Читать книгу Jackie hat Hirn erbrochen – bleibt die jetzt doof? - Jörg Nießen - Страница 8
Weil nicht sein kann, was nicht sein darf
ОглавлениеDa saß ich nun mit meinem eigenen halb vollen Glas Bier – wie bestellt und nicht abgeholt. Ganz so leicht würde Hein mich allerdings nicht loswerden. Einfach aufzustehen und abzuhauen war zwar nicht die feine englische Art, aber um meinem Lieblingskollegen wirklich böse zu sein, reichte es auch nicht. Dafür mochte ich Hein viel zu sehr. Obwohl wir hier und da unterschiedliche Herangehensweisen bevorzugten, wenn es um Schwierigkeiten oder Probleme ging, sahen wir im Kern die meisten Dinge ähnlich. Man könnte auch sagen: Wir waren Brüder im Geiste.
Außerdem hatte ich Hein viel zu verdanken. Er hatte mich sozusagen entjungfert, als ich vor über zwanzig Jahren an seiner Seite meine allererste Schicht im Rettungsdienst überlebte. Er war es, der mir in Sachen Blaulicht das Laufen beigebracht und mir gezeigt hatte, wo sich die Fallgruben versteckten und wo die Fettnäpfchen standen, und nicht zuletzt hatte er mehr als einmal rechtzeitig die Handbremse gezogen beziehungsweise nach gebauter Scheiße die schützende Hand über mich gehalten. Ich war es ihm schuldig, jetzt, da er offensichtlich Hilfe brauchte, genauso für ihn einzustehen.
Ich nippte an meinem Bier. Einfach würde das nicht werden, dafür war Hein aus zu grobem Holz geschnitzt. Bester Beweis dafür war die Tatsache, dass ich jetzt allein in der Kneipe saß und inzwischen mitleidige Blicke anderer Gäste erntete, während ich über seine Probleme nachgrübelte.
Je länger ich in mein Glas starrte und über Heins Worte nachdachte, desto mehr stellte ich fest, dass seine Probleme auch meine waren, nur in einem anderen Stadium. Ich empfand durchaus ein gewisses Verständnis für Heins dienstliche Frustration. Ertappte ich mich doch selbst regelmäßig bei einer gewissen Abstumpfung und Verrohung in bestimmten Einsatzsituationen. Nach dem gefühlt fünfhundertsten Brustschmerz ist die Spannung halt irgendwann raus. Dabei hat Routine im Einsatz durchaus Vor- und Nachteile, doch spätestens, wenn gesunder Menschenverstand eine Situation genauso gut gelöst hätte wie das mit Tatütata angerückte Team, stellt man den Notruf nachts um drei Uhr infrage. Übermäßige Blähungen sind halt kein Grund, den Rettungsdienst zu alarmieren, ganz egal, wie dramatisch man die Flatulenzen der Leitstelle beschreibt.
Mit den Kollegen am Telefon möchte ich übrigens niemals tauschen. Sie verdienen den höchsten Respekt, weil sie ständig genötigt sind, den mangelhaften Erfahrungshorizont vieler Menschen in Relation zu tatsächlichem Handlungsbedarf zu bringen.
Und dennoch – es bleibt beim Grundsatz: lieber einmal zu viel als einmal zu wenig. Darüber lässt sich nicht streiten.
Gleichwohl wuchs Hein momentan offensichtlich einiges über den Kopf, und das war nichts, das sich einfach ignorieren ließ. Ich überlegte, worin der Unterschied zwischen ihm und mir bestand, von einigen Dienstjahren mehr mal abgesehen, und kam zu dem Schluss, dass ich im Gegensatz zu ihm über einen gesunden privaten Ausgleich verfügte, der mich ablenkte und mich den ganzen Mist, den eine Schicht mit sich gebracht haben mochte, vergessen ließ. Hein jedoch lebte allein und definierte sich fast ausschließlich über den Beruf.
Ich leerte mein Bier und erhob mich. Das war doch ein Hebel, den ich ansetzen konnte, um meinem Kollegen und Freund zu helfen.
Drei Tage später im Aufenthaltsraum der Wache. Hein blätterte in einer zerfledderten Tageszeitung. Mit einer Tasse Kaffee in der Hand setzte ich mich zu ihm.
»Hein, ich mache mir Gedanken. Ich meine, ich kann verstehen, dass dich viele Dinge ankotzen – trotzdem sollten wir darüber reden. Vielleicht hilft es dir ja. Und heute kannst du nicht einfach aufstehen und gehen. Also, schieß los, was belastet dich wirklich?«, fragte ich.
Er blätterte eine Seite um und brummte: »Kommunikation wird überbewertet. Ich kann mich gut an eine Fahrt in den Urlaub mit einer Ex-Freundin erinnern. Zwölf Stunden, und wir haben nicht gestritten. Warum? Weil wir kaum gesprochen haben!«, antwortete Hein süffisant.
»Hein, ich meine es ernst«, gab ich zurück, was ihn dazu veranlasste, lang anhaltend zu stöhnen.
Eine nicht enden wollende wortlose Minute verging, bis mein Lieblingskollege ins Leere blickend antwortete: »Du kennst den Begriff der Resilienz?« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, fuhr er fort: »Eine von vielen Definitionen sagt, dass es sich dabei um die psychische Widerstandskraft beziehungsweise Fähigkeit handelt, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Anders gesagt: Mit gesundem Menschenverstand und ein wenig Lebenserfahrung lässt sich fast allem Herr werden. Gibt es in der Grundschule eigentlich noch Sachkundeunterricht?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wieso?«
»Ich habe damals noch gelernt, ohne Streichhölzer Feuer zu machen. Heute kann jeder verdammte Zehnjährige eine App programmieren – was ist sinnvoller? Wenn das Internet ausfällt, liegt die Welt spätestens nach drei Stunden auf dem Bauch. Vom Stromausfall über drei Tage ganz zu schweigen. Da stimmt was nicht mit der Menschheit.« Hein knüllte die Zeitung zusammen und sah mich endlich an. »Vor zehn Jahren hätte ich gesagt, siebzig Prozent der Einsätze sind notwendig und relevant – heute ist das Verhältnis genau umgekehrt!«
Ich wollte zu einer Erwiderung ansetzen, ohne genau zu wissen, wie sie aussehen sollte, doch Hein ließ mich ohnehin nicht zu Wort kommen. Wie schon beim Bier kam es mir vor, als hätte ich ein Steinchen losgetreten, und nun war ein ganzer Damm gebrochen.
»Ich frage dich: Was ist in der Zwischenzeit passiert?« Hein fixierte mich regelrecht mit seinem Blick, wartete jedoch auch dieses Mal keine Antwort ab. »Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß und alltäglich erfahre, ist die Tatsache, dass die Menschen nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Es sind keine Notfälle mehr, die unseren Alltag prägen, sondern Anspruchsdenken und Hilflosigkeit. Denk nur mal an den feinen Herrn vor ein paar Wochen, der Typ, der nach dem Wasserschaden im Keller und dem notwendigen Abpumpen wie selbstverständlich erwartet hat, dass wir auch noch seinen Boden wischen. Oder die Privatpatientin im Rettungsdiensteinsatz, die darauf beharrte, ausschließlich zu ›Professor Dickehose‹ gefahren zu werden. Ich will es nicht mehr! Ich hab es satt! Wirklich. Bitte ohne mich. Ich bin furchtbar müde!«
Erneut ertappte ich mich dabei, dass Heins Gedanken mir nicht fremd waren. Allerdings half das kaum weiter und war eher ein diabolischer Blick in meine eigene Zukunft. Ich schob den Gedanken beiseite, und weil Hein inzwischen schwieg, sagte ich trotz gewisser Selbstzweifel an meinen therapeutischen Fähigkeiten: »Hein! Du brauchst einen Ausgleich zum Beruf. Warum lässt du dich nicht mal wieder auf eine Beziehung zu einem anderen Menschen ein?«
Er rümpfte die Nase und zog ein Gesicht. »Dein Ernst?«
»Okay – viel verlangt, aber kümmere dich doch wenigstens wieder mehr um dich selbst. Was ist mit deinen Hobbys? Früher hast du mal nebenbei studiert, hast mit dem Bogenschießen angefangen, das hat dir doch gutgetan.« Ich knallte den Kaffeebecher auf den Tisch, weil er den Blick abwandte und erneut begann, ins Leere zu starren. »Wenn du mich fragst, brauchst du einen Ausgleich zum Job. Besorg dir von mir aus eine Katze! Du kennst nur noch Dienst, Dienst, Dienst und bist dabei auch noch unzufrieden.«
Hein hörte zu, glaubte ich, schaute aber immer noch ziellos in die Gegend.
»Was hältst du davon, wenn wir beide mehr gemeinsam unternehmen, ich meine privat, dabei kann man sich dann auch austauschen, wenn dienstliche Dinge belasten. Wir waren doch schon mal segeln, Wassersport liegt uns scheinbar. Wie wäre es mit einer Wiederholung?«
»Segeln? Damit bin ich durch!« Etwas Herausforderndes lag in seinem Blick, als sich Hein endlich wieder zu mir wandte. »Aber wenn du schon meine alten Hobbys ansprichst – ich war ewig nicht mehr unter Wasser. Hast du eigentlich einen Tauchschein?« Ein überhebliches Grinsen huschte über sein Gesicht.
Ich grinste zurück. Und nickte. Hein schloss seufzend die Augen. Mit Daumen und Zeigefinger massierte er seine Nasenwurzel, um sich schließlich zu einer Antwort durchzuringen: »Nur in warmem Wasser mit bunten Fischen! Keine Baggerlöcher! Und ich habe noch nicht ›ja‹ gesagt – ich denke nur darüber nach.«
Gerade wollte ich meiner Freude über den kleinen Teilerfolg Ausdruck verleihen, als ein Alarm unsere Unterhaltung unterbrach: »Person vermisst. Tür öffnen. Ankerstraße 37 im vierten Obergeschoss, auf den Namen Mehner. Einsatz für Löschfahrzeug, Drehleiter und RTW 3-1. Polizei rollt auch«, tönte es aus dem Wandlautsprecher.
Hein verdrehte sofort die Augen und ein leidendes »Och nö« verließ ihn, während wir zur Drehleiter eilten, die wir heute gemeinsam mit einem weiteren Kollegen besetzten. Hinter uns schlossen sich die Hallentore, und die Fahrzeuge bogen in den Straßenverlauf ein, als Hein ohne Nachfrage erklärte, warum er dem Einsatz jetzt schon ablehnend gegenüberstand.
»Das kann nur speziell werden. Ich war da ungelogen schon über zwanzig Mal mit dem Rettungswagen. Der Kerl ist ein Verschwörungstheoretiker vom Allerfeinsten und hält regelmäßig uns, die Nachbarn, die Polizei und seine Therapeuten auf Trab. Chemtrails bedrohen die Welt, ebenso die Bilderberger, 9/11 war ein Fake, der Vatikan ist im Besitz einer Zeitmaschine, Greta hat Corona in die Welt gebracht, um den CO2-Ausstoß zu minimieren, und so weiter … Nach endlosen Diskussionen lässt er sich meist überreden, seinen behandelnden Arzt aufzusuchen. Leider macht er so gut wie nie freiwillig die Tür auf – na ja, hoffen wir das Beste …«
Heins Schilderung entspannte mich. Offensichtlich ging es nicht um einen akut lebensbedrohlich erkrankten Patienten. Außerdem waren Hein nach diversen Einsätzen sowohl die Lage vor Ort als auch der Patient bekannt, das konnte nur hilfreich sein. Was also sollte schiefgehen?
Nach kurzer Anfahrt erreichte die gesamte Kavallerie die von der Leitstelle benannte Örtlichkeit. Uns empfing, wie so oft, Polizeihauptkommissar Schnelle.
»Es ist wieder so weit«, begrüßte er uns in seiner typisch jovialen Art. »Herr Mehner droht mit Selbstverletzung, falls er nicht sofort Speiseeis bekommt. Er muss sich runterkühlen wegen der 5G-Masten. Allerdings will er uns nicht reinlassen. Wir bleiben vor Ort, bis ihr fertig seid, der Rest wie gehabt …« Er machte eine Geste, die stark an Husch-husch erinnerte, und lehnte sich gelangweilt an seinen Streifenwagen.
»Warum war ich eigentlich noch nie hier?«, fragte ich leicht verwundert in die Runde. »Offensichtlich haben wir es ja mit einem Stammkunden zu tun.«
»Vielleicht weil du ein verdammtes Glücksschwein bist«, antwortete Hein und sah mich vorwurfsvoll an, als sei das meine Schuld.
Unterdessen machte sich Noah, unser Zugführer des Tages, samt Angriffstrupp und entsprechendem Werkzeug auf ins Treppenhaus.
»Ganz oben«, rief Hein ihnen nach, bevor wir die Drehleiter in Stellung brachten, um bereit zu sein, falls sich der Zugang über die Wohnungstür als schwierig erweisen sollte.
Und genauso kam es, denn Herr Mehner hatte offensichtlich aufgerüstet. Hätte laut Heins Darstellung vor Wochen noch ein Schulkind die von zahllosen Einsätzen geschundene Türe eintreten können, so zeigte sich jetzt ein frisches, stabiles Türblatt samt Spion und verschiedenen Schlössern, die auf eine Mehrfachschließung samt Querriegel hindeuteten. Auf ein Namensschild hatte Herr Mehner aus Gründen der Anonymität verzichtet, aber dank Heins Ortskenntnis war dieses Problem ja bereits gelöst.
Noah meldete sich per Handsprechfunkgerät. »Jungs, hier oben muss ich wirklich schweres Geschütz auffahren. Die zu erwartende Sachbeschädigung ist erheblich. Seht ihr eine Möglichkeit, über ein Fenster einzusteigen, ohne gleich die ganze Hausfassade einzureißen?«, fragte er im Rahmen der Verhältnismäßigkeit.
Heins Blick glitt prüfend über den oberen Teil des Gebäudes.
»Ha! Hab ich dich! Da oben steht ein Fenster auf Kipp, da sollten wir komplett gewaltfrei einsteigen können«, frohlockte er und gab seine Erkenntnisse an Noah weiter, der prompt einen Einsatzbefehl formulierte: »Drehleiterbesatzung, zur Sicherung des Patienten mit Rettungskorb in entsprechende Wohneinheit vordringen!«
Die Stützen des Hubrettungsgeräts, wie Drehleitern im Fachjargon auch genannt werden, fuhren aus und senkten sich ab. Hein und ich bestiegen den Rettungskorb und trotzten ab jetzt maschinell unterstützt der Schwerkraft. Über Joysticks steuerte ich den Korb, während Hein Utensilien vorbereitete, die er zum Öffnen des gekippten Fensters verwenden wollte. Keine halbe Minute später befanden wir uns sowohl in luftiger Höhe als auch in geeigneter Position, und Hein begann sein Werk.
Aus guten Gründen möchte ich an dieser Stelle nicht zu sehr ins Detail gehen, aber nach wenigen routinierten Arbeitsschritten änderte sich die Stellung des Fensters und es ließ sich komplett öffnen.
Zumindest war das unser erster Eindruck, denn leider stieß das Glasbauteil rasch an ein zu hoch eingebautes Spülbecken und gab darum nur einen circa fünfzehn bis zwanzig Zentimeter breiten Spalt als Zugangsweg frei.
Hein warf einen Blick hinein. »Oh, der Herr hat aufgeräumt! Sonst siehts bei ihm immer aus wie bei Hempels unterm Sofa – egal, du zuerst!«
Derartige Einsatzstellen betritt man grundsätzlich nur zu zweit, denn man weiß nie, was einen erwartet, und dann möchte man im Fall von Auseinandersetzungen oder Ähnlichem nicht allein auf weiter Flur stehen. Also kletterte ich hinein beziehungsweise wand, drehte und verrenkte ich mich, denn die Einsatzmontur trug etwas auf, und der Spalt war schmal. Erst als ich meinen Helm ablegte, gelang es mir, mich in die Wohnung zu quetschen.
Hein lernte sofort aus meinen Schwierigkeiten. Er zog seinerseits den Helm aus und legte ihn im Rettungskorb ab, bevor er geschmeidig ein erstes Bein über die Fensterbank schwang. Er wollte sich, mir ähnlich, hindurchwinden, stieß allerdings mit der Mitte seines Oberkörpers an physikalische Grenzen. Er erinnerte mich ein wenig an einen zu fetten Kater, der versucht, durch eine zu kleine Katzenklappe zu schlüpfen.
Hein gab sich alle Mühe, und trotzdem kam der Moment, wo es weder vor noch zurück ging.
»Soll ich ziehen?«, fragte ich und versuchte, nicht allzu amüsiert zu klingen.
»Du musst!«, antwortete Hein frustriert, während am Boden unter uns der Rettungsdienst, PHK Schnelle und die zurückgebliebenen Kollegen johlten.
»Hämische Drecksbande!«, entfuhr es meinem Lieblingskollegen, als er, einem Sektkorken nicht unähnlich, endlich ins Wohnungsinnere ploppte.
Da standen wir nun und ließen die Küche, in die wir eingedrungen waren, auf uns wirken.
»Hier hat sich irgendwas verändert!«, meinte Hein mit unsicherem Unterton in der Stimme, als ich ihn – ganz auf den Einsatz fokussiert – unterbrach: »Egal! Durchsuchen und Rückmeldung geben!«
Keine Minute später stand fest: In dieser Wohnung befand sich niemand, der unserer Hilfe bedurfte. Wir waren noch dabei, Schlussfolgerungen zu ziehen, als Noahs Stimme aus dem Funkgerät quakte: »Ihr seid drin! Sehr gut! Rückmeldung – was ist bei euch los?«
Nachdem Hein und ich uns nochmals vergewissert hatten, dass sich weder jemand in der Wohnung befand, noch sich ein menschliches Wesen auf dem Balkon oder unter dem Bett versteckte, antwortete Hein: »Definitiv niemand in Gefahr! Wir suchen einen Schlüssel, um die Tür zu öffnen, machen das Fenster von innen zu und übergeben die Einsatzstelle der Polizei. Herr Mehner lebt seine psychischen Auffälligkeiten diesmal wohl aus sicherer Entfernung aus.«
Noah antwortete zustimmend bis erleichtert, und ich machte mich auf die Suche nach einem Zweitschlüssel, um die Wohnungstür gewaltfrei von innen zu öffnen. Hein beteiligte sich an der Suche, aber er gefiel mir dabei nicht. Er trug die Stirn in skeptischen Falten und schien nervös. Obwohl sich definitiv kein Patient in der Wohneinheit befand, arbeitete etwas in ihm.
Wie um meinen Eindruck zu bestätigen, brummelte er vor sich hin: »Nein! Nein! Nein! Hier stimmt was nicht! Viel zu ordentlich! Irgendwie auch anders eingerichtet. Entweder Herrn Mehners Psychotherapeut ist ein Genie oder ich habe den Bock meines Lebens geschossen …«, gab er leicht konsterniert von sich.
»Heureka, da ist er ja!«, entfuhr es mir, als ich aus einer Schlüsselsammlung, die an einem wenig künstlerischen Salzteiggebilde hing, das richtige Werkzeug zum Öffnen und Schließen der Wohnungstüre entdeckte. Heins Blick erinnerte an einen Kandidaten von Wer wird Millionär?, der bei der Fünfzig-Euro-Frage den dritten Joker verjubelt.
Das Metallgebilde mit Kerben und Bohrungen fuhr leicht ins Schloss, dann der immer wieder spannende Moment, ob sich eine Drehung vollziehen ließ oder nicht – es drehte. Klinke drücken und den Blick ins Treppenhaus und in die erwartungsvollen Gesichter der Kollegen genießen.
Weit gefehlt! Von Genuss konnte keine Rede sein, denn Hein und ich starrten ins Leere.
Holztreppen und grob verputzte Wände bildeten ein verwaistes Bühnenbild. Unser Blick schweifte nach unten und oben, und – verdammte Scheiße – die restlichen Einsatzkräfte standen erwartungsvoll eine Etage über uns. Wir waren in die falsche Wohnung eingestiegen. Hein hatte sich geirrt.
Über das Warum und Wieso lässt sich lange philosophieren. In über zwanzig Jahren Einsatzdienst habe ich solche Momente mehr als einmal erlebt. Entscheidend war, dass Noah keine Wahl mehr blieb. Seit unserem Eintreffen war genug Zeit verstrichen und eine Selbstgefährdung unseres Patienten nicht auszuschließen, also ließ unser Zugführer die Tür, vor der er bislang geduldig gewartet hatte, nun gewaltsam öffnen.
Der Rest ist schnell erzählt. Das Metall der Zarge bog sich, Holz splitterte, und vorwurfsvolle Augen starrten immer noch auf Hein, bis die richtige Tür sich endlich öffnete. Herr Mehner fand sich in der hintersten Ecke seines zugemüllten Wohnzimmers und drohte weiterhin, sich in Ermangelung von Speiseeis das Leben zu nehmen, doch darum kümmerten sich ab jetzt Rettungsdienst und Polizei, während mein Lieblingskollege einen viertelstündigen Spießrutenlauf hämischer Kollegen erlebte.
An dieser Stelle möchte ich meinen Freund in Schutz nehmen. Ob das Dachgeschoss ausgebaut oder zur darunterliegenden Wohnung gehörte, war von außen nicht wirklich zu unterscheiden. Ortskenntnis kann auch mal trügen, und immerhin hatte Hein die im Gebäude befindlichen Kräfte zur richtigen Wohnung gelotst, auch wenn das in diesem Moment nichts mehr zählte. Hein wurde verspottet und ausgelacht.
»Knapp vorbei ist auch daneben«, war noch der freundlichste Kommentar. Dass er obendrein im Fenster stecken geblieben war, wird meinen Lieblingskollegen noch Jahre begleiten – zum Dienst darf man eben nur physisch und psychisch topfit erscheinen.
Um Hein in seiner gegenwärtigen Verfassung aufzufangen, war dieser Einsatz jedenfalls mehr als ungeeignet. Gott sei Dank blieb der Rest der Schicht ruhig.
Aber es gab durchaus Nachwehen. Hein meldete sich für längere Zeit krank.