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1.2 Fragestellungen an die Liturgie und gegenwärtige Herausforderungen

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Darum befassen wir uns mit Fragestellungen, die sich durch die Gegenwart, den kirchlichen Kontext, das gesellschaftliche Umfeld und die Zeitläufte ergeben. Alle Christen leben in Zeitgenossenschaft mit ihrer Kultur, und je nachdem, wie stark die Prägung durch die Kultur ist, kann die Feier der Liturgie befördert werden (wenn die Kultur ausgesprochen christlich geprägt ist) oder auch erschwert werden (wenn die Kultur vorrangig säkular oder durch eine andere Religion geprägt ist). Auf den europäischen Kontext bzw. auf Deutschland bezogen bestehen die Herausforderungen – nicht nur für die Feier der Liturgie, sondern für die Kirche als Ganze – darin, dass die Selbstverständlichkeit der christlichen Tradition abnimmt. Auch die Individualisierung und die damit verbundene Vielfalt, die sich in unterschiedlichen Milieus und Stilen ausbildet, wirken sich liturgisch aus. Christliche Bildung und Glaubensprägung nehmen ab. Gehörten Anfang der 1950er Jahre noch 90 % der Bevölkerung in West- und Ostdeutschland einer christlichen Kirche an, so waren es 2016 noch etwa 60 % (www.ekd.de; Zahlen und Fakten des kirchlichen Lebens).

Die EKD hat diese Entwicklungen selbst durch Befragungen erforscht und dokumentiert sie in ihren Untersuchungen. Die dritte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, die 1992 vorgenommen wurde, bekam bezeichnenderweise den Titel Fremde Heimat Kirche, und in der letzten Untersuchung, die im Herbst 2012 durchgeführt wurde, zeigte sich die Unsicherheit vieler Kirchenmitglieder, über den eigenen Glauben bzw. über die eigene Kirche zu sprechen, bei der Frage: »Welche der folgenden Aussagen kommt Ihren Überzeugungen am nächsten?« 61,1 % der befragten evangelischen Kirchenmitglieder glauben, »dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat.« 23,3 % glauben, »dass es irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt.« 10,2 % teilen mit: »Ich weiß nicht genau, was ich glauben soll.« Und 5,4 % sagen: »Ich glaube nicht, dass es einen Gott, irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt.« (Bedford-Strohm/Jung 2015, 500).

Die Religionsvielfalt in Deutschland, Europa und weltweit (vermittelt auch durch moderne Medien) sorgt für eine Konkurrenz von Sinnanbietern. Nicht mehr nur die eigene Kirche, sondern viele Kirchen, Religionen und säkulare Einrichtungen bieten Sinn und Orientierung für die Lebensführung an. Hinzu kommt noch die Vielfalt der Konfessionen, die den meisten Christen mehr oder weniger dem Namen nach bekannt sind, in der Sache herrscht Unkenntnis und kaum Erfahrung vor (evangelisch: lutherisch, reformiert, uniert; anglikanisch, römisch-katholisch, verschiedene orthodoxe Kirchen, dann die Freikirchen, neben den traditionellen Freikirchen der Baptisten oder Methodisten die neueren der evangelikalen oder charismatischen Prägung etc.). Eine Reaktion auf diese Vielfalt ist der Ruf nach Konzentration auf die Ökumene, nach interreligiösem Dialog und nach inter- oder multireligiösen Gottesdiensten.

War die evangelische Kirche über Jahrhunderte hinweg eine Bildungskirche (festzumachen an der Predigt als Auslegung von Bibeltexten oder am Konfirmandenunterricht), so scheint sie sich in Deutschland immer mehr dem Unterhaltungsmilieu anzupassen, das von der modernen Medienwelt als Kultur nahelegt wird (Schulze 1992/2005). Der Glaubende erfährt sich immer weniger als Gemeindemitglied oder gar als Glied am Leibe Christi, sondern als Konsument – auch von Gottesdiensten und Liturgien. Eine gewisse Eventerwartung wird somit durch die Feiernden selbst auch in die Feier der Liturgie eingebracht.

Zu bedenken ist, dass für die Pfarrperson die Vorbereitung und Feier von Gottesdiensten eine Hauptaufgabe darstellt. Vorbereitung, Durchführung und ggf. Nachbereitung von Gottesdiensten nehmen wohl den größten Anteil an wöchentlicher Arbeitszeit in Anspruch, der sich nochmals erheblich erhöht, wenn die hohen christlichen Feiertage wie Weihnachten und Ostern anstehen. Zu beachten ist auch, dass der Sonntagsgottesdienst nicht der einzige Gottesdienst innerhalb einer Woche ist, sondern dass auch Kasualien, Andachten, Schulgottesdienste, Gottesdienste aus gesellschaftlichem oder staatlichem Anlass, Gottesdienste in Heimen oder in Privathäusern etc. dazukommen.

Zudem erfahren Pfarrpersonen und Gemeinden, dass ihr christliches Leben im Gottesdienst in eine Krise geraten kann oder schon geraten ist. Denn so mancher Gottesdienst mit seiner klassischen Wort-Gottes-Theologie und mit seiner traditionellen liturgischen Gestaltung wirkt nicht mehr recht verständlich und wird folglich als lebens- oder weltfremd erfahren. Solche Krisenerfahrungen gab es immer wieder: So wurde die Taufe im Neuen Testament und in den ersten Jahrhunderten der Kirche als ein Herrschaftswechsel von der bisherigen Gesellschaft (Götterverehrung, Dämonenglaube etc.) in die neue Gesellschaft der Kirche gedeutet. Die Taufe war nicht allein ein Glaubenswechsel, sondern teilweise auch ein Kulturwechsel. Dieses Konzept des Herrschaftswechsels geriet in eine Krise, als die christliche Religion im römischen Reich zu einer anerkannten Religion wurde, und erst recht, als im Mittelalter und zur Reformationszeit die Gesellschaft und die Kirche nahezu deckungsgleich waren. Eine Reaktion auf die Krise war, dass die Taufe verstanden wurde als eine Eingliederung in die Gesellschaft, die Kirche bzw. in die eigene Familie. Die Tauffeier als Initiation zum christlichen Glauben war dagegen eher unbekannt.

Wie werden sich die Tauffeier und das Taufverständnis einer Kirche weiterentwickeln, deren gesellschaftliches Umfeld bestenfalls multireligiös ist, aber in seiner Kultur zunehmend säkular wirkt? Solche Krisenmomente lassen sich auch bei anderen Kasualien beobachten. Sie betreffen alle Handlungen, da die Religion in der Moderne bzw. Spätmoderne in eine Krisensituation geraten ist. Diese äußert sich primär als ein Vertrauensverlust. Dieses Krisenmoment zeigt sich übrigens auch bei anderen staatlichen oder gesellschaftlichen Institutionen. Denn die Moderne selbst ist in eine Krise geraten. Hatte die Aufklärung nach Immanuel Kant die Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit im Blick, so ist schier das Gegenteil für das 20. und 21. Jahrhundert festzustellen. Die instrumentelle Vernunft, die vorrangig technisch und zweckrational orientiert ist, ist derart wirkmächtig (und selbstverständlich) geworden, dass Kriegskatastrophen (Weltkriege) und Zivilisationsbrüche (Holocaust), Umweltgefährdung und Finanzkrise (2008), Big Data und Fake News in der Lage zu sein scheinen, die europäische Kultur zu gefährden oder gar bleibend zu beschädigen. Zugleich ist aber auch zu sehen, dass im selben Zeitraum großartige wissenschaftliche Leistungen erbracht wurden, die das Leben von Menschen z. B. durch Medizin und Technik wesentlich erleichtern und ein längeres Leben ermöglichen (Wolfrum 2017). Trotz der offenen, demokratischen Entwicklung der westlichen Länder haben sich immer wieder geschlossene, diktatorische Systeme (Kommunismus, Faschismus) entwickeln können, die eine Gefahr für eine offene Gesellschaft darstellen. All diese gesellschaftlichen Entwicklungen und Kräfte, ob sie nun schon Jahrhunderte zurückliegen oder die Gegenwart mitbestimmen, gehen weder an den Kirchen noch an den Gottesdienstfeiern spurlos vorüber. Ihre erwünschten oder unerwünschten Einflüsse und manchmal (noch) unverstandenen Wirkungen sind immer mit zu bedenken, wenn über die Entwicklung von Gottesdienst und Liturgie reflektiert werden soll.

Liturgie wird als »Kommunikation des Evangeliums«, als Begegnung mit Gott verstanden. Der Begriff Gottesdienst umfasst das gesamte christliche Leben und bezeichnet sowohl die rituelle liturgische Feier als auch das christliche Leben im Alltag. Die Liturgiefeier vermag den Alltag zu unterbrechen und ermöglicht eine Sinnvergewisserung des Glaubens. Für diese Feier können alle Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen eingesetzt werden. Diese »Sprachmöglichkeiten« sind weder kultur- noch zeitunabhängig. Sie tragen auf ihre Weise durch die Feiernden selbst die Erfahrungen geschichtlicher Umbrüche bzw. die Fragen und Krisen wie auch die Fortschritte der Gegenwart in die Feier der Liturgie ein. Am Gebrauch der biblischen Texte, der Gebete, der Lieder etc. für die Liturgiefeier kann abgelesen werden, wie die Glaubenden das Wirken Gottes verstehen.

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