Читать книгу Liturgik - Jörg Neijenhuis - Страница 7
1. Einleitung 1.1 Was ist Liturgie?
ОглавлениеDie Feier der Liturgie bzw. die Gottesdienstfeier ist für die Feiernden eine Handlung des Glaubens. Die Glaubenden feiern mittels der gottesdienstlichen Elemente (z. B. Gebete und Lieder, Schriftlesungen und Predigt, Glaubensbekenntnis und Sakramente). Gott und Mensch begegnen sich, was unterschiedlich beschrieben werden kann: als Kommunikation (des Evangeliums), als Verkündigung des Wortes Gottes oder mit Luther: durch Wort und Gebet. Friedrich D. E. Schleiermacher hat den Gottesdienst als die »darstellende Mittheilung und mittheilende Darstellung des gemeinsamen christlichen Sinnes« definiert (Schleiermacher 1850, 145). Diese Definition aufnehmend beschreibt Peter Cornehl die Liturgie als sinnstiftende Orientierung, sinngestaltende Expression und sinnvergewissernde wie sinnerneuernde Affirmation (Cornehl 1979). Karl-Heinrich Bieritz hält fest, dass das gesamte kirchliche Handeln mit Zeugnis (μαρτυρία), Dienst (διακονία), Feier (λειτουργία) und Gemeinschaft (κοινωνία) beschrieben wird, so dass mit der Feier eine gottesdienstliche Kultur in den Blick kommt, die »Ausdruck der darstellend-symbolischen Dimension kirchlich-religiösen Handelns« ist (Bieritz 2004, 7f). Rainer Volp hat seiner Liturgik gleich den Titel gegeben, der zugleich die Liturgie als Handlung in den Blick nimmt: Liturgie ist die Kunst, Gott zu feiern (Volp 1992/1994). Michael Meyer-Blanck berücksichtigt ausdrücklich die Öffentlichkeit des Gottesdienstes, so dass Liturgie »öffentlicher Gebetsdienst der Kirche« ist (Meyer-Blanck 2011, 7). Unter dem Gesichtspunkt, dass Liturgie mit dem Anspruch von Wahrheit gefeiert wird, habe ich formuliert: »Anhand der Feier des Glaubens, die Liturgie genannt wird, kann gezeigt werden, wie die Glaubenden an Gott glauben, sein Wirken erwarten, was sie glauben und wie sie sich als Kirche verstehen.« (Neijenhuis 2017, 25).
Für die römisch-katholische Kirche hielt Romano Guardini 1921 fest, dass Liturgie eine Kultausübung der »lebendige[n], opfernde[n], betende[n], die Gnadengeheimnisse vollziehende[n] Kirche« ist (Guardini 1921, 104). Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) hat von diesem statischen Modell – die Kirche im Gegenüber zu Gott – Abstand genommen und die Liturgie in ihrer Geschichtlichkeit in den Vordergrund gerückt, weil die Kirche niemals aufgehört hat, das »Pascha-Mysterium« seit Christi Tod und Auferstehung zu feiern. Sie versteht die Liturgiefeier als Fortführung des Heilswerkes Christi (SC 6f).
Der Gottesdienst bzw. die gefeierte Liturgie wird in beiden Kirchentraditionen als Mitte der Gemeinde bzw. als Mitte der Kirche gedeutet, weil sich hier die zentrale Begegnung von Gott und Mensch ereignet und Menschen, so vom Wort Gottes gestärkt, in den Alltag gehen, um nun ihr Christsein zu leben und sich im Gottesdienst des Alltags zu bewähren, z. B. durch die tätige Nächstenliebe (Mt 25). Insofern ist der Begriff Gottesdienst der umfassendere Begriff, der fast synonym mit Christsein verwendet wird: Der ritualisierte Gottesdienst am Sonntag oder andere Gottesdienste wie eine Trauung oder eine Bestattung finden ausdrücklich in der Kommunikation mit Gott statt, während der Gottesdienst des Alltags dem Nächsten dient. So wird Gott in jedem Menschen erkannt, der Hilfe bedarf und dem man begegnet. Darum könnte man mit gewissem Recht, wenn auch ungebräuchlich, für die rituelle Feier am Sonntag oder die Feier der Kasualien, Andachten etc. besser den Begriff »Liturgie« verwenden. Das findet allerdings schon deshalb wenig Anklang, weil die Predigt in der Regel nicht als zur Liturgie gehörig betrachtet wird: Die Struktur der Liturgie als Feier ist rituell, die Predigt dagegen ist rhetorisch zu verstehen. Darum bleibt der weite Begriff des Gottesdienstes für die rituelle Feier ebenso bestehen wie für das Christsein im Alltag.
Die Liturgie kann wie jedes Fest den Alltag unterbrechen. Ist der Alltag vorrangig dem nützlichen Tun gewidmet, wird dieser Alltag durch die Feier der Liturgie unterbrochen, weil nun eine Sinnvergewisserung vorgenommen wird (Neijenhuis 2012b, 135–137 mit Bezug auf Schleiermacher). Die Sinnvergewisserung bzw. die Stärkung des Glaubens geht weit über ein nützliches Tun hinaus und zeigt eine weitere, eigenständige Dimension des Lebens an. So wird das Leben mit Hilfe des Glaubens gedeutet durch die beiden Dimensionen Alltag und Fest/Feier. Hierbei erfolgt die Sinnvergewisserung vermittels des Festes/der Feier, und der Alltag ist dem nützlichen Tun gewidmet, das auf seine Weise einen eigenen Sinn hat.
»Das kommt bei der Feier in der Weise zum Zuge, dass mit der Feier die Existenz des Lebens an sich in den Vordergrund gerückt wird. Die Feier deutet die Existenz des Lebens als sinnstiftend, sinnvergegenwärtigend und sinnvergewissernd. Bipolar dazu wird das Leben im Alltag, also die Nicht-Feier, in seinem nützlichen, zweckhaften und funktionalem Handeln gedeutet und gewürdigt. Denn auch diese alltägliche Seite ist ein selbstverständlicher Teil des Lebens, der auf seine funktionale Weise sinnvoll ist. Auch diese Seite des Lebens wird durch die Feier als sinnvoll qualifiziert.« (Neijenhuis 2020, 200). Entsprechend aufwendig werden Feste und Feiern gestaltet, und das kann sich auch bei der Liturgiefeier zeigen. Hier werden heilige Texte verlesen, die – vor dem Hintergrund eines theologischen Studiums historisch und kontextuell verstanden – gepredigt werden; situativ formulierte Gebete oder geprägte Gebetsformeln wie das Vaterunser reden Gott ausdrücklich an. Dasselbe gilt auch für Lieder, die teilweise Gebete sind und nun mit dem Zeichencode Musik eine besondere Bedeutung erhalten. Während der Liturgie können auch musikalische Kunstwerke zu Gehör kommen, wenn z. B. ein Orgelpräludium zu Beginn des Gottesdienstes gespielt oder eine Kantate im Zusammenhang eines Gottesdienstes aufgeführt wird. Ein durch Kunstwerke aufgewerteter Kirchenraum hebt den Wert der Gottesdienstfeier hervor, was sich an der besonderen Gestaltung von Altar und Kanzel, Kirchenfenstern und Orgel zeigt. Auch die liturgische Kleidung und die Paramente unterstreichen diese Wertschätzung und Bedeutung von Fest und Feier für die Liturgie. Insofern kann man sagen, dass alle »Sprachen« des Menschen für die Feier der Liturgie zum Einsatz kommen können: verbale und nonverbale Sprache, Musik, Bilder, Textilien, Gerüche, Speisen, Bewegungen etc. Alle menschlichen Ausdrucksweisen werden eingesetzt, um der Kommunikation mit Gott und auch der Kommunikation untereinander Gestalt zu geben – durch die Feier der Liturgie.
Dabei ist das Muster der Kommunikation des Evangeliums, die Verkündigung des Wortes Gottes, nicht der einzige, wohl aber der vorrangige evangelische Zugang zum Verständnis des Gottesdienstes. Die Elemente von Gottesdienst sind zwar in den meisten christlichen Kirchen dieselben: Es wird aus der Heiligen Schrift vorgelesen, gepredigt, gebetet und gesungen, Taufe und Abendmahl/Eucharistie werden gefeiert. Doch untergründig wirken noch andere Verständnisse von Gottesdienst, von Kirche und Christsein, was sich wiederum auf die Gestaltung der Liturgie auswirkt. Solche untergründigen Verständnisse sind am deutlichsten festzustellen, wenn kirchliche (Reformation), gesellschaftliche (Aufklärung), politische Umbrüche (Kommunismus oder Faschismus) deutliche Wirkungen zeigen, die selbstverständlich oder auch überraschend den Gottesdienst betreffen. So hat z. B. die Aufklärungsliturgik dem Gottesdienst eine wesentlich belehrende Funktion gegeben und damit der Predigt eine dominante Rolle zugewiesen ( 2.8, S. 65). Der Gottesdienst kann von gesellschaftlichen Veränderungen ja nicht unberührt bleiben, sei es, dass sie zu einer Weiterentwicklung und Reform, sei es, dass sie zu einer Abwehr nichtchristlicher gesellschaftlicher Einflüsse führen. Gesellschaftstheoretiker wie Hartmut Rosa (Rosa 2005), der von einer sozialen Beschleunigung durch Technik und Produktion spricht, die sich auch in der Kommunikation und im zwischenmenschlichen Verhalten zeigt als Beschleunigung des Lebenstempos, oder Andreas Reckwitz (Reckwitz 2017), der eine Gesellschaft der Singularitäten beschreibt, in der das Allgemeine wenig zählt, wohl aber das Besondere, machen Gesellschaftsveränderungen deutlich, die man als Spätmoderne oder Postmoderne bezeichnet. So nehmen die sich wandelnde Gesellschaft und das sich wandelnde Selbstverständnis von Menschen Einfluss auf die Weiterentwicklung von Gottesdienst und Liturgie. Denn Christen können Gottesdienst und Liturgie nur in der Weise und mit der Gestalt feiern, wie sie sich selbst als Menschen und Christen verstehen und deuten. Und das ist wiederum davon abhängig, in welcher Kultur sie aufgewachsen und von welcher Kultur und Sprache sie geprägt worden sind.