Читать книгу Die Magdeburger Bluthochzeit. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges. Band 4 - Jörg Olbrich - Страница 11
ОглавлениеKöln, 24. August 1627
»Ich habe Angst, Pater.«
Friedrich Spee runzelte überrascht die Stirn. Es kam nicht oft vor, dass die Beichte einer Person, die vorher nie bei ihm gewesen war, mit einer derartigen Aussage begann. Die Stimme der unbekannten Frau klang voller Sorge. Der Jesuitenpater versteifte sich auf seinem Stuhl. »Was ist der Grund?«, fragte er, nachdem er festgestellt hatte, dass die Unbekannte nicht von alleine weitersprechen würde.
»In Köln werden immer mehr Ketzer auf den Scheiterhaufen geführt«, sagte die Frau langsam und so leise, dass Spee sie fast nicht verstehen konnte.
»Du hast also Angst vor Hexen?«
»Das ist es nicht.«
»Wovor fürchtest du dich dann?«
»Davor, selbst als Hexe besagt zu werden.«
»Hast du denn etwas mit diesen Teufelsanbetern zu schaffen?« Spee fiel es in diesem Moment schwer, ruhig auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. Wollte ihm die Fremde etwa gestehen, sich der Hexerei schuldig gemacht zu haben? Warum kam sie dann zur Beichte in ein Gotteshaus?
»Natürlich nicht«, sagte die Frau bestimmt. »Ich bin keine Hexe und kenne auch keine!«
»Dann verstehe ich den Grund für deine Sorge nicht.«
»Ich habe Angst, dass man mich beschuldigt, eine Hexe zu sein.«
»Wenn du reinen Gewissens bist, wird Gott eine schützende Hand über dich halten«, versicherte Spee. Der Jesuit wurde nicht so recht schlau aus den Worten der Unbekannten. Was wollte sie ihm sagen? Wenn sie nichts mit Zauberern und dem Teufel zu schaffen hatte, warum hatte sie dann solche Angst?
»Ich bin Hebamme«, gestand die Frau, als wäre das alleine schon Grund genug, sie auf den Scheiterhaufen zu zerren.
»Das macht dich nicht zur Hexe«, entgegnete Spee. Der Pater musste sich zwingen, mit ruhiger Stimme zu sprechen. Neben ihm saß eine junge Frau, die offensichtlich nichts Böses getan hatte, aber dennoch um ihr Leben fürchtete. Auch wenn er sie erst seit wenigen Minuten kannte und sie nicht einmal gesehen hatte, begann er sich Sorgen um die Hebamme zu machen.
»Aber es erhöht die Gefahr, dass die Menschen genau das von mir denken.«
»Was ist geschehen?« Mehr und mehr gewann Spee den Eindruck, dass sie noch nicht zum Kern des Problems vorgedrungen waren. Die Frau schien ihm etwas sagen zu wollen, aber nicht so recht zu wissen, wie sie beginnen sollte. Der Jesuit hörte, wie die Hebamme in der Kammer neben ihm durchatmete. »Du kannst offen zu mir sprechen«, sagte er aufmunternd. »Keines deiner Worte wird diese Mauern verlassen.«
»Ich wurde zu einem reichen Kaufmann gerufen«, begann die Frau zögerlich mit ihrem Bericht. »Dessen Gehilfin war kurz vor der Niederkunft. Das Kind lag falsch herum im Leib, aber es ist mir gelungen, es lebend auf die Welt zu bekommen. Auch die junge Mutter hat die Geburt gut überstanden.« Nachdem die ersten Worte heraus waren, sprach die Hebamme nun mit flüssiger Stimme weiter. »Es war ein Junge. Noch bevor ich die Nabelschnur durchschnitt, begannen der Kaufmann und dessen Weib aufgeregt zu schreien und redeten davon, dass Mutter und Kind verflucht seien. Zunächst verstand ich nicht, was sie damit meinten. Dann sah ich die kleinen Füße des Jungen. Sie hatten jeweils nur vier Zehen.«
»Ich verstehe«, sagte Spee leise. Offensichtlich hatten die Kaufleute den kleinen Makel des Kindes als Indiz dafür angesehen, dass dunkle Mächte am Werk waren. Leider gab es immer wieder Menschen, die alles, was sie nicht erklären konnten, dem Satan zuschrieben. »Ich versichere dir, dass Gott auch dieses Kind lieben wird«, sagte der Pater mit fester Stimme.
»Vielleicht«, sagte die Hebamme. »Das war aber noch nicht alles.«
»Sprich weiter.«
»Das Kind hat keinen Vater.«
»Was?«
»Ich meine, die Mutter hat keinen Gemahl.«
Spee stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du musst dich etwas klarer ausdrücken, mein Kind.«
»Die Mutter wollte mir zunächst nicht sagen, wer der Vater des Jungen war. Sie schien große Angst vor den Kaufleuten zu haben. Weil ich bei einem Neugeborenen eine Eintragung ins kirchliche Melderegister der Stadt vornehmen muss, in der auch die Eltern angegeben werden, bin ich so lange bei der Mutter geblieben, bis ich mit ihr alleine war. Dann hat sie mir erzählt, dass der Kaufmann sich an ihr vergangen hat und dabei das Kind gezeugt wurde.«
Spee stieß einen überraschten Pfiff aus. Er wusste, dass es immer wieder einmal vorkam, dass sich reiche Männer an ihren Bediensteten vergriffen. Mehrere Frauen hatten ihm dieses bereits gebeichtet. Von zwei jungen Mädchen wusste er, dass sie geflohen waren, nachdem sie gemerkt hatten, dass sie ein Kind empfangen hatten.
»Hast du danach mit dem Vater des Jungen gesprochen?«
»Nein. Ich habe lediglich den Pater informiert, der für das Melderegister verantwortlich ist.«
»Und jetzt hast du Angst vor dem Kaufmann.« Spee fiel es schwer, seine Gedanken zu sortieren. So ungewöhnlich die Geschichte bis zu diesem Punkt auch war; was hatte das alles damit zu tun, dass man die Hebamme der Hexerei bezichtigen könnte?
»Ja. Und vor der Mutter des Jungen.«
»Hätte die denn die Niederkunft ohne deine Hilfe überlebt?«
»Nein. Eine Woche nach der Geburt wurde der Junge getauft. Noch am gleichen Tag ist er in seiner Wiege erstickt. Daraufhin wurde die Mutter der Hexerei bezichtigt. Man wirft ihr vor, sich mit dem Teufel eingelassen zu haben.«
»Das ist an den Haaren herbeigezogen«, stellte Spee erschrocken fest. Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Mutter ihr eigenes Kind umbringen würde. Wenn der Knabe nicht auf natürliche Weise gestorben war, musste jemand anderes sein Mörder sein. Der Pater schloss dagegen nicht aus, dass der Kaufmann selbst für den Tod seines Sohnes verantwortlich war, wollte der Hebamme gegenüber diesen Verdacht aber nicht aussprechen.
»Das sehen die Hexenkommissare anders. Sie behaupten sogar, dass das Kind nur gestorben sei, weil das Dämonische in ihm die Taufe nicht überstanden habe.«
»Um Gottes Willen«, entfuhr es dem Jesuiten. »Wer glaubt denn an so einen Unfug?« Friedrich Spee verstand nun die Angst der Hebamme. Sie befürchtete, dass man nun ihr die Schuld am Tod des Kindes geben könnte und sie ebenfalls der Hexerei bezichtigte. Diese Sorge teilte er allerdings nicht. Die Frau hatte nur ihre Arbeit getan. Dafür würde sie kein Mensch verurteilen können. »Du bist ohne Schuld«, erklärte der Pater bestimmt. »Bleibe in deinem Glauben standhaft und vertraue auf Gott.«
»Ich habe schon daran gedacht, Köln zu verlassen.«
»Das wird nicht nötig sein. Wie ist dein Name?«
Die Hebamme zögerte einen Moment und antwortete erst, als Spee ihr versicherte, dass er sie nicht anzeigen würde, sie aber auch nicht beschützen konnte, wenn er nicht wusste, wer sie war.
»Karina Brandl.«
»Gut. Komm ab jetzt jeden Mittwoch um diese Zeit zu mir. Ich werde versuchen, etwas über die Mutter des toten Jungen zu erfahren. Vielleicht lässt sich ja alles erklären.«
»Das glaube ich nicht. Der Name der Mutter ist Sonja Koch. Wohin man sie gebracht hat, kann ich Euch leider nicht sagen.«
»Das werde ich herausfinden.«
Nachdem Karina den Beichtstuhl verlassen hatte, blieb der Jesuit noch einen Moment darin sitzen und dachte über das Gehörte nach. Er nahm sich vor, der Hebamme zu helfen. Sollten die Kommissare tatsächlich eine Unschuldige in den Kerkern der Stadt gefangen halten, musste er etwas dagegen tun.
Als er vor den Altar der Kirche trat, sah er eine junge Frau, die ihn zu erwarten schien. Es bestand kein Zweifel, dass es Karina Brandl war. Spee betrachtete die Hebamme genauer, als sie zu ihm kam. Mit ihren dunklen Augen, der faltenfreien Gesichtshaut und den langen, schwarzen Haaren würde man sie im Volksmund sicher als schön bezeichnen. Der Pater hatte dafür keinen Blick. Für die Traurigkeit, die Karina ins Gesicht geschrieben stand, allerdings schon.
»Ich wollte mich nur noch bei Euch bedanken«, sagte Karina und reichte dem Jesuiten schüchtern die Hand. »Außerdem bitte ich Euch, mir Euren Namen zu nennen.«
»Friedrich Spee. Du findest mich am Tricoronatum im Kloster der Gesellschaft Jesu. Du kannst jederzeit zu mir kommen.«
***
Spee trat ins Freie und beschirmte seine Augen mit der Hand. Die Kirche war lediglich von einem schwachen Schein erhellt worden, der durch die Fenster fiel. Jetzt schien ihm die Sonne direkt in sein Gesicht. Er brauchte einen Moment, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen.
Auf dem Weg von der Jesuitenkirche St. Peter ins Tricoronatum ließ Spee sich Zeit. Er genoss die kleinen Spaziergänge durch das sommerliche Köln und schaute den Menschen zu, die ihr Tagwerk verrichteten. Weil er noch einen Vortrag fertigstellen musste, den er am nächsten Tag vor seinen Schülern halten wollte, fehlte ihm die Zeit, seinen Lieblingsplatz am Rheinufer aufzusuchen, wo er gerne seinen Gedanken nachhing.
Friedrich Spee war zufrieden. Wieder einmal hatte ihm das Schicksal einen neuen Weg bereitet und ihn zu Aufgaben geführt, die er voller Freude und Stolz annahm. Der Dienst am Menschen im Namen Gottes füllte sein Leben aus.
Nachdem er in Speyer sein Tertiat absolviert und nach diesem dritten Probejahr in den Orden eingegliedert worden war, hatte man ihn ans Tricoronatum in Köln berufen, wo er die Vertretung eines erkrankten Philosophieprofessors übernommen hatte.
Für Spee, der als junger Mann selbst an diesem Gymnasium Schüler gewesen war, schloss sich damit ein Kreis. Zu Beginn seiner akademischen Laufbahn war er in Trier in die Gesellschaft Jesu eingetreten. Sein erstes Ordensgelübde hatte er dann in Fulda abgelegt und war von dort aus zum Philosophiestudium nach Würzburg gegangen.
Während seiner darauffolgenden Lehrtätigkeit in Speyer und Worms hatte er beim Generaloberen einen Antrag gestellt, als Missionar nach Indien gehen zu dürfen. Dieser Lebenstraum des jungen Paters hatte sich nicht erfüllt. Mit der Begründung, dass es für einen Gelehrten aus der Gesellschaft Jesu im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in dem die Protestanten eine immer stärker werdende Stellung einnahmen, genug und wichtigere Aufgaben gäbe, war sein Antrag abgelehnt worden.
In Mainz, wo er sein Theologiestudium abgeschlossen hatte, war Spee vor fünf Jahren zum Priester geweiht worden. Man erteilte ihm einen Lehrauftrag an der Universität Paderborn. Dort wurde er Zeuge des entsetzlichen Leides, das der Krieg über die Menschen brachte. Mit Schrecken dachte er an die Zeit zurück, in der Herzog Christian von Braunschweig Wolfenbüttel in die Stadt eingefallen war.
Obwohl er vom Generaloberen die Erlaubnis bekommen hatte, nach Mailand zu gehen, wo er seine Sprachkenntnisse vertiefen wollte, schickte ihn sein Provinzial zur Lehrtätigkeit nach Speyer. Damit war ihm zum zweiten Mal ein Herzenswunsch verwehrt worden. Auch zum letzten Ordensgelübde, das ihn endgültig zum vollen Mitglied der Gesellschaft Jesu gemacht hätte, war Spee bisher nicht zugelassen worden.
An den unterschiedlichen Stationen seines Lebens war Spee immer wieder mit der Hexenverfolgung in Verbindung gekommen. Er hatte den Todgeweihten die Beichte abgenommen und sie auf ihrem letzten Weg begleitet. Es war seine grenzenlose Liebe zu Gott gewesen, die ihm immer wieder die Kraft gegeben hatte, den Anblick des unfassbaren Leids der Schuldigen zu ertragen.
Spee verrichtete seine Arbeit mit großer Hingabe. Neben seiner Lehrtätigkeit war es vor allem das Erdichten von Kirchenliedern, in denen er seine Liebe zu Gott zum Ausdruck brachte. Schon während seiner Studienzeit war er dieser Leidenschaft nachgegangen. Anfangs wurden seine Texte vom Provinzial als unreif abgewiesen. Mittlerweile waren aber mehrere Lieder aus seiner Feder in die kirchlichen Gesangbücher aufgenommen worden.
Vor dem Eingang zum Tricoronatum traf Spee auf Goswin Nickel, den Leiter des Jesuitenkollegs in Köln, der vor dem Tor auf ihn wartete und dem Pater zunickte.
»Wie ich sehe, habt Ihr einen kleinen Spaziergang unternommen«, sagte Nickel freundlich.
»Ich war in der Kirche St. Peter.«
»Ihr seid mir keine Rechenschaft schuldig«, antwortete der hochrangige Jesuit. »Solange Ihr Eure Aufgaben nicht vernachlässigt, könnt Ihr tun und lassen, was Euch beliebt.«
Spee sah Nickel einen kurzen Moment irritiert an. Plötzlich glaubte er nicht mehr, dass sie sich zufällig hier getroffen hatten. Hatte er sich, ohne es selbst zu wissen, eines Vergehens schuldig gemacht?
»Ich sehe aufkommende Furcht in Euren Augen und kann Euch versichern, dass diese völlig unbegründet ist.« Nickel sah den Pater gütig an und legte ihm freundschaftlich den Arm um die Schulter. »Wollt Ihr mir dennoch berichten, wie es Euch in den letzten Tagen am Tricoronatum ergangen ist? Habt Ihr Euch schon ein wenig einleben können?«
»Die Schüler arbeiten fleißig mit und es gibt keinen Grund zur Klage«, antwortete Spee wahrheitsgemäß. »Auch das Lehrerkollegium versucht, mich bei meinem Einstieg zu unterstützen. Ich fühle mich sehr wohl hier in Köln.«
»Das freut mich zu hören.«
Spee musterte seinen Vorgesetzten aufmerksam. Keine seiner Gesichtsregungen ließ vermuten, dass er etwas gegen ihn im Schilde führte. Seine nächsten Worte zeigten aber endgültig, dass es kein Zufall gewesen war, dass die beiden sich getroffen hatten.
»Ich habe vielleicht eine Aufgabe für Euch.«
»Es ist mir eine Freude, wenn ich Euch unterstützen kann. Was soll ich tun?« Spee sah Goswin Nickel neugierig an. Der Pater hatte bereits jetzt einen gefüllten Tag, und wenn nun weitere Aufgaben hinzukämen, würde ihm weniger Zeit für seine Gedichte bleiben. Dennoch wollte er alle Erwartungen erfüllen, die der Leiter des Kollegs in ihn setze.
»Ida Schnabel hat mich heute besucht und um einen Gefallen gebeten.«
»Die Leiterin der Gesellschaft St. Ursula?«
»Ihr kennt sie?« Jetzt war es Nickel, der den Pater überrascht ansah.
»Noch aus meiner Zeit, in der ich selbst Schüler im Tricoronatum gewesen war. Sie ist eine gottesfürchtige Frau, und ich bewundere ihren Einsatz im Namen des Herrn.«
»Daran tut Ihr wohl recht«, sagte Nickel. »Ida Schnabel hat mich um Hilfe gebeten, und ich denke, dass Ihr der Richtige für diese Aufgabe seid.«
Die Frauen in der Gesellschaft St. Ursula führten ein tief religiöses Leben und hatten sich der Verbreitung des Glaubens und der Unterweisung der jungen Menschen verschrieben. Außerdem kümmerten sie sich um Arme und Kranke. Dennoch war die Gesellschaft St. Ursula kein Frauenorden. Sie legten kein Gelübde ab und lebten auch nicht im Kloster zusammen, sondern bei ihren Familien. Spee stellte Nickel die Frage, wie ausgerechnet er den Frauen helfen konnte.
»Ida Schnabel bittet darum, dass wir ihr wöchentlich ein Blatt für das Gebet und die geistliche Besinnung zur Verfügung stellen. Sie war der festen Überzeugung, dass Ihr genau die richtige Person seid, diese zu verfassen.«
Friedrich Spee war überrascht und erfreut zugleich. Diese Aufgabe wollte er nur allzu gerne übernehmen. Sofort hatte er erste Ideen, wie er die göttlichen Tugenden in den Blättern aufbereiten konnte. »Ich fühle mich geehrt, dass Frau Schnabel so viel Vertrauen in mich setzt, und nehme die Aufgabe gerne an.«
»Ich hatte gehofft, dass Ihr so antworten würdet«, antwortete Nickel lächelnd. »Jetzt möchte ich Euch nicht weiter aufhalten«
***
»Ich bin keine Hexe.«
»Das habe ich auch nicht gesagt«, entgegnete Friedrich Spee mit sanfter Stimme. »Ich bin nicht gekommen, um dich zu verhören. Ich bin gekommen, um dir die Möglichkeit zur Beichte zu geben.«
»Ist das nicht das Gleiche?« Sonja Koch, die nur mit einem dünnen Leinenhemd bekleidet auf einem Haufen alten Strohs in ihrer Zelle lag, sah den Jesuiten aus verquollenen Augen an. »Ihr wollt doch nur, dass ich gestehe, mich der Hexerei schuldig gemacht zu haben, damit Ihr zu den Kommissaren rennen und mich verraten könnt.«
»Denkst du das wirklich von mir?«
»Warum solltet Ihr sonst zu mir gekommen sein?« Im Blick der jungen Frau erkannte Spee die pure Verachtung, die sie ihm gegenüber verspüren musste. Was auch immer man ihr angetan hatte, sie schien den Glauben an das Gute verloren zu haben. Er schaute auf den Daumen ihrer rechten Hand, der in ungewöhnlichem Winkel nach oben von den anderen Fingern abstand. Sie musste furchtbare Schmerzen haben.
»Das habe ich dir eben gesagt.« Spee sah der jungen Frau in die Augen und hielt deren Blick stand. Wenn er ihr Vertrauen gewinnen wollte, durfte er jetzt nicht wegsehen. Die Frau war in einem furchtbaren Zustand. Von Karina wusste er, dass sie erst wenige Tage im Kerker war. Dennoch hatte die Zeit sie gezeichnet. Ihre Haare waren verklebt und ihr ganzer Körper war von Schmutz bedeckt. In der Zelle stank es nach Urin, Kot und Erbrochenem. Es fiel nur ein schwaches Licht in die Zelle. Der Pater ertappte sich dabei, dass er erleichtert darüber war. So blieben seine Augen von dem umfassenden Elend, in dem man die Frau gefangen hielt, verschont.
Von Arnold Meshov, dem Pfarrer in der Jesuitenkirche St. Peter, in dessen Bezirk Sonja wohnte, hatte Spee erfahren, dass man die Frau in den Frankenturm gebracht hatte. So war er zwei Tage, nachdem er von Karina erfahren hatte, dass man die Magd denunziert hatte, vom Dom aus die Trankgasse entlang gegangen, an deren Ende sich das Gefängnis befand.
Zunächst hatte der Wärter Spee nicht zu der Gefangenen lassen wollen. Erst, als er sich als der Beichtvater von Sonja Koch ausgab, hatte man ihn in die Zelle geführt. Den Wärter interessierte es nicht, was der Pater mit der Frau zu besprechen hatte. Daher war er zurück in die Wachstube gegangen, nachdem er Spee das Verlies gezeigt hatte.
»Willst du mir nicht erzählen, was dir widerfahren ist und warum man dich hierhergebracht hat?«
»Ich bin unschuldig«, sagte Sonja leise, aber bestimmt. »Alfred Berger ist der Vater des Kindes. Ich bin überzeugt, dass sein Weib meinen Sohn nach der Taufe getötet hat. Danach wollte sie auch mich loswerden und hat mich der Hexerei beschuldigt. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
»Das sind schwere Anschuldigungen«, sagte Spee.
»Sind die Vorwürfe, die man mir macht, etwa weniger schlimm?«
»Nein. Das sind sie nicht.«
»Ich sage die Wahrheit. Wenn Ihr mir nicht glaubt, ist das Eure Sache. Ich weiß, dass man mich für schuldig hält und ich die nächsten Wochen nicht überleben werde. Daran werdet auch Ihr nichts ändern können.«
»Warum sollten Alfred Berger und sein Weib das Kind töten und dich zu Unrecht beschuldigen?«, fragte Spee.
»Weil sie ansonsten für den Jungen hätten aufkommen müssen«, antwortete Sonja, ohne zu zögern.
Spee kratzte sich nachdenklich am Vollbart unter seinem Kinn. Es fiel ihm schwer zu entscheiden, ob er der jungen Frau glauben sollte. Entweder sagte sie oder das Kaufmannsehepaar Berger die Wahrheit. Fest stand lediglich, dass der Junge gestorben war.
»Ich werde der Sache auf den Grund gehen«, sagte Spee schließlich.
»Ihr glaubt mir also auch nicht.«
»Das habe ich nicht gesagt.« Spee stand auf und nickte Sonja aufmunternd zu. »Ich werde mich darum bemühen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Wenn du wirklich unschuldig bist, werden die Kommissare das auch erkennen.«
»Verzeiht mir, wenn ich darauf keine großen Hoffnungen setze«, sagte Sonja, bevor Spee die Zelle verließ.
Der Jesuit rief nach dem Wärter, damit der die Gefangene wieder einsperren konnte. Dann ging er aus dem Frankenturm und machte sich auf den Weg zu Dr. jur. Peter Ostermann, der mitverantwortlich für die Hexenprozesse in Köln war. Er war fest entschlossen, den Juristen davon zu überzeugen, dass eine Unschuldige in seinem Gefängnis saß. Sonjas Verdacht, dass das Kaufmannsehepaar ihren Sohn ermordet hatte, war nicht von der Hand zu weisen. Dies würde auch der Hexenkommissar erkennen.
***
»Warum seid Ihr so sehr von der Unschuld von Sonja Koch überzeugt?«, fragte Ostermann und schaute Spee argwöhnisch an. »Hat sie Euch etwa auch verhext?«
»Das ist Unfug«, sagte der Jesuit aufgebracht. »Ich habe die Frau in ihrer Zelle besucht, um ihr die Möglichkeit zur Beichte zu geben. Sie kommt mir nicht wie eine Hexe vor.«
»Die Satansbrut versteht es sehr gut, sich unter den Menschen zu verbergen«, sagte Ostermann und erhob den Zeigefinger. »Ich rate Euch dringend, den Ketzern nicht jedes Wort zu glauben. Sie erzählen alles, um ihrer gerechten Strafe zu entgehen und freigelassen zu werden.«
»Dann haltet Ihr es für unmöglich, dass jemand unschuldig im Gefängnis gelandet ist?«
»Bisher ist das noch niemals passiert. Unsere Kommissare prüfen sehr genau, wen sie in das Gefängnis sperren und wen nicht. Glaubt mir. Diejenigen, die in den Verliesen sitzen, gehören auf den Scheiterhaufen. Alle. Ich kann verstehen, dass es Euch schwerfallen mag zu glauben, wie erbarmungslos Satan seine Schergen um sich schart. Ich weiß aber sicher, dass alle, die in Köln jemals wegen Ketzerei angeklagt worden sind, auch schuldig waren.«
Ostermann stand vor dem Fenster in seinem Amtszimmer im ersten Stock des Kölner Rathauses und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Für ihn schien nicht der geringste Zweifel zu bestehen, dass er mit seiner Aussage recht hatte.
»Woher wisst Ihr, dass alle schuldig waren?«
»Weil sie gestanden haben. Jeder Einzelne von ihnen.«
»Unter der Folter, nehme ich an.«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Ostermann mit erhobener Stimme. »Wenn die Folter der Wahrheitsfindung dient, ist sie das rechte Mittel, um die Ketzer zu enttarnen.«
»Es haben also bisher alle unter der Folter ihre Schuld zugegeben?« Spee konnte nicht glauben, dass wirklich jeder, den man in der Vergangenheit der Hexerei besagt hatte, auch tatsächlich schuldig war.
»Nicht alle«, antwortete Ostermann. »Katharina Hernot, die ehemalige Postmeisterin von Köln, hat auch unter der Folter nicht gestanden, dass sie der Hexerei schuldig ist. Und das, obwohl wir sie der Tortur fünf Mal ausgesetzt haben.«
»Was ist mit ihr geschehen?«
»Sie wurde erdrosselt und dann verbrannt.«
»Ohne Schuldeingeständnis?«
»Mein lieber Pater Spee«, sagte Ostermann bemüht beherrscht. »Ich kann Euch versichern, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht. Katharina Hernot war eine Hexe. Eine sehr mächtige sogar. Ansonsten hätte sie es nie geschafft, die Tortur so oft zu überstehen. Der Teufel persönlich muss ihr die Kraft dazu gegeben haben.«
»Es ist also gar unmöglich dem Scheiterhaufen zu entkommen, wenn man einmal in ein Hexengefängnis gebracht worden ist.« Spee schaffte es nicht, das Entsetzen in seiner Stimme zu verbergen.
»Nein. Und das ist ja wohl auch nicht notwendig«, sagte Ostermann ärgerlich. »Die Justiz irrt nicht. Niemand kommt unschuldig in das Gefängnis. Das ist völlig ausgeschlossen. Und jetzt muss ich Euch bitten zu gehen. Es gibt noch andere Dinge, um die ich mich kümmern muss.«
Auf dem Weg zurück ins Tricoronatum dachte Spee über das Gespräch mit Ostermann nach. Die Worte des Juristen hatten den Pater verwirrt. Wenn es stimmte, was der Mann sagte, war das Leben von Sonja Koch verwirkt. Es spielte keine Rolle mehr, ob sie tatsächlich schuldig war oder nicht. Zumindest nicht für die Kommissare, die für das Verfahren gegen die Frau verantwortlich waren. Sonja Koch würde brennen.
Spee war sich in diesem Moment selbst nicht mehr sicher, was er glauben sollte. War es wirklich denkbar, dass sich Sonja Koch ihm gegenüber so verstellt hatte? Waren alle ihre Worte tatsächlich eine Lüge gewesen? Oder gab es am Ende doch einen Fehler in der Vorgehensweise bei der Hexenverfolgung? Der Pater wusste die Antwort nicht. Sein Bauchgefühl sagte ihm aber, dass hier dringender Handlungsbedarf bestand. Und das nicht nur im Fall Sonja Koch.