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Zahnfee mit Blaulicht

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Der Aufenthaltsraum der Wache war eiskalt. Offensichtlich hatte in der Nachtschicht ein Frischluftfanatiker Dienst geschoben. Zwar ballerten alle Heizkörper im Raum auf höchster Stufe, zum Ausgleich standen jedoch alle Fenster sperrangelweit offen. Hein spekulierte fröstelnd über den Zusammenhang zwischen Klimawandel und dem Energieverbrauch von Feuer- und Rettungswachen, während ich Kaffee kochte.

»Wenn Greta Thunberg das mitkriegt, sind wir dran!«, meinte er, bevor er das letzte Fenster schloss, das Thermostat regulierte und sich zu mir an den Tisch setzte.

Wir waren heute unter uns, denn wir besetzten einen Rettungswagen auf einer sogenannten Satellitenwache, in Fachkreisen auch gern als »Dornröschenwache« bezeichnet.

Diese Standorte haben in der Regel eine wesentlich niedrigere Einsatzfrequenz als normale und existieren eigentlich nur, um auch in abgelegenen, meist ländlichen Stadtteilen die Hilfsfrist einzuhalten, also an jedem Ort der Stadt dem Bürger im Notfall innerhalb von maximal acht Minuten zur Verfügung zu stehen.

»Heiß, heiß …«, fluchte Hein, der sich in diesem Moment den Mund-Rachen-Raum verbrühte.

»Sorry, ist keine lauwarme Plörre aus der Pumpkanne, sondern handgemachte Barista-Qualität!« Ich konnte nicht anders, als hämisch zu grinsen. »Und wie gehts sonst so?«

Hein schmatze mehrmals, um den Grad der Verbrühung abzuschätzen, bevor er antwortete: »Wir sind hier im Blumenviertel, also im gelobten Land dieser Stadt. Es ist schon wieder Sonntag, und das Ende des Monats liegt in Sichtweite. Folglich haben die Menschen kein Geld mehr, um sich bereits tagsüber öffentlich zu betrinken, sodass es ein ruhiger Dienst werden könnte. Außerdem sitzen wir auf einem Rettungswagen, müssen also nicht mit sinnbefreiten Ölspuren rechnen. Um deine Frage zu beantworten: Es geht gut, könnte sogar nicht besser sein, wenn ich mir vor wenigen Augenblicken nicht die komplette Schnauze verbrannt hätte.« Ein vorwurfsvoller Blick in meine Richtung.

»Verbrüht«, gab ich altklug zurück, aber Hein wollte sich nicht an Wortklaubereien beteiligen, sondern kramte die Tageszeitung hervor, um sich den Schlagzeilen des Lokalteils hinzugeben.

Unser heutiger Dienst würde zwölf Stunden dauern, und nach der ersten Zeitung beziehungsweise Tasse Kaffee stand die tägliche Fahrzeugüberprüfung an. Eine gute Stunde später waren alle notwendigen Arbeiten und Formalitäten erledigt, also machten Hein und ich es uns auf einer alten, leicht siffigen schwarzen Ledercouch gemütlich. Vom Interieur auf Satellitenwachen darf man nicht allzu viel erwarten, aber im Laufe der Zeit lernt man Bescheidenheit. Außerdem war Luxus in diesem Augenblick nicht wichtig.

Ich hatte mir vorgenommen, mich besser um Hein zu kümmern, und jetzt und hier – quasi unter vier Augen – bot sich die ideale Gelegenheit, um ein klärendes Gespräch vom Zaun zu brechen.

»Was ich dich noch fragen wollte, Hein«, leitete ich das Thema ein. »Du hast es ja mehr oder weniger schon selbst angesprochen. Die Ölspur von letzter Woche – für einen Moment hatte ich das Gefühl, na ja, wie soll ich sagen, beinahe wärst du übergriffig geworden. Ich mache mir so meine Gedanken oder, besser gesagt, Sorgen. Früher hättest du über solche Einsätze, wenn überhaupt, gelacht. Gehts dir wirklich gut? Oder müssen wir reden?«

Hein schaute mich durchdringend an, atmete mehrmals tief ein und aus, dann setzte er zu einer Antwort an. »Mein Freund, du bist der Erste, der mich das fragt …« Bevor er fortfahren konnte, alarmierte uns der Funkmeldeempfänger zu einem internistischen Notfall in den Chrysanthemenweg 112, und Hein erhob sich mit einem tiefen Seufzen.

Als Autor finde ich nichts schwieriger, als Geräusche zu beschreiben. Das Knarren einer Eichendiele oder das Ticken einer Uhr mögen ja mit »knarrrzzzz« und »ticktack« noch phonetisch passend beschrieben sein, was ist jedoch mit dem Erbrechen eines durchaus kräftigen Mittvierzigers, der den Bass aus den tiefsten Tiefen der Magengrube erschallen lässt? Ist das eher ein »wourrggghhhh« oder mehr ein »bröööhhhh«? Man weiß es nicht, und womöglich gibt es außerdem geschlechtliche und/oder regionale Unterschiede, man sollte mal eine Studie …

Lassen wir das.

Herr Schumacher, den wir sechs Minuten später kennenlernten, interessierte sich nämlich nicht die Bohne dafür, ob Hauke aus Flensburg beim Kotzen anders klingt als Cindy aus Passau. Herrn Schumachers Aufmerksamkeit galt ausschließlich einem blauen Zehn-Liter-Eimer aus Plastik, den er, auf dem Boden kauernd, eng umschlungen festhielt, während er seinen Kopf zur Hälfte darin versenkte. Der Eimer wirkte ähnlich wie ein Subwoofer; sobald sich unser Patient das nächste Mal übergab, dröhnte es dumpf, und um ehrlich zu sein, übergab sich Herr Schumacher ohne Unterlass, weshalb Heins Befragung zunächst wenig fruchtbar war.

Wo die Eigenanamnese versagt, verlegt sich der kluge Notfallsanitäter auf die Fremdanamnese, sodass wir uns der Gattin zuwandten, um mehr über die Gesamtlage in Erfahrung zu bringen.

»Warum Sie hier sind, hören Sie ja«, antwortete die Blondine, die durchaus ein wenig an die Monroe erinnerte, mit einem Wink ihrer wohlmanikürten Hand in Richtung ihres Mannes. »Fragen Sie mich nicht nach der Ursache. Am Essen kann es nicht liegen, ich koche nicht!« Sie seufzte. »Es ist wie drangeschmissen! Vor einer Stunde war die Welt noch in Ordnung.«

Während Hein weitere Fragen stellte, verkabelte ich unseren Patienten. Nach Blutdruckmessung, Sauerstoffsättigung und EKG ermittelte ich die Körpertemperatur und den Blutzuckerspiegel, und zu guter Letzt leuchtete ich in Herrn Schumachers Pupillen, wobei mich eine gewisse Sorge begleitete, selbst mit Auswurf kontaminiert zu werden. Aber Herr Schumacher riss sich einen Moment lang zusammen, und mangels Masse wäre wohl auch keine ausreichende Wurfweite mehr zu erwarten gewesen. Eigentlich musste man inzwischen nicht mehr von Erbrechen, sondern von kontinuierlichem Würgen sprechen.

»Vorerkrankungen? Nein! Der Mann ist kerngesund. Der weiß zwar nicht, was er tut, aber er hat Ausdauer. Ich habe mir doch nicht umsonst einen jüngeren Kerl angeschafft. Entschuldigung.« Die Blondine schenkte uns ein zweideutiges Lächeln, das Hein kommentarlos und ich mit dem Hochziehen einer Augenbraue hinnahm. »Kein Herzinfarkt, kein Schlaganfall, kein nennenswerter Unfall, und auch sonst nichts, wonach Sie gefragt haben. Vor einer Stunde wurde ihm erst schwindlig und dann ging das Gewürge los. Schon ein wenig unschön.« Sie bedachte ihren Mann mit einem Stirnrunzeln, bevor sie hinzufügte: »Eben hat er sogar nach dem lieben Gott gerufen, das macht er sonst nur in anderen Zusammenhängen.«

Herr Schumacher nahm die Einlassungen seiner Frau indes zum Anlass, den Kopf erst mal ganz in den Eimer zu stecken und besonders kraftvoll zu würgen – zwar erneut nicht sonderlich produktiv, aber dafür besonders laut.

»Hein«, wandte ich mich an meinen Kollegen. »Schau mal in die Augen. Die zucken links,rechts, hin und her – ein Nystagmus vom Allerfeinsten!«

Hein prüfte meine Aussage und nickte.

»Haben Sie Stress? Oder waren Sie in den letzten Monaten erkältet, beziehungsweise hatten Sie einen Infekt?«, fragte er Herrn Schumacher.

»Beides!«, kam es aus dem Eimer.

Hein und ich hielten medizinischen Kriegsrat, und nach kurzem Austausch fasste ich zusammen: »Unser Patient kotzt sich aus subjektiv empfundener, völliger Gesundheit die Seele aus dem Leib. Kreislauf ist stabil, er ist zeitlich, örtlich und zur Person orientiert, außer dem vertikalen Nystagmus zeigt er keine neurologischen Auffälligkeiten. Blutzucker gut, Temperatur normal. Kein Trauma, keine bekannten Vorerkrankungen. Abgesehen von Infekt und Stress. Daher Verdachtsdiagnose: vestibuläre Störung. Innenohr und Gleichgewichtsorgan sind gezankt, was das dauerhafte Erbrechen erklärt. Vorstellung in HNO und weiterführend gegebenenfalls Neurologie empfehlenswert.«

Hein ergänzte die Diagnostik, indem er Herrn Schumacher bat, bei geschlossenen Augen mit dem Zeigefinger beider Hände die Nasenspitze zu berühren, und konstatierte nach gelungener Durchführung: »Nichts hinzuzufügen!«, sodass wir mit Vorbereitungen für den Transport begannen.

Während der Fahrt tauschte unser Patient seinen blauen Eimer gegen einen professionellen Brechbeutel, und zwanzig Minuten später waren die Übergabe an die Hals-Nasen-Ohren-Abteilung und die Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft erledigt.

Der Rest des Tages verlief quirlig. Von einem ruhigen Sonntag konnte beileibe keine Rede sein; im Verlauf der Schicht ereilten uns weitere acht Einsätze, die sich alle im Spektrum von »Ich habe seit drei Wochen so ein fieses Ziehen in der Schulter« bis hin zu »Wenn ich zwei Stunden auf dem Laufband unterwegs bin, dann bubbert mein Herz so komisch« abspielten. Fünf der insgesamt neun Patienten transportierten wir mit gutem Willen in verschiedene Krankenhäuser, wobei uns, auch das sei erwähnt, niemand des aufnehmenden Personals zu unserer Leistung gratulierte.

Keine zehn Minuten vor Schichtende sprach uns der Leitstellendisponent erneut über Funk an: »RTW 3-1, einsatzbereit?«

»Natürlich, und das weißt du auch!«, antwortete ich in einem Tonfall, der zwischen Motivation und Resignation changierte. Hein seufzte nur.

»Das ist gut. In der Steinstraße 12 hat jemand Zahnschmerzen, auf den Namen Wurzel, kein Scheiß – habe es geprüft, schaut euch die Sache mal an.«

Auf der Fahrt zum Einsatzort riss Hein die Hutschnur.

»Zahnschmerzen? Ich glaube, es hackt! Demnächst fahren wir zu Fußpilz und Neurodermitis!« Schnaubend kramte er das Mobiltelefon des Rettungswagens aus dem Handschuhfach, weil Diskussionen über Funk, wo jeder Kollege mithört, wenig sinnvoll sind. Er wählte die interne Nummer der Leitstelle, um direkt mit dem zuständigen Disponenten zu sprechen. Kaum hatte der abgehoben, brach es aus Hein heraus: »Junge, gehts noch? Du schickst uns doch nicht ernsthaft zu einer rausgefallenen Plombe?«

Jäh wurde er unterbrochen: »Ich bin die Leitstelle – und ich schicke dich, wohin ich will! Ich kriege den Kerl seit zwei Stunden nicht aus der Leitung, und ich weiß selbst, wie es sich anhört. Hinfahren, angucken, entscheiden – dein Job! Und jetzt texte mich nicht länger zu!«

Mit einem Knurren warf Hein das Telefon zurück ins Handschuhfach, als ich den RTW an besagter Adresse zum Halten brachte. Hein stieg kopfschüttelnd aus, und kurze Zeit später betraten wir die Wohnung des Herrn Wurzel.

Einrichtungsstile gibt es ja viele. Eiche rustikal, modern in Glas und Stahl oder auch überladen oder karg. Herr Wurzel jedoch, geschätzte fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, hatte sich offensichtlich für Horror entschieden. Die gesamte Wohnung war mit entsprechenden Filmplakaten tapeziert. In der Diele grinste uns der Clown aus Es entgegen, der sich in adäquater Nachbarschaft von Jigsaw befand. Die restliche Deko bestand aus Schwertern, Totenköpfen und Kunststoffdrachen. Entsprechend rechneten wir damit, sogleich dem Sohn von Chucky, der Mörderpuppe oder Sauron persönlich zu begegnen – doch weit gefehlt.

Uns begrüßte ein blasser, schmächtiger junger Mann, den ich eher in einem Familienfilm verortet hätte, in Die Schöne und das Biest zum Beispiel, wobei die Interpretation durchaus auf Letzteres gelegt werden darf, von den fehlenden Hörnern mal abgesehen.

»Ach du heilige Sch…, was ist denn mit Ihnen passiert?«, entfuhr es Hein, als er unseren Patienten im Wohnzimmer bei etwas besserem Licht in Gänze wahrnehmen konnte.

Die linke Gesichtshälfte des Herren war bis zum Hals dick geschwollen, und selbst wenn Herr Wurzel gewollt hätte, er hätte sein linkes Auge nicht öffnen können. Die eigentlich symmetrischen Proportionen waren komplett verschoben, und auf der betroffenen Seite spannte sich pralle, gerötete Haut.

»Bachenzfan afgkreboken!«, brachte unser Patient mühsam hervor, und mich durchfuhr tiefes Mitgefühl.

»Wann ist das passiert?«, fragte ich in dem Wissen, das der lateinisch als Dens bezeichnete Körperteil nicht erst heute Vormittag die Mundhöhle verlassen haben konnte.

Herr Wurzel: »Vohr drreih Wocken.«

Ich: »Das meinen Sie nicht ernst, oder?«

Hein: »Auuaaahhhh.«

Ich: »Waren Sie beim Zahnarzt?«

Herr Wurzel kopfschüttelnd: »Neeh – Ahngsft vor Zfanarzzt!«

Ich: »Nicht wirklich, oder?

Herr Wurzel: »Dochf!«

Hein: »Sie sehen zwar schlimm aus, und Sie brauchen auch sicherlich Hilfe, aber Sie wissen schon, wer wir sind, oder? Wir sind der Rettungsdienst! Verkehrsunfall, Amputationsverletzungen, Herzinfarkt und so weiter. Von Parodontose und Karies haben wir keine Ahnung. Ganz abgesehen davon, dass Aronal und Elmex keine Notfallmedikamente sind!« Hein sprach ruhig, doch glaubte ich, eine gewisse Anspannung in ihm zu spüren. »Also, wie sollen wir Ihnen helfen?«

»Nift zuum Zfanarzzt!«, antwortet Herr Wurzel inständig.

»Ja, aber was dann?«, hakte ich nach. »Ungeachtet der Frage, ob wir einen Zahnarzt finden, der sich am frühen Sonntagabend solchen Dimensionen hingibt.« Die Schwellung von Herrn Wurzels Gesicht war tatsächlich beeindruckend, und ein in diesem Moment aufgenommenes Selbstporträt, im Flur neben Pennywise und Jigsaw aufgehängt, hätte die beiden Filmgestalten blass aussehen lassen.

»If dachfte, Sfie könnten mal einen Blick darauf werfen«, gab Herr Wurzel zurück und starrte uns hoffnungsvoll an.

Hein versuchte es humoristisch: »Kennen Sie den blöden Spruch: Ich bin zwar kein Gynäkologe, aber ich kann es mir ja mal ansehen …?«

Unser Patient nickte gequält.

»Entspricht irgendwie Ihrer Erwartungshaltung uns gegenüber, ist allerdings leider so wenig sinnvoll wie zielführend«, erklärte mein Lieblingskollege. »An einem Zahnarzt werden Sie nicht vorbeikommen.«

»Nift zuum Zfanarzzt!«, stieß Herr Wurzel aus und begann zu wimmern.

Über Alternativen nachdenkend, spielte mir meine Fantasie einen kleinen Streich. Vor meinem geistigen Auge tranken Hein und unser Patient gemeinsam eine Literflasche Wodka. Dann beugte sich mein Kollege über das geschwollene Gesicht beziehungsweise den schief geöffneten Mund und ließ eine haushaltsübliche Wasserpumpenzange darin verschwinden. Dann schrien beide – der Patient vor Schmerzen und Hein, der Tupfer, Tupfer, mehr Tupfer wollte.

Parallel zu diesen Gedanken hatte ich aber auch noch einen vernünftigen Plan entwickelt: »Herr Wurzel …«

»Nennen Sfie mif ruhig Sfephan«, unterbrach mich der von Schmerzen Gebeutelte.

»Sfephan, äh, Stephan, das alles hier ist wenig sinnvoll, und weder können wir Ihnen adäquat helfen noch Sie in diesem Zustand hierlassen. Ich bezweifle sogar, dass Ihnen ein gewöhnlicher Zahnarzt helfen kann. Sie haben eine fette Entzündung, Ihr halber Kopf ist geschwollen und Sie sind ein Fall für die Zahnklinik. Ich will Ihnen keine Angst machen, aber eine Blutvergiftung ist kein Spaß. Sie müssen in Behandlung – und zwar schnell.«

Ich musterte Herrn Wurzel eindringlich, und Hein sprang mir mit einem anderen Weg der Argumentation bei: »Sehen Sie es mal so: Manchmal braucht das Kind ja nur einen anderen Namen. Wir bringen Sie nicht zum Zahnarzt, sondern zum Kieferchirurgen. Außerdem, wenn ich Ihnen einen persönlichen Tipp geben darf: Konsumieren Sie in Zukunft weniger Horrorfilme – ist besser fürs Gemüt.«

Insgesamt redeten wir über eine Stunde auf unseren Patienten ein, bis Stephan Wurzel sich endlich bereit erklärte, uns in eine geeignete Klinik zu begleiten. Vielleicht hatte Heins emotionaler Ausbruch »Wir sind doch nicht die Zahnfee, Herrgottnocheins!« den Ausschlag gegeben, jedenfalls waren nach telefonischer Anmeldung Transport und Übergabe schnell erledigt, und Hein und ich machten uns auf den Weg zur Ablösung.

Ein paar dämliche Sprüche der Kollegen später, »Ihr könnt gern auch noch die ganze Nachtschicht dranhängen« und »Ja, wenn es schön ist, dann findet man kein Ende«, war auch schon Feierabend. Allerdings wollte ich Hein nicht so ohne Weiteres in die Freizeit entlassen, ein Gespräch stand an, und was ich am Morgen begonnen hatte, wollte ich auch beenden.

»Was hältst du von einem schnellen Bierchen?«, fragte ich also beiläufig, woraufhin Hein mich eindringlich musterte.

»Komme ich drum herum?«, fragte er leicht sarkastisch zurück.

Ich schüttelte den Kopf, und wenig später stießen wir gemeinsam an.

»Alles gut bei dir? Also, so auf Gefühlsebene?«, begann ich, nachdem wir beide den ersten Schaum geschlürft hatten. Für gewöhnlich herrschte ein erheblich rauerer Ton zwischen uns, doch ich ahnte, dass hier Einfühlungsvermögen gefragt war. Und tatsächlich hatte es lediglich diese eine Frage gebraucht, um Hein einen ganzen Monolog zu entlocken.

»Ich kann deine Frage nicht beantworten«, brummte er. »Ich habe gute Tage und ich habe schlechte Tage. Ich weiß, das geht allen Menschen so, aber von mir kenne ich das so nicht. Vielleicht Nachwehen der Midlife-Crisis, keine Ahnung.« Er zuckte die Achseln und genehmigte sich einen weiteren Schluck Bier. »Jedenfalls wird meine Haut irgendwie dünner, und ich habe das Gefühl, aus der Zeit zu fallen. Früher hieß Rettungsdienst mal Unfallrettung – und aus dieser Zeit stamme ich. Keine Frage – präklinische Versorgung von Herzinfarkten und Schlaganfällen ist bis heute sinnvoll. Aber auf den restlichen … ach, ich höre lieber auf, sonst verbrenne ich mir schon wieder die Schnauze.« Er seufzte tief und mit einer Schwere, die mir trotz all der gemeinsamen Jahre zum ersten Mal begegnete. »Die Zipperlein der Gesellschaft machen mich müde. Ich bin jetzt dreißig Jahre im Geschäft …« Erneutes Seufzen. »… vielleicht bin ich einfach durch.«

Ich schwieg, musste diese Offenbarung erst einmal sortieren und meine nächsten Worte abwägen, als Hein bereits fortfuhr: »Schau dir mal die heutigen Einsätze an! Wir haben den Notfallrucksack gerade mal zum Fiebermessen aufgemacht, und von zehn Einsätzen war lediglich bei der Hälfte der Transport sinnvoll, und selbst darüber kann man streiten. Unsere Glanzleistung des Tages besteht darin, einen Brechbeutel zu überreichen und einen Menschen mit Angststörung zahnmedizinischer Versorgung zuzuführen, was bei einem funktionierenden sozialen Umfeld vermutlich auch nicht nötig gewesen wäre. An die meisten unserer heutigen Patienten kann ich mich nicht einmal erinnern, und die Einsätze sind nur wenige Stunden her.« Hein, der sich in Fahrt geredet und während der letzten Sätze beharrlich mit dem Zeigefinger zwischen uns auf die Tischplatte getippt hatte, hob den Kopf und blickte mir ins Gesicht. »Du machst dir Sorgen um mich? Hör damit auf, die mache ich mir schon selbst! Danke für das Bier und dass du gefragt hast.«

Mit diesen Worten ließ Hein mich sitzen. Er stand auf, nahm seine Jacke und verließ die Kneipe. Sein Glas stand nicht mal halb geleert vor mir. Spätestens jetzt hatte ich Gründe, mir ernsthafte Sorgen zu machen.

Jackie hat Hirn erbrochen – bleibt die jetzt doof?

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