stämmen bis dahin geschwächt sein. Das konnte er sich als Anführer nicht leisten. Es galt also, jetzt zu handeln - so schwer es ihm auch fiel.


Vor drei Tagen war er deshalb mit einer kleinen Streitmacht von hundert seiner edelsten Krieger vor den Toren der Flussmenschen erschienen. Alle seine Eibenkrieger hatte er nicht mitnehmen wollen. Zu sehr hätte das nach einem Feldzug gegen die Flussmenschen ausgesehen.

Ruhig und verträumt lag die Siedlung da. Schon von weitem fiel die offene Bauweise der Flussauensiedlung auf. Da die Siedlung von drei Seiten von der Ems umflossen wurde, hatte man nur die vierte offene Seite mit einem Wall und Palisaden gesichert. So hatten die Menschen auch ungehinderten Zugang zu ihrer Hauptnahrungsquelle, dem Fluss. Er versorgte sie mit Fisch, kleinen Krebsen und natürlich mit frischem Wasser. Sollten sie allerdings irgendwann einmal von der Flussseite her angegriffen werden, so gab es nur wenig Schutz und der Ort war leicht zu erobern, wozu man aber Kanus oder Flöße hierhin hätte transportieren müssen oder vor Ort erbauen müssen. Großen Reichtum hatten die Flussmenschen jedoch nie anhäufen können, dass ein solcher Aufwand sich gelohnt hätte. Sie hatten ihr Auskommen, aber im Überfluss hatten die Menschen hier nie gelebt.

Wie anders, dachte Odo, war doch seine Eibenhütersiedlung. Durch die ausgedehnten Eibenwälder waren ihnen seit je her üppige Einkünfte zugeflossen. Das Holz war hoch begehrt. Für Bogen und Speere gab es nichts Besseres. Aber auch Küchengeräte, Messergriffe, Axtschäfte und Werkzeuge wurden aus Eibe hergestellt. Die Eibenhüter hatten diese Dinge selber angefertigt. Viele Handwerker hatte der Ort so hervorgebracht: Drechsler, Schmiede, Schnitzer und Händler, die all die erzeugten Waren zum Verkauf auf die Märkte brachten. Irgendwann hatte sich ein eigener Markt für die vielen Handelserzeugnisse des Ortes entwickelt. Seitdem ging es quirlig und geschäftig in der Eibenhütersiedlung zu. Entsprechend dem wachsenden Reichtum hatten die Eibenhüter ihre Siedlung immer wieder neu mit einem Befestigungsring gesichert. So umgaben inzwischen zwei aus Steinen gebaute Ringe den Ort. Mit Stolz blickten die Bewohner auf ihre stetig wachsende Festung.

Bald hatten Odo und seine Mannen den Wall der Flussauen erreicht. Als die Wächter auf den Palisaden nach seinem Begehr fragten, rief er ihnen zu:

"Ich bin Odo, den ihr auf dem Thing an der Irminsul* zum Anführer aller Sachsen gewählt habt. Schickt endlich Chrodegang zu mir. Er soll sich für seinen gebrochenen Treueschwur verantworten."

Kurz danach war Chrodegang in feinsten Gewändern auf der Brüstung erschienen. Goldene Reifen zierten seinen Hals und seine Unterarme. Sein Lederwams war mit kostbarem Hermelin gesäumt und auf der Brust trug er das blaugebänderte Wappen der Flussmenschen. Rüstung hatte er nicht angelegt, aber seine edle Kleidung war wohl der Versuch, allein durch sein Auftreten zu zeigen, welche Position er bekleidete und wer hier der oberste Anführer war.


"Hier bin ich. Was willst du von mir?"

"Ich will von dir wissen, warum du deine Brüder in der Eresburg im Stich gelassen hast?", rief Odo zu ihm herüber.

Er saß immer noch auf seinem grau gefleckten Schimmel. Zwar waren die Pferde nach dem langen Ritt verschmutzt und in keinem besonders guten Zustand. Aber auf seinem Schlachtross machte er immer noch einen imponierenderen Eindruck als zu Fuß. Das wusste Odo. Er spürte die Erniedrigung genau, die von der momentanen Situation für ihn ausging. Er selbst stand in verschmutzter Kriegskleidung vor verschlossenen Toren und wurde nicht eingelassen. Das war in keinster Weise ein Empfang, wie er einem Anführer der Sachsen gebührte.

Chrodegang dagegen genoss seinen gut vorbereiteten Auftritt in glänzenden Kleidern und aus gesicherter Position auf den Palisaden.

"Warum öffnest du nicht die Tore? Die Kinder in deinem Dorf werden denken, ihr Anführer habe Angst!"

Chrodegangs Gesicht versteinerte sich.

„Was willst du? Wieder gegen den Franken ziehen? Dann tu es allein! Meine Krieger werden nur meinem Oberbefehl Folge leisten. Für dich werden sie nicht zum Schwert greifen. Wer so viele Krieger um sich versammelt hat und dann den Franken immer noch nicht ins Totenreich zu schicken vermag, hat es nicht länger verdient, unser oberster Befehlshaber zu sein. Einem solchen Mann fühle ich mich nicht mehr durch meinen Schwur verpflichtet."


Erschrockene Stille breitete sich aus. Alle hielten den Atem an. Für Sekunden nur. Aber die bleierne Schwere dieses Augenblicks war auf beiden Seiten der Palisaden angefüllt mit banger Angst und mit der Frage, wie Odo reagieren würde. Die Zukunft der Sachsenstämme lag in der Luft, reif zur Entscheidung, reif wie ein Rind, das zur Schlachtbank geführt wurde.

Allerdings hatte die Äußerung Chrodegangs die Antwort von Odo eigentlich schon vorweg genommen. Diese provozierenden Worte waren eine offene Beleidigung für Odos Ehre. Das konnte nur eines bedeuten:

Genugtuung!

Mit seinen hundert Kriegern war er dem ganzen Stamm der Flussmenschen allerdings hoffnungslos unterlegen. Zu wertvoll waren außerdem diese Männer für die schweren Zeiten, die seinem Stamm noch bevorstanden.

Odo gab sich einen Ruck und straffte sich.

"Deine Männer sind für diesen Treuebruch nicht verantwortlich. Du selber hast entschieden, die Männer an der Eresburg im Stich zu lassen. Also stelle dich wenigstens jetzt und kämpfe!"


Und so hatte das Schicksal seinen Lauf genommen. Odo war nichts anderes übriggeblieben, als Chrodegang zum Zweikampf herauszufordern, und Chrodegang war endlich an sein lange gehegtes Ziel gelangt, die Gelegenheit, auf die er schon so lange hingewirkt hatte, Odo zu Fall zu bringen. Er war zuversichtlich, den wesentlich älteren Odo in die Knie zu zwingen.


Unruhig schnaubend tänzelte sein Pferd jetzt im Kreis herum. Die Unruhe seines Reiters übertrug sich zusehends auf den schwarzen Rappen. Für ihn stand viel auf dem Spiel. Wenn er unterlag, würden die Edlen seines Stammes ihn nicht mehr als Anführer akzeptieren. Zuviel hatte er in den letzten Jahren als Anführer durchgesetzt, was nicht mit den althergebrachten Regeln des Sachsenvolkes übereinstimmte.

Während Chrodegang sich dieser Belastung bewusst wurde, sah er wie ruhig Odo in den Kampf ging. Er hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen, seine Leute standen wie ein Mann hinter ihm und selbst wenn er unterlag, würde sie ihn sicherlich weiter als Anführer unterstützen. Chrodegang wusste, dass er am Scheideweg stand. Sein unbändiger Ehrgeiz hatte ihn bis hierhin gebracht. Er hing ihm wie ein Mühlstein am Bein. Aber er war auch die Antriebsfeder für seinen Aufstieg gewesen. Sollte er ihm jetzt doch auch die nötige Kraft geben, Odo aus dem Weg zu räumen. Voll innerer Erregung drückte er seinem Pferd die Stiefel in die Seiten.

"Loki* mit mir!"


Das dumpfe Klopfen der Hufe zeigte den Aufgalopp der Gegner auf der großen Lichtung vor dem Dorf an. Chrodegang war prachtvoll gekleidet und trug eines der bei den Sachsen seltenen Kettenhemden, was die anerkennende Bewunderung aller Anwesenden ebenso hervorrief wie die mit Runen kunstvoll bestickte Reitdecke.


Odo hatte sich für den Zweikampf nicht so gut vorbereiten können. Seine Behausung war weit weg, sein Weg hierher lang und frostig gewesen. Aus Skepsis gegenüber Chrodegangs Falschheit hatte Odo es vorgezogen, im Freien zu zelten und hatte mit seinen Leuten die Unterkunft innerhalb des Dorfes verschmäht. So kam er einfach daher. Lediglich die Waffen, die er trug, zeigten seinen hohen Stand an.

Ohne Umschweife ritten die beiden Kämpfer gegeneinander. Die Äxte und Speere flogen, die Schilde splitterten, aber hielten stand. Schon waren sie von ihren Pferden abgesprungen und zum Nahkampf übergegangen. Selten sah man den Langsax* auf beiden Seiten so ausgezeichnet geführt wie in diesem Kampf. Keiner der beiden Kontrahenten konnte sich einen wirklichen Vorteil erarbeiten. Es war ein Jammer, dass dieser Kampf einen Sieger brauchte.

Als Odos Kräfte, seinem Alter geschuldet, zu erlahmen begannen, setzte Chrodegang den entscheidenden Stich.


Einen kurzen Moment hielten beide Kämpfer inne. In Bruchteilen von Sekunden sah Odo sein Volk in Chrodegangs Händen. Er sah wie die Sachsen unter seiner unbedachten Führung den Kampf gegen Karl den Großen suchen und verlieren würden, sah das Blut, das unnütz den Heimatboden tränkte. Dann sank er zu Boden und blickte ihn mit gebrochenen Augen an.

"Wenn Karl kommt, wirst du alleine dastehen. Der Bruch deines Treueeids wird das Schwert in deinem Rücken sein!

Mich konntest du so bezwingen. Den Franken zwingst du nie.“

Der Fall der Irminsul

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