Читать книгу Die Magdeburger Bluthochzeit. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges. Band 4 - Jörg Olbrich - Страница 7

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Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, 07. September 1626

Erschöpft legte sich Hanna auf ihr Lager und atmete tief durch. Die Abenddämmerung hatte noch nicht begonnen und sie war gerade von ihrem dritten Kunden für diesen Tag verlassen worden.

Etwa zwei Wochen war es jetzt her, seitdem man Hanna zu Rosa gebracht hatte. Ihre anfängliche Angst war schnell verschwunden. Sie bekam gut zu essen und hatte einen eigenen Wagen für sich. Von Rosa hatte sie erfahren, dass die Frau, die ihn vorher bewohnt hatte, verstorben war. Sie hatte sich aber nicht getraut zu fragen, woran. Daran, dass jeden Tag mindestens zwei Männer zu ihr kamen, hatte sie sich schnell gewöhnt.

Nach allem, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte, war Hanna mit den Umständen, in denen sie jetzt lebte, nicht unzufrieden. Es hatte deutlich schlechtere Tage gegeben. Rosa hatte mehrere junge Frauen in Wagen untergebracht und verdiente sicher eine Menge Geld mit ihnen. Auf der anderen Seite sorgte sie aber auch dafür, dass Hanna und die anderen in Sicherheit waren. Es waren immer mindestens vier Männer in der Nähe, die aufpassten, dass die Kunden die Frauen nicht misshandelten. Bisher hatte Hanna mit keinem der Männer Probleme gehabt. Einige von ihnen stanken fürchterlich, aber keiner hatte die Hand gegen sie erhoben. Es gab sogar zwei Männer, die sie in der kurzen Zeit, in der sie jetzt in dem Wagen lebte, bereits dreimal besucht hatten. Hanna hatte mitbekommen, dass die anderen Frauen mit weniger Kunden das Lager teilen mussten, aber das störte sie nicht. Irgendwann würde sie die Nachricht bekommen, dass Johann von Tilly zurück war. Dann würde sie Rosa verlassen und zurück in das Zelt des Feldherrn gehen.

Ein Klopfen an der Tür riss Hanna aus ihren Gedanken. Sie stieß einen müden Seufzer aus. Warum schickte Rosa schon wieder einen Mann zu ihr? Der Letzte war doch eben erst gegangen.

Zu ihrer Erleichterung war es aber kein neuer Kunde, der ihren Wagen aufsuchte, sondern Rosa höchstpersönlich.

»Wie ich sehe, bist du alleine«, sagte Rosa und schloss die Tür hinter sich. »Das trifft sich gut. Ich habe etwas mit dir zu besprechen.«

Hanna wurde mulmig. Hatte sie etwas falsch gemacht? War Rosa gekommen, um sie fortzuschicken? Würde sie zum wiederholten Mal den einzigen Freund verlieren, den sie im Heerlager hatte? Nach dem ersten Eindruck, den sie von der Frau gewonnen hatte, war sie eher erschrocken gewesen. In den zwei Wochen, seitdem sie die ungewöhnliche Frau nun kannte, hatte sie jedoch eine hohe Meinung über Rosa gewonnen. Die Frau hatte ein großes Herz und kümmerte sich um ihre Schützlinge. Hanna vertraute ihr zwar bei Weitem nicht so wie Pater Justus; ihre Angst vor Rosa war aber schon lange verschwunden.

»Hat sich jemand über mich beschwert?«, fragte Hanna und schaute Rosa voller Sorge an.

»Nein. Es ist alles in bester Ordnung. Ich habe etwas für dich. Öffne deine Hand.«

Hanna folgte Rosas Aufforderung und die überreichte ihr eine größere Menge Silbermünzen. Sie zählte sie in Gedanken durch und kam auf zwei Mal fünf.

»Warum gibst du mir Geld?«, fragte Hanna überrascht. Wollte Rosa etwa doch, dass sie ihren Wagen verließ?

»Du hast es dir redlich verdient.«

»Was soll ich damit machen?«

Rosa stieß ein schallendes Gelächter aus. »Wenn du das Geld nicht haben willst, gib es mir zurück.«

Hanna dachte kurz darüber nach und kam zu dem Ergebnis, dass es nicht schaden konnte, wenn sie ein paar Münzen hatte. »Ich behalte es.«

Wieder begann Rosa zu lachen. »Versteck die Münzen gut. Am besten nähst du sie in dein Kleid ein. Wenn du weiterhin so viele Kunden hast, werden noch sehr viele dazukommen.«

Hanna schaute Rosa zweifelnd an. Sie wusste nicht, wofür sie das Geld brauchen sollte. Damals auf dem Hof hatte sie nie welches benötigt und jetzt auch nicht. Weder bei Johann von Tilly noch in Rosas Wagen.

»Vielleicht brauchst du irgendwann ein neues Kleid«, sagte Rosa, die Hannas Gedanken zu erraten schien. »Die anderen Frauen wären glücklich, wenn sie so viel verdienen würden.«

»Haben sie denn weniger Kunden als ich?«

»Deutlich weniger.«

»Warum?«

»Kindchen, du hast wirklich keine Ahnung, welche Wirkung du auf die Männer hast, oder? Wann hattest du deine letzte Blutung?«

»Wie meinst du das?«

»Muss ich dir das wirklich erklären?« Rosa schaute ihren Schützling aus großen Augen an. Als Hanna nicht antwortete, schüttelte sie den Kopf. »Du weißt wirklich nicht, was ich meine.«

»Nein.«

Rosa schien einen Moment zu überlegen, ob Hanna sie auf den Arm nehmen wollte, erklärte ihr aber schließlich doch, wovon sie sprach.

»So etwas hatte ich noch nie.« Hanna fand die Vorstellung entsetzlich, dass sie das, was ihr Rosa gerade erklärt hatte, tatsächlich einmal erleben musste.

»Bist du eine Hexe?«

»Nein.«

»Dann hat dich Gott noch mehr gesegnet, als ich bisher angenommen hatte. Du wirst allerdings nie in deinem Leben Kinder bekommen.«

Hanna sah erschrocken zu der Älteren auf. »Darüber habe ich niemals nachgedacht.«

»Das musst du auch nicht.« Wieder schüttelte Rosa den Kopf und stand dann auf, um den Wagen zu verlassen.

Nachdem ihre Herrin gegangen war, tat Hanna aber genau das. Bisher war es ihr nie in den Sinn gekommen, einen Mann und Kinder zu haben. So, wie sie jetzt lebte, wollte sie das auch nicht. Sie hatte gehört, dass vor wenigen Tagen eine Frau im Lager während der Niederkunft gestorben war. Auch das Kind hatte nicht überlebt. Auf einem Hof wäre es vielleicht anders gewesen. Im Heerlager war es aber sicher leichter, wenn sie sich neben ihren eigenen Sorgen nicht auch noch um ein kleines Kind kümmern musste.

Als es das nächste Mal an der Tür klopfte, war es wieder ein Kunde, der die junge Schönheit besuchen wollte. Als Hanna den Mann erkannte, erstarrte sie.

»Na, das nenne ich mal eine Überraschung«, sagte Georg, einer der Soldaten, die sich mit Gottlieb das Zelt geteilt hatten, und kam langsam auf Hanna zu. »Ich habe gehört, dass Rosa ein neues Pferd im Stall hat. Mit dir habe ich allerdings nicht gerechnet. Hatte der Alte so schnell genug von dir?«

»Er hat mich nicht angerührt«, sagte Hanna. Sie spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Warum musste Rosa den Kerl ausgerechnet zu ihr schicken?

»Das glaube ich dir nicht«, sagte Georg. »Es spielt aber auch keine Rolle. Ich kenne jemanden, der sich sehr dafür interessieren wird, wo du bist.«

»Bitte«, flehte Hanna den Soldaten an. »Verrate das Gottlieb nicht. Ich tue alles, was du von mir verlangst.«

»Das wirst du ohnehin tun«, entgegnete der Soldat und lachte dreckig. »Schließlich habe ich dafür bezahlt.«

Hanna wurde blass. Wenn Gottlieb wirklich erfuhr, wo sie war, würden ihr auch Rosa und ihre Männer nicht mehr helfen können. Fieberhaft dachte sie darüber nach, wie sie Georg davon überzeugen konnte, den Mund zu halten. »Und wenn ich dir Geld gebe?«

»Wie viel hast du denn?«

Hanna zeigte dem Soldaten die Münzen, die sie eben von Rosa bekommen hatte. Der riss sie ihr gierig aus der Hand und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. »Und jetzt wirst du ganz besonders nett zu mir sein. Zieh dich aus.«

»Nein«, sagte Hanna. Auch wenn Georg stank und sie den Mann alleine dafür hasste, dass er tatenlos zugesehen hatte, wie Gottlieb sie Nacht für Nacht schlug. Sie würde ihm einen unvergessenen Moment bereiten und ihn vielleicht so davon überzeugen, den Mund zu halten. »Zieh du dich zuerst aus und leg dich hin.«

Georg sah Hanna kurz zornig an, folgte ihrer Aufforderung dann aber doch. Hanna wartete, bis der Soldat bereit war. Dann ließ sie ihr Kleid zu Boden fallen und setzte sich auf ihn. Der Soldat stieß ein lustvolles Stöhnen aus und griff mit beiden Händen nach Hannas Brüsten, während die sich langsam auf ihm auf und ab bewegte.

»Du scheinst einiges dazugelernt zu haben«, sagte Georg, als er zehn Minuten später wieder angezogen vor der Lagerdirne stand. »Gottlieb wird seine Freude an dir haben.«

»Nein«, sagte Hanna entsetzt. »Du hast es mir versprochen.«

»Ich habe gar nichts«, entgegnete Georg und spuckte verächtlich auf den Boden.

»Aber du hast mein Geld genommen!«

»Das wirst du sowieso nicht mehr brauchen, wenn Gottlieb mit dir fertig ist.«

Lachend verließ Georg den Wagen und ließ Hanna am Boden zerstört darin zurück. Jetzt würde ihr niemand mehr helfen können.

Die Tränen strömten Hanna aus den Augen, als sich die Tür geschlossen hatte. Was konnte sie jetzt noch tun? Sie wünschte sich, dass Johann von Tilly oder Pater Justus ins Lager zurückkehrten, wusste aber selbst, wie klein diese Hoffnung war. Je länger sie auf ihrem Lager lag und über ihre Zukunft nachdachte, umso klarer wurde Hanna, dass es nur noch einen Ausweg gab. Sie musste fliehen.

Voller Panik zog sie ihre Lederschuhe an, die sie im Wagen nie getragen hatte, und verschloss ihr Kleid. Etwas anderes besaß die junge Frau nicht. Es war ein großer Fehler gewesen, Georg ihre Münzen zu überlassen. Sie hätte kein Wort darüber verlieren sollen. Ändern konnte sie das jetzt aber nicht mehr. Genauso wenig konnte sie zu Rosa gehen, um sie um weitere Taler zu bitten. Die Alte würde sie niemals gehen lassen.

Hanna öffnete die Tür und schaute ins Freie. Inzwischen war es fast dunkel. Dennoch waren mehrere Männer zu sehen. Sie konnte das Lager nicht unbemerkt verlassen. Dafür war es noch zu früh.

Die Angst beherrschte Hannas Gedanken. Sie griff nach ihrem Messer und setzte sich auf ihr Lager. Dabei konnte sie nur hoffen, dass Rosa jetzt keinen Kunden zu ihr schickte. Vor allem durfte Gottlieb nicht kommen. Wie lange würde es dauern, bis er von Georg erfuhr, wo sie war? War er vielleicht schon auf dem Weg zu ihr?

Die Zeit schien stillzustehen. Hanna saß auf ihrem Lager und wartete darauf, dass es draußen ruhig wurde. Bei jedem Geräusch in der Nähe ihres Wagens zuckte sie zusammen und griff das Messer fester. Sie würde nicht zögern, es Gottlieb in den Leib zu stoßen, sollte er tatsächlich im Wagen auftauchen.

Stunden später wurde es endlich still. Hanna vermutete, dass es bis zur Morgendämmerung nur noch wenige Stunden dauerte. Bis dahin musste sie weit genug vom Lager entfernt sein, um nicht gefunden zu werden.

Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat ins Freie. Zwischen den Wagen war keine Menschenseele zu sehen. Dennoch atmete sie noch nicht auf. Sie war noch lange nicht in Sicherheit. Hanna lief geduckt auf das Ende des Lagers zu und hörte plötzlich eine Stimme hinter sich, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Jetzt habe ich dich endlich«, sagte Gottlieb voller Zorn und Verachtung. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich auf diesen Moment gewartet habe.«

Der Soldat war wie aus dem Nichts zwischen den Wagen aufgetaucht und hielt seinen Gürtel schlagbereit in der Hand.

»Du wirst mich nicht bekommen.« Hanna spuckte dem Soldaten vor die Füße, drehte sich um und rannte los. An seiner Haltung hatte sie erkannt, dass Gottlieb wieder betrunken war. Sie vertraute darauf, schneller laufen zu können als er und stürmte auf das Ende des Lagers zu.

Hanna hörte den Trunkenbold hinter sich fluchen, stellte aber erleichtert fest, dass sich der Abstand zu ihm vergrößerte. Sie wollte schon aufatmen, als sich ihr Fuß plötzlich in einer Wurzel verfing. Sie stürzte der Länge nach auf den Boden. Hanna schaffte es gerade noch, sich auf den Rücken zu drehen, da war Gottlieb bereits über ihr und ließ sich mit den Knien auf ihren Bauch fallen. Der Schmerz raubte ihr den Atem und ihr wurde für den Bruchteil einer Sekunde schwarz vor Augen.

»Hast du wirklich geglaubt, du könntest mir entkommen?«

Gottlieb hatte sich keuchend über Hanna gebeugt. Fauliger Atem schlug ihr entgegen, dem Söldner lief Speichel aus dem Mund, sammelte sich an seinem Kinn und tropfte auf Hannas Brust. Als Gottlieb ihre Hände packen wollte, bäumte sie sich auf. Mit aller Kraft griff sie ihr Messer fester und stieß es dem Soldaten in die Kehle.

Gottlieb Augen verdrehten sich, und er griff mit beiden Händen an seinen Hals. Zwischen seinen Fingern spritzte das Blut in Hannas Gesicht und auf ihren Oberkörper. Dann brach der Soldat über ihr zusammen. Im ersten Moment wagte sie es nicht, sich zu bewegen. Erst als sie merkte, dass kein Leben mehr in Gottliebs Körper war, kämpfte sie sich mühsam unter ihm hervor.

Hanna schaute im Mondlicht zurück zum Lager. Dort schien alles ruhig zu sein. Wenn die anderen Männer Gottlieb fanden, würde man die Mörderin jagen. Keiner würde ihr glauben, dass sie sich nur gewehrt hatte. Sie musste hier weg.

Weil sie nicht wusste, wo sie sich befand, lief sie einfach geradeaus weiter. Ein Ziel hatte sie nicht. Sie dachte daran, nach Salzgitter zu gehen, um Pater Justus zu suchen, wusste aber nicht, ob der überhaupt noch dort war. Auch wusste sie nicht, in welcher Richtung die Stadt lag. Sie wusste nichts und ging mit leeren Gedanken immer weiter in die Dunkelheit.

***

Mit der aufgehenden Sonne erreichte Hanna einen See. Der Durst trieb sie an das Ufer heran. Als sie sich bückte, um etwas zu trinken, sah sie ihr Spiegelbild im Wasser und erschrak. Ihr Gesicht war über und über mit Blut beschmiert. Ohne zu zögernd zog sie ihr Kleid aus und stieg in den See. Sie tauchte unter und schrubbte sich den Dreck vom Körper. So sehr sie sich aber bemühte, aus dem grünen Kleid bekam sie die dunklen Flecken nicht heraus.

Hanna ging zurück zur Wiese am Ufer, hängte ihr Kleid über den Ast einer Eiche und setzte sich auf den Boden. Es würde nicht lange dauern, bis die Sonnenstrahlen den Stoff getrocknet hatten. So lange wollte sie ausruhen.

Plötzlich hörte Hanna die Rufe von mehreren Männern aus der Ferne. Sie suchen nach mir. In ihrer Panik wusste sie keinen anderen Ausweg, als sich im See zu verstecken. Sie sprang auf, rannte zum Ufer, tauchte ins Wasser ein und schützte ihr Gesicht hinter dem hohen Schilf. So wartete sie ab und betete. Keine Sekunde zu früh, kamen die Wellen des Sees zur Ruhe. Es waren vier Soldaten, die mit ihren Pferden genau an der Stelle Halt machten, an der sie gerade noch gesessen hatte. Voller Schrecken erkannte sie Georg unter den Männern.

»Sie muss hier gewesen sein«, sagte Georg und deutete auf Hannas Kleid. »Das hat sie getragen, als ich gestern Abend bei ihr gewesen bin.«

»Wohin kann sie verschwunden sein?«, fragte einer seiner Kameraden.

»Ich bin mir sicher, dass sie noch ganz in der Nähe ist«, antwortete Georg. »Durchsucht das Gelände.«

Hanna bebte vor Angst. Sie machte sich hinter den Halmen so klein wie möglich und betete innerlich, dass keiner der Männer sie entdeckte. Einer von ihnen stand am Ufer und schaute auf den See. Das Schwert in seiner Hand ließ ihren Atem stocken. Die Soldaten würden sie nicht zurück ins Lager bringen. Sie würden sie an Ort und Stelle töten, nachdem sich alle an ihr vergangen hatten.

»Sie ist nicht mehr hier«, hörte Hanna Georgs Stimme von der Eiche aus. »Vielleicht ist sie in den Wald gelaufen.«

»Ohne ihr Kleid?«, fragte einer der Männer.

»Irgendetwas muss hier geschehen sein«, sagte ein Zweiter. »Vielleicht hat jemand die Hure verschleppt?«

»Wir werden uns das hinterhältige Miststück schnappen.« Jetzt war es wieder eindeutig Georg, der sprach.

Hanna hörte, wie sich die Reiter langsam von der Eiche entfernten. Sie selbst zitterte nicht nur vor Kälte. Dennoch traute sie sich nicht, den See zu verlassen. Georg und seine Kumpane konnten jeden Moment zurückkommen.

Sie wusste nicht, wie lange sie im Wasser gewartet hatte. Irgendwann hielt sie es vor Kälte einfach nicht mehr aus und stieg durchgefroren ans Ufer. Ihre Hoffnung, die Soldaten hätten das Kleid am Ast hängen lassen, erfüllte sich nicht. Nun besaß sie nichts mehr außer ihrer Schuhe, mit denen sie in den See geflüchtet war.

Hanna hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Sie wusste nur, dass sie nicht am See bleiben konnte und lief völlig unbekleidet los.

***

Hannas Körper war noch immer steif vor Kälte, als sie am nächsten Morgen aufwachte.

Die Sonne, die zwischen den Balken der alten Scheune hindurchschien, zeigte ihr, dass der Tag bereits angebrochen war. Es wurde Zeit, diesen Ort zu verlassen.

Nachdem die Soldaten ihr im wahrsten Sinne des Wortes das letzte Hemd genommen hatten, war Hanna so lange weitergelaufen, bis sie ein zerstörtes Gehöft erreicht hatte. Das Wohnhaus und die Stallungen waren heruntergebrannt, aber Teile der Scheune standen noch. Dort hatte sie sich in einem Haufen muffig riechenden Strohs verkrochen und war sofort eingeschlafen.

An diesem Morgen wurde die junge Frau von Kopfschmerzen geplagt. Dennoch verspürte sie Hunger und vor allem Durst. Sie musste weiterziehen. Hier würde sie nichts Brauchbares mehr finden.

Hanna wusste, dass sie noch lange nicht weit genug vom Heerlager entfernt war, um sicher zu sein. Sie zwang sich aufzustehen und ging ins Freie. Um sie herum war alles ruhig. Lediglich ein paar Vögel zwitscherten in den Bäumen des nahegelegenen Waldes. Die Sonnenstrahlen, die auf ihren nackten Körper fielen, waren eine Wohltat, schafften es aber nur langsam, die Kälte aus ihren Gliedern zu vertreiben.

In welche Richtung sie sich wenden sollte, wusste Hanna nicht und entschloss sich, weiter am Waldrand entlang zu gehen. So war sie gestern auch an diesen Ort gelangt. Sie hatte keine große Hoffnung, ein Gehöft zu finden, das noch bewohnt war. Sicher hatten die Soldaten bereits alles geraubt, was noch irgendwie brauchbar war. Die nicht abgeernteten Felder ließen vermuten, dass sich keine Bauern mehr in der Gegend aufhielten.

Hunger und Durst trieben Hanna voran. Auch musste sie unbedingt an Kleidung herankommen. Selbst ihre Schuhe, auf die sie noch vor wenigen Wochen so stolz gewesen war, wiesen bereits erste Löcher auf. Auch wenn sie jetzt die warmen Sonnenstrahlen genoss, in der Nacht würde sie sich den Tod holen.

Es war bereits Mittag, als Hanna endlich an einen Bach kam und ihren Durst stillen konnte. Sie gönnte sich eine kurze Pause und lief dann weiter. Auch am Nachmittag traf sie auf keine anderen Menschen. Am Abend sah sie dann aber plötzlich eine schmale Rauchsäule in der Ferne. Aus Angst, dass sie dort auf von Tillys Soldaten treffen könnte, wollte sie zunächst umkehren, entschloss sich dann aber zu erkunden, wer sich an der Feuerstelle befand.

Ihr erster Eindruck hatte Hanna getäuscht. Sie war noch deutlich weiter von dem Feuer entfernt, als es die Rauchsäule hatte erahnen lassen. Es dämmerte, als sie vor sich die ersten Stimmen hörte.

Hanna ging in die Hocke und kroch durch das hohe Gras weiter. Die Feuerstelle musste in einer Senke liegen. Noch konnte sie nicht erkennen, wer sich dort aufhielt, die Anzahl der verschiedenen Stimmen verriet ihr aber, dass es mindestens drei Personen sein mussten.

Vorsichtig näherte sie sich und konnte endlich einen Blick in die Senke werfen. Dort war zwischen zwei Wagen eine Feuerstelle errichtet. An der saßen vier Männer in ähnlicher Kleidung, wie sie Pater Justus getragen hatte. An einem Baum waren drei Ochsen angebunden, die von einem Knaben bewacht wurden.

Einer der Männer stand auf und kam in Hannas Richtung. Blitzschnell duckte sie sich und legte sich flach auf den Boden. War sie entdeckt worden? Hanna wagte es nicht zu atmen und beobachtete, wie der Mönch die Richtung wechselte, zu einem Baum ging und sich dort erleichterte.

Hanna schickte ein kurzes Dankgebet in den Himmel. Sie hatte beschlossen, sich den Männern nicht zu zeigen und abzuwarten, bis sie schliefen. Dann wollte sie sich ins Lager schleichen und nachsehen, ob sie etwas Essbares und Kleidung fand. Plötzlich spürte sie, wie sich etwas Spitzes in ihre Schulter bohrte.

»Dreh dich um«, befahl eine Knabenstimme. »Aber mach langsam.«

Hanna zitterte vor Kälte und Angst und drehte ganz langsam den Kopf. Vor ihr stand der Junge, den sie eben noch bei den Ochsen gesehen hatte.

»Wer bist du?«

Der Knabe schien von der nackten Frau vor sich genauso überrascht zu sein wie Hanna über sein plötzliches Auftauchen. »Ich heiße Hanna. Ich wurde von Soldaten überfallen. Sie haben mir alles genommen.«

»Ich bin Rudolf«, sagte der Knabe und sah die Frau vor sich neugierig und gleichzeitig ratlos an.

»Hast du etwas zu essen?«

»Nein. Aber die Brüder können dir etwas abgeben. Ich bringe dich hin.«

»Lieber nicht«, entgegnete Hanna unsicher.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Sie werden dir nichts tun.«

Nach kurzem Zögern entschloss sich Hanna, Rudolf zu den Mönchen zu begleiten. Sie brauchte Hilfe. Wem sollte sie trauen, wenn sie es nicht einmal wagte, zu den Geistlichen zu gehen?

Die Männer staunten nicht schlecht, als der Knabe plötzlich mit einer nackten Frau vor ihnen auftauchte. Einer von ihnen sprang auf und reichte ihr einen Mantel, noch bevor sie ein Wort gesprochen hatte.

»Woher kommst du, mein Kind?«

»Im Sommer war ich noch die Magd eines Bauern irgendwo in der Umgebung. Ich weiß nicht mehr genau, wo der Hof liegt. Die Soldaten kamen und haben mich verschleppt.«

Die Mönche sahen Hanna überrascht an und schienen zu überlegen, ob sie ihr trauen konnten. Schließlich stand einer von ihnen auf und ging einen Schritt auf sie zu. »Ich bin Bruder Patrick«, stellte er sich mit warmer, gütiger Stimme vor. »Setz dich zu uns. Rudolf holt dir eine Schale mit Suppe. Wenn du gegessen hast, wirst du uns alles ausführlich berichten.«

Hanna war erleichtert, dass die Mönche sie nicht wieder fortschickten. Sie leerte die Schale bis auf den letzten Tropfen, und als auch kein Krümel mehr von dem Brot übrig war, das man ihr dazu gereicht hatte, berichtete sie, was ihr in den letzten Wochen widerfahren war.

Die Mönche hörten der jungen Frau aufmerksam zu. Der Ausdruck in ihren Gesichtern wechselte von Neugierde über Mitgefühl zu blankem Entsetzen.

»Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll«, beendete Hanna ihren Bericht. »Ich besitze nichts und kenne auch niemanden, der mir helfen kann.«

»Zunächst wirst du bei uns bleiben«, sagte Bruder Patrick bestimmt. »Wir sind auf dem Weg in den Harz. Du kannst uns so lange begleiten, wie du möchtest.«

***

In den folgenden Tagen zog Hanna mit den vier Mönchen und Rudolf in Richtung Harz. Ihre anfängliche Scheu vor den Männern war schnell verschwunden. Keiner von ihnen kam ihr zu nahe. Im Gegenteil behandelten sie die Frau höflich und zuvorkommend. Hanna bekam von Bruder Patrick eine alte Kutte geschenkt und sah nun selbst aus wie einer der Brüder, wenn sie die Kapuze über den Kopf zog.

Obwohl es ihr bei den Mönchen gut ging, wusste Hanna, dass sie nicht ewig bei ihnen bleiben konnte. In ihren langen Gesprächen mit Patrick hatte sie erfahren, dass die Männer ein Kloster im Harz besuchen wollten. Später würden sie auf dem gleichen Weg zurückkehren. Damit würde Hanna wieder in die Nähe von von Tillys Soldaten kommen.

Patrick hatte Hanna vorgeschlagen, dass sie in einem Dorf bleiben sollte, um dort eine Anstellung als Magd oder Haushälterin zu übernehmen. Bisher allerdings waren alle Orte und Gehöfte, an denen sie vorbeigekommen waren, bereits von den Soldaten zerstört worden.

Einmal war die kleine Gruppe von einer berittenen Kompanie der Kaiserlichen aufgehalten worden. Hanna hatte sich in einem der Wagen verkrochen und war nicht von den Männern entdeckt worden. Der Vorfall zeigte aber, dass sie alles andere als sicher war.

Am zweiten Oktobertag erreichten sie schließlich ein Gehöft, das noch nicht zerstört worden war. Hanna wunderte sich, dass trotzdem nicht alle Felder bearbeitet worden waren. Aus dem Kamin kam Rauch. Es musste also noch jemand auf dem Hof leben.

»Wir werden fragen, ob wir die Nacht in der Scheune verbringen dürfen«, entschied Bruder Patrick und führte die Gruppe zum Gehöft. Sie hatten es fast erreicht, als ihnen eine Frau entgegenkam. Sie lächelte den Geistlichen freundlich zu und blieb vor ihnen stehen.

»Wohin des Weges, Pater?«

»Ich bin kein Pater«, antwortete Patrick. »Lediglich ein armer Mönch. Wir sind auf dem Weg in den Harz. Gewährt Ihr uns Unterkunft für eine Nacht?«

»Ihr könnt in der Scheune schlafen, wenn Euch das recht ist.«

»Das ist es. Habt Dank!«

Hanna brannten viele Fragen auf der Zunge. Sie traute sich aber nicht, sie der Fremden zu stellen. Es war ungewöhnlich, dass sie nicht vom Bauern begrüßt worden waren. Auch sah Hanna keine Knechte. Bei der Größe des Hofes mussten eigentlich mehrere Personen hier arbeiten.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung hatten die Mönche sich in der Scheune, die mehr als genug Platz bot, eingerichtet. Rudolf kümmerte sich wie immer um die Tiere. Die Bäuerin hatte sie zu einer Suppe eingeladen. Hannas Angebot, ihr zu helfen, hatte sie abgelehnt.

Endlich wurden die Mönche, Rudolf und Hanna in das Haus gerufen und in eine große Stube geführt. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, der groß genug war, dass sie alle Platz fanden. Außer der Bäuerin, die sich ihnen als Siegried Handsam vorstellte, waren nur noch deren beiden Töchter da. Berta war gerade sechzehn geworden, Gertrud war ein Jahr jünger.

Patrick sprach ein Gebet, und Siegried verteilte eine Gemüsesuppe und Brot. Während der Mahlzeit sprach keiner. Hanna beobachtete, wie die Mädchen den Mönchen neugierige Blicke zuwarfen. Sicher hatten die beiden genauso viele Fragen wie sie selbst.

Endlich beendete Patrick das Schweigen und wandte sich an Siegried. »Lebt Ihr hier alleine? Es gibt sicher mehr Arbeit auf diesem Hof, als drei Frauen bewältigen können.«

Die Bäuerin sah den Mönch für eine Sekunde zornig an. Hätte Hanna die Frau nicht genau beobachtet, wäre ihr dieser sehr kurze Stimmungswandel entgangen. Mit der gleichen freundlichen Stimme, mit der sie die Gruppe begrüßt hatte, beantwortete sie dann Patricks Frage.

»Mein Gemahl ist vor einem Jahr gestorben. Mein Sohn ist mit unseren drei Knechten in den Krieg gezogen. Wir haben genug zum Leben, können aber nicht mehr alle Felder bestellen. Da habt Ihr wohl Recht.«

»Es tut mir leid, das zu hören.« Patrick wechselte nun das Thema und berichtete den drei Frauen von ihren Reisen. Gerade Berta und Gertrud hörten dem Mönch angespannt zu und lachten auf, wenn er etwas Lustiges erzählte. Auch Siegried schmunzelte hin und wieder, schien aber nicht ganz bei der Sache zu sein.

Etwa eine Stunde später verabschiedeten sich Hanna und die Mönche und gingen zur Scheune. Hanna lag die ganze Nacht wach. Noch bevor die Sonne aufging, fasste sie einen Entschluss und ging zur Bäuerin, die gerade auf den Hof trat.

»Kann ich Euch kurz sprechen?«

»Was willst du?«, gab Siegried weit weniger freundlich zurück, als sie es tags zuvor gewesen war.

»Ich gehöre nicht zu Patrick und den anderen Mönchen.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Weil ich Euch darum bitten wollte, hierbleiben zu dürfen.«

»Aus welchem Grund?« Siegried schaute Hanna skeptisch an. Die spürte die Ablehnung, die von der Bäuerin ausging.

»Ich habe mein ganzes Leben als Magd auf einem Hof gelebt. Etwas anderes habe ich nie gelernt. Als die Soldaten kamen, haben sie alles zerstört und mich verschleppt. Außer den Mönchen kenne ich niemanden und ich kann nicht bei ihnen bleiben.«

»Du bist also keine Lagerdirne, die ihrem Herrn weggelaufen ist?«

»Gott bewahre«, log Hanna. Im Grunde hatte Siegried mit dieser Vermutung genau ins Schwarze getroffen. Dennoch hatte auch sie die Wahrheit gesagt, als sie von ihrer Vergangenheit berichtet hatte. Nur eben nicht die vollständige.

Siegried dachte einen Moment nach. Dann wurde ihre Stimme wieder freundlicher. »Ich kann dir nicht mehr bieten als essen und einen Platz zum Schlafen.«

»Mehr hatte ich in meinem ganzen Leben nicht.«

»Dann bist du uns herzlich willkommen.«

Hanna bedankte sich und lief freudig zu Bruder Patrick, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Der Abschied von den Mönchen fiel ihr unerwartet schwer. Dennoch war sie tief in sich davon überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Die Magdeburger Bluthochzeit. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges. Band 4

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