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1.4 Literaturdidaktische Problemfelder

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Die folgenden Ausführungen setzen sich mit wichtigen Aspekten der Unterrichtsparadigmen auseinander, die den fortgeschrittenen gymnasialen Literaturunterricht prägen. Ziel ist es, den didaktischen Stellenwert des Interpretierens im Umgang mit literarischen Texten neu zu bestimmen und (wieder) aufzuwerten. Dazu müssen im Vorfeld einige Begriffe näher untersucht werden, die für den allgemeinen Fremdsprachenunterricht in sprachdidaktischer Hinsicht zwar hilfreich und notwendig sind, aber insgesamt geradezu den Status von Universalien erlangt haben. Dabei geht es um die Frage, ob das Kriterium von „Authentizität“ auch literaturdidaktisch seine uneingeschränkte Berechtigung hat, und andererseits um das schwierige Verhältnis zwischen literarischem Text und (lernenden) Rezipient:innen – hier geraten kognitive Prozesse wie die immersive Rezeption im unmittelbaren Leseakt ebenso in den Blick wie die (anschließende) Reflexion über das Gelesene. Ein besonderes Augenmerk wird in diesem Zusammenhang auf den Fiktionsstatus literarischer Texte sowie das Phänomen der „Stimmung“ darin gerichtet, die als „atmosphere“ in mehreren der hier untersuchten Lehrwerke thematisiert wird, und die sich als eine zwar ergiebige, aber auch problematische Analysekategorie insbesondere im didaktischen Unterrichtskontext erweist.

Aufgabenideal „Authentizität“? In der Analyse der verschiedenen Lehrwerke in Kapitel 2 wird sich zeigen, dass in einer Vielzahl von Beispielen die kommunikativen Kompetenzen in einem möglichst „authentischen“ bzw. lebensnahen Unterrichts-setting den Vorzug gegenüber einer allzu lebensfernen bzw. theoretisierenden Umgangsweise mit den literarischen Inhalten erhalten. Die – zumeist erzählenden – Texte werden dabei zum Kommunikationsanlass, ohne hinreichend als ästhetische Kompositionen mit eigenen Merkmalen von Authentizität wahrgenommen zu werden. Dahinter steht der Anspruch, den Schüler:innen ein möglichst hohes Maß an „Authentizität“ während ihres Fremdsprachenunterrichts zukommen zu lassen. Dieser Begriff wird als maßgebliches Kriterium fürs Aufgabendesign verwendet und ist in der Fremdsprachendidaktik von einer schillernden Bedeutungsvielfalt auf linguistischer, lerntheoretischer, und thematisch-kultureller Ebene geprägt.1 Erstere umfasst die sprachliche Komplexität der Materialien und impliziert, dass diese – anders als z.B. graded readers, d.h. in Vokabular und Grammatik vereinfachte und z.T. neu erzählte Materialien, die insbesondere in der Sekundarstufe I zum Einsatz kommen – nur begrenzt didaktisiert sind, z.B. durch einzelne Worterklärungen. Wo sogar hierauf verzichtet wird, bedeutet das: Die Schüler:innen werden idealiter einem komplexen Spracherlebnis ausgesetzt, wie sie es in einer realen englischsprachigen Umgebung erfahren könnten, selbst wenn es möglicherweise ihre eigenen sprachlichen Kompetenzen überstiege.

Damit einher geht auf der Ebene der Lerntheorie die „kommunikative Bedeutsamkeit“ (Bonnet/Decke-Cornill 2016: 158) einer Aufgabe, die z.B. nicht im Vokabel-Drill den aktiven Wortschatz der Lernenden kontext- und damit weitgehend sinnfrei erweitert, sondern auf kontextualisierten, simulativen Alltags-Situationen den Lerneffekt der Schüler:innen positiv beeinflussen soll. Bezogen auf literarische Texte ist der Einstieg in eine Gedichtanalyse über die Bestimmung des Metrums inauthentisch, während ein Rezeptionsgespräch, das den Schüler:innen Raum für eigene, auch affektive Stellungnahmen zum Gedicht gibt, einen sehr viel höheren Grad an Authentizität birgt.

Damit erhält der Begriff „Authentizität“ schließlich eine thematisch-kulturelle Bedeutung, die durch die Anschlussmöglichkeit eines Unterrichtsgegenstandes an das Weltwissen und die Lebenswelt der Lernenden gekennzeichnet ist. Die KMK-Bildungstandards benennen hier vier unterschiedliche, sehr allgemein formulierte Themenkreise, „die fachlich, motivatorisch und gesellschaftlich relevant sind“ (KMK 2012: 12):

 Themen der Lebens- und Erfahrungswelt Heranwachsender

 Themen des öffentlichen Lebens der Bezugskulturen

 Themen des Alltags und der Berufswelt

 Themen globaler Bedeutung.

(ebd.)

Explizit erwähnt werden an dieser Stelle „Werke der Literatur, Filme, thematisch relevante Werke der darstellenden Kunst“, da sie „spezifische Zugänge zu unterschiedlichen individuellen, universellen und kulturspezifischen Sichtweisen“ ermöglichen (KMK 2012: 12). In diesem Sinne lässt sich „Authentizität“ auch als eine differenzbestimmte Kategorie erfassen, die in interkulturellen (kommunikativen) Situationen zu bestimmen ist: Die Unterschiede zwischen einem deutschen Lebenslauf und einem britischen CV oder einem amerikanischen resumé sind hier ebenso von Bedeutung wie z.B. die Diskursivierung ähnlicher bzw. unterschiedlicher Feiertage im deutschen und anglophonen Sprachraum (vgl. hierzu auch allgemein Königs 2019: 98-100); wieder auf die Literatur angewendet lassen sich insbesondere race, class und gender in einer ethnisch und sozial heterogenen Lerngruppe „authentisch“ diskutieren, weil hier in einem geschützten Raum biographische Erfahrungen der Schüler:innen im fremdsprachlichen Kommunikationsakt ausgetauscht werden.

Problematisch wird der Anspruch auf Authentizität im Literaturunterricht aber dadurch, dass den Schüler:innen allenfalls Bruchstücke aus längeren Texten angeboten werden. Tatsächlich verlieren literarische Textpassagen ihre Authentizität, indem sie nur mehr kontextfrei und isoliert dargeboten werden, und wenn sie überwiegend bzw. ausschließlich auf die Ebene der lebensweltlichen Erfahrungswelt der Schüler:innen projiziert werden, ohne dass zuvor oder im Anschluss der Versuch gemacht wird, das spezifisch Literarische, das Fingierte mit seinen (auch historisch signifikanten) Konstruktionselementen und Wirkmechanismen zum Ausdruck zu bringen – dies geschieht über das kategorisierende Erkennen und deutende Verstehen von Fiktionssignalen (vgl. Haferland 2014). „Authentizität“ und Walter Benjamins Konzept von einer unverwechselbaren „Aura“ des (literarischen) Kunstwerks rücken hierbei in enge Nachbarschaft. Die Tendenz aber, dem literarischen Text und seiner Auslegung eine eigene Berechtigung auf seiner ästhetischer Ebene zu ignorieren, führt in Konsequenz auch zur Abwertung des Umgangs mit Literatur insgesamt und des Interpretionsvorgangs (s.u., Abschnitt „Interpretation“) und lässt dabei die affektiven, sprachlichen und kognitiven Potenziale vermissen, die es im Literaturunterricht zu fördern gilt: ästhetisches Erleben, sprachlich-kommunikative Kompetenzsteigerung, Erweiterung des Weltwissens, Befähigung zu Perspektivenwechsel (Empathie) als Förderung der interkulturellen Kompetenz, kritisch-ästhetisches Bewusstsein und Urteilsfähigkeit, u.a.m.

Rezeptionsfokus: Immersion +/- Immanenz? Mit einem verabsolutierten didaktischen Anspruch, den literarischen Lernstoff im Fremdsprachen-Klassenzimmer mit der unmittelbaren Lebens- und Alltagswelt der Lernenden passfähig zu machen, schwindet auch die Möglichkeit zur ontologischen Differenzierung der verschiedenen Existenzebenen, so dass das Risiko besteht, einfache inhaltliche Aussagen eines fiktionalen Textes misszuverstehen. Für realistische Texte wie solche, die scheinbar im Hier und Heute bzw. einer nahen Zukunft oder unmittelbaren Vergangenheit spielen und vertraute Gesellschaften z.B. im scheinbar bekannten englischsprachigen Ausland repräsentieren, besteht dabei das Risiko einer vorschnellen Überblendung von gesellschaftlicher Faktizität mit der jeweils repräsentierten fiktiven Welt und dem Verschwimmen historischer Grenzen. Im ‚traditionellen‘ Literaturunterricht, der eher die in der fiktionalen Ontologie entworfenen Seinsbereiche aus dem Text heraus zu erschließen sucht, wird zunächst weniger Gewicht auf eine authentisch-lebensweltlich orientierte Fragestellung gelegt als auf eine inhaltlich-formale Reflexion des inneren Kommunikationssystems Text. Eine solche Differenzierung aber erleichtert den Schüler:innen die ontologische Unterscheidung fiktionaler Welten der Literatur von der kontingenten außertextlichen / ‘realen‘) Welt: Die kategoriale Trennung ist insbesondere an Texten aus dem Bereich der literarischen Fantastik (inkl. der Science Fiction) zu veranschaulichen; gleiches gilt für viele Shakespeare-Dramen – gleichwohl bieten auch solche Texte den Leser:innen ein hohes Potenzial an Identifikationsangeboten mit Figuren, deren sprachlich, erzählerisch vermittelte Handlungs- und Gefühlsdarstellungen den Erkenntnissen der Hirnforschung zufolge im Rezeptionsakt einer fiktionalen, sprachlichen Handlung die gleichen Großhirnareale neuronal aktivieren wie dies in einer realen Situation geschieht (vgl. Wege 2017: 352):2

Leser können beispielsweise Mitleid mit Ophelia haben, die dem Wahnsinn verfällt und ertrinkt, obwohl sie wissen, dass sie es mit einer fiktiven Figur zu tun haben und folglich in Wirklichkeit niemand wahnsinnig wird und stirbt. Das ist erklärungsbedürftig, insofern in anderen Kontexten die Annahme von der Existenz der Person eine Voraussetzung dafür ist, dass wir vernünftigerweise eine entsprechende Emotion entwickeln. (Köppe/Winko 2008: 305)

Ein solcher Zustand momentaner Immersion, des zeitlich limitierten Eintauchens in die fiktive Welt des Textes, ist mit der privaten, individuellen Lektüresituation verbunden und geht mit Perspektivwechseln und Empathie – die Fähigkeit des Gehirns, Zustände zu simulieren (vgl. Lehnert 2011: 19) – aufseiten des/der Rezipient:in einher. Immersion unterliegt, mit Laura Bieger zu sprechen, „eine[r] Ästhetik des emphatischen körperlichen Erlebens“, statt einer „Ästhetik der kühlen Interpretation“. Sie fügt hinzu: Immersion „ist eine Ästhetik des Raumes, da sich das Eintaucherlebnis in einer Verwischung der Grenze zwischen Bildraum und Realraum vollzieht.“ (Bieger 2011: 75) Dies lässt sich auch auf den semantischen Raum eines Textes übertragen. Im Gegensatz zu der vorher beschriebenen interpretativen Überblendung von fiktionaler Repräsentation und der empirischen Welt ist dies ein durchaus wünschenswerter affektiver Zustand, der jedoch – in didaktischem Kontext – anschließend zu versprachlichen, begründen und am Text belegen ist, um von einem privaten, emotionalen Erlebnis zu einem sozialen, interaktiven Diskurs über die sprachlich-ästhetische Komposition des Textes zu führen.

Für die kognitiv ausgerichtete Literaturtheorie mag jede ‚Deutung‘ von hohem fachlichen Erkenntniswert sein (selbst „a misinterpretation of a character’s state of mind is still very much an interpretation“, Zunshine 2006: 25). Im literaturdidaktischen Kontext erscheint es jedoch statthaft und ratsam, hier Vorsicht walten zu lassen.3 Stattdessen empfiehlt sich ein ausgewogener Zugang: „a balance between educational objectives, the individual ‚realization‘ of a text, and the negotiation of meaning among learners even if it is very difficult to maneuver between pursuing a certain goal and promoting an open process“ (Grimm/Meyer/Volkmann 2015: 187, Herv.i.Orig.). Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, Kriterien bereitzustellen, die den Übergang vom subjektiven Rezeptionsgespräch zum intersubjektiven Interpretationsgespräch zu gestalten: Dies kann zunächst über die Betrachtung externer und interner Fiktionssignale erfolgen, die bestimmte Deutungen zulassen und andere ausschließen, und die ihrerseits auch in der kognitiven Literaturwissenschaft aus Sicht der Leser:innen selbstverständlich thematisiert werden. Zu den text-externen Fiktionssignalen gehören paratextuelle Informationen über die Form und Genrezugehörigkeit oder Einleitungen und Rezensionen (die Rede ist hier vom „Beiwerk des Buches“, vgl. Genette 1989); text-interne Signale schließen wie die Prävalenz der uneigentlichen Sprache mit ihren Stilmitteln (z.B. Ironie, Hyperbolik, Bildlichkeit, etc.) und Erzählperspektiven und Figurendarstellungen, Handlungs-Chronologie bzw. deren Repräsentation (z.B. Rückblenden, Vorausdeutungen, Zeitsprünge) mit ein. All diese textlichen Signale sind modellhaft – über ihre (fremd-)sprachliche Dimension hinaus – als bottom up-Sinnkonstitution seitens der Leser:innen zu beschreiben. Sie sind stets im Zusammenspiel mit den top down-Bedeutungsstrategien zu sehen, die sich aus ihrer persönlichen Lebens- und Lese-Erfahrung sowie ihren Werten und Vorstellungen speisen (vgl. Zerweck 2002 und, literaturdidaktisch erweitert, Grimm/Meyer/Volkmann 2015: 186, Fig. 8.3).

Literary atmosphere: Eine sinnvolle literaturdidaktische Kategorie? In der Analyse der hier besprechenden Lehrwerke fällt auf, dass diese in ihren Aufgabenstellungen zur Erschließung literarischer Texte ein besonderes Gewicht auf das Phänomen „Stimmung (engl. mood, attunement, atmosphere)“ (Wellbery 2003: 703; Herv. JM) legen (vgl. Abschnitte 2.2 und 2.3). Dabei sei zunächst erläutert, dass es sich im Wesentlichen um ein allgemein ästhetisches Raum-Konzept handelt, das in der Phänomenologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige begriffliche Blüte erfahren hat, die auch in jüngeren Arbeiten weiter tradiert, kritisiert und modifiziert werden.4 Diese fanden Niederschlag in den zahlreichen literatur- und kulturtheoretischen Arbeiten (vgl. dazu den Überblicksartikel von Sasse 2010: 303-304).

Als Spezialfall des sogenannten spatial turn in den Literatur- und Kulturwissenschaften ist dem Konzept „Stimmung“ hingegen nur marginal Aufmerksamkeit zuteil geworden (die anglistische Arbeit von Hoffmann 1978 mag noch als Vorreiter gelten, vgl. aber die germanistische Herausgeberschaft von Gisbertz 2011, die Essaysammlung des Komparatisten Gumbrecht 2011 sowie die interdisziplinären Beiträge in Lehnert 2011 und Arburg/Rickenbacher 2012).5 Einschlägige Wörterbücher wie das Glossary of Literary Terms tun sich schwer mit dem Begriff und widmen ihm zwar einen Eintrag, deuten damit aber lediglich seine prekäre Stellung zwischen sujet, Text und Rezipient:in an, ohne damit das komplexe Phänomen hinreichend zu erklären: „‘Atmosphere’ is the emotional tone pervading a section or the whole of a literary work, which fosters in the reader expectations as to the course of the events, whether happy or (more commonly) terrifying or disastrous.“ (Abrams/Halpham 2015: 20) „atmosphere“ wird hier zu einer formalen, generischen Texteigenschaft, da sowohl das Drama als z.B. auch die Gothic Novel sich aus jeweils spezifischen – und demzufolge anscheinend objektivierbaren – ‚Stimmungen‘ speisen (vgl. Abrams/Halpham 2015: 96, s.v. „drama“, und 152 s.v. „Gothic Novel“).6 Ein:e Rezipient:in nutze demzufolge die textlich generierte atmosphere lediglich, um dramaturgische Voraussagen über einen Plot und dessen Ausgang zu machen: von immersiven, empathischen Reaktionen auf Figuren oder Ereignisse ist hier keine Rede. Das Dictionary of Literary Terms and Literary Theory stellt immerhin eine ungreifbare – damit auch die unbegriffliche, nicht-diskursive? – Wahrnehmung des Kunstwerks durch die Rezipient:innen stärker in den Vordergrund („the intangible quality which appeals to extra-sensory as well as sensory perception, evoked by a work of art“, Cuddon 2013: 57) und unterscheidet davon Henry James’ Begriff einer Rekonstruktion der Autor-Intention durch die Rezipient:innen: Diese „atmosphere of the mind“ spiegele „what the subjective writer of the novel tries to convey to the reader. After a time we in a sense ‘inhabit’ the writer’s mind, breathe that air and are permeated by his vision.“ (Cuddon 2013: 57) Ein Konsens darüber, inwieweit nun schöpferischer Prozess, das Kunstwerk als Produkt und Objekt, oder dessen subjektive Wahrnehmung im Rezeptionsmoment von „Stimmung“ gezeichnet sind, wird mit diesen Definitionsversuchen nicht erreicht – in dem Begriff konvergieren zu viele „Phänomenbereiche, in denen sich herkömmliche Kategorien überschneiden und sich wechselnde Sinnzuschreibungen ergeben. Stimmungen entziehen sich eindeutigen Kategorisierungen.“ (Gisbertz 2011: 8)

Eingedenk dieser Faktoren sei hier an Gerhart Hoffmanns Arbeit erinnert, die den Untersuchungsakzent von der Peripherie des Kommunikationssystems „Text“ (mit dem Einschluss der Rezeptionsebene) auf die innere Repräsentationsebene mit ihren Gestaltungselementen verschiebt und damit, im Einklang mit Böhme (vgl. 1995: 34-39), auf die Ebene der Produktionsästhetik vordringt. Hoffmann, an Ludwigs Binswanger anschließend, sieht im Begriff des atmosphärisch „gestimmten Raumes“ einen für die Rezipient:innen wichtigen „Sinnträger eines epischen Kunstwerks“ (Hoffmann 1978: 51):

Im gestimmten Raum sind die Dinge Ausdrucksträger, die eine geschlossene Ausdruckseinheit bilden. Auch Form, Farbe, Größe und andere ‚objektive‘ Eigenschaften haben im gestimmten Raum allein expressiven Charakter: Sie lassen die Dinge traurig oder heiter, sanft oder streng erscheinen, rufen das Erlebnis des Gewaltigen und Erhabenen oder des Zarten und Anmutigen hervor. In ihrer Gesamtheit und in ihrer einmaligen, nicht beliebig auswechselbaren Komposition bilden sie die Atmosphäre des Raums. (Hoffmann 1978: 51)7

Er ruft im folgenden weitere ‚objektive‘ Eigenschaften wie musikalische Geräusch und Licht, aber auch andere Lebewesen als Konstituenten von „gestimmten“ räumlichen Darstellungen auf, die in der Perspektivierung des Erzählten durch ein Medium (Erzähler, Reflektor oder Figur, um Franz K. Stanzels klassische Terminologie zu verwenden) ihre jeweilige Färbung erhalten. Auf dieser „Ebene der sprachlichen Manifestation ist schließlich die Frage des Stils, also etwa der möglichst exakten objektiven Beschreibung der Dingwelt oder der Umsetzung des Eindrucks eines Subjekts in metaphorischen Ausdruck von Bedeutung, weil sich hier die aktive, rational-gedankliche bzw. die passive, emotional-unbewusste Verarbeitung der optischen Daten […] äußern.“ (Hoffmann 1978: 56)

Insgesamt erweist sich der in den hier betrachteten Lehrwerke so prominente Akzent einer schülerzentrierten Herausarbeitung von literary atmosphere sowohl aus literaturwissenschaftlicher als auch aus literaturdidaktischer Perspektivierung als riskant – weil dieser theoretisch heftig umstrittene Analysefokus ausgerechnet den Unterrichtsmodulen zu „Science / Technology / Utopia / Dystopia“ und „Shakespeare“, die für eine textnahe Herangehensweise an literarische Kunstwerke prädestiniert wären, vorbehalten bleibt und folglich Lehrende wie Lernende potenziell in prekäre Diskussionssituationen hineinmanövriert. Wie ließe sich damit überhaupt ein Lerneffekt erzielen, der es den Lernenden ermöglichte, die jeweils aktuelle Lektüre auf das Verständnis anderer Texte zu übertragen?

Primat der Rezipient:innen? Es ist in diesem Zusammenhang auch auf eine provokative Frage einzugehen, die seinerzeit ein Vertreter der einflussreicheren Rezeptionstheorien, Stanley Fish, gestellt hat: „Is there a Text in this Class?“. Seine Antwort lautete, dass die Leser:innen im Lektüreakt natürlich zunächst individuelle und subjektive Text-Bedeutungen erzeugten, die dann aber im Rahmen einer „interpretive community“ – sei es das Klassenzimmer, sei es der Seminarraum – intersubjektiv verhandelt werden (vgl. Fish 1980). Auf die Literaturdidaktik für die Sekundarstufe I angewendet bedeutet dies:

Die verstehende Auseinandersetzung beginnt bei der Interaktion zwischen Leser und Text, die sich aber zu einer Interaktion zwischen Leser und Leser im Unterricht wandelt, bei der Reaktionen auf das Gelesene, Inferenzen und Hypothesen kommunikativ ausgetauscht und verhandelt werden. Aus dieser kommunikativen Verhandlung in der Interpretationsgemeinschaft entsteht der Textsinn. (Steininger 2014: 419)

Ein solches Verfahren der gemeinschaftlichen Sinnkonstitution wird jedoch am ehesten in Kenntnis des gesamten Textes zu angemessenen Ergebnissen führen, was für die meisten im Unterricht der Sekundarstufe I behandelten literarischen Formen wie Gedicht und Kurzgeschichte gilt.8 Mit der Lektüre von isolierten Passagen aus umfangreicheren Werken im Unterricht der Sekundarstufe II, wie sie in den Lehrwerken angeboten werden, müssten hingegen nach einer solchen gemeinschaftlichen Sinnkonstitution bestimmte Lesarten eines Textes im Zweifelsfall modifiziert, vielleicht sogar ‚korrigiert‘ werden – mit Hinweis auf den Situationscharakter der jeweils behandelten Passage, oder durch Lektüre von weiteren Textausschnitten, die eine differenzierte Sicht auf komplexere Anlage des Werkes zulassen. Denn, und hierin liegt eine weitere Gemeinsamkeit der hier betrachteten Lehrwerksgeneration, die Schüler:innen werden aktuell nur mehr mit ein- bis zweiseitigen snippets aus umfangreicheren Erzähl- und Dramentexten konfrontiert und sollen,9 ohne hinreichende (Er-)Kenntnisse über das literarische Werk als Ganzes, einen Satz Aufgaben von der bloßen Zusammenfassung über die Erfassung der Atmosphäre und der Figuren-Charakterisierung bis zu kreativen Transformationen des Gelesenen bearbeiten.

Nicht selten stellt sich bei einer solchen Sicht auf einen umfangreicheren Text angesichts der learning outcomes die Frage: „What happened to the text in this learning environment?“ Einem weiteren wichtigen Rezeptionsforscher, Wolfgang Iser, zufolge setzt die Vorstellungskraft angesichts einer hohen Zahl von „Leerstellen“ nicht nur einen imaginativen Ergänzungsvorgang ersten Grades frei (im Sinne der „good continuation“, die Iser aus der Wahrnehmungspsychologie entlehnt; vgl. Iser 1976: 287): Vielmehr verursache die Vorstellungskraft angesichts der „Leerstelle“ im Text eine „verstärkte Kompositionsaktivität des Lesers, der nun die kontrafaktisch, oppositiv, kontrastiv, teleskopierend oder segmentierend angelegten Schemata – oftmals gegen eine entstehende Erwartung – kombinieren muß“ (Iser 1976: 288), um fehlerhafte Voraussagen (und also Füllungen früherer Leerstellen) zu korrigieren. Derartige kompositorische „Leerstellen“ haben sich im Lehrwerk angesichts der (notwendigen) Fragmentierung von literarischen Texten nunmehr zu inhaltlichen Lücken gewandelt, die in Unkenntnis des Textganzen von den Lernenden aufgefüllt werden sollen. Sie können zwar von den Schüler:innen auf der Ebene der „Vorstellungen ersten Grades“ gefüllt, aber nicht auf der komplexeren Ebene zu „Vorstellungen zweiten Grades“ erweitert werden (Iser 1976: 290). Damit nicht genug: Durch die per Lehrwerk fragmentarisch vermittelte Textkenntnis wird den Schüler:innen die Erfahrung der Selbstkorrektur im fortschreitenden Lesen genommen; stattdessen stützen sie ihre Aussagen und Meinungen nur auf jene minimalen, selten hinreichend kontextualisierten Textpassagen.

Schon die Herausgeber:innen des Bandes Texte zur Theorie der Autorschaft mahnen in ihrer Einführung: „Wird die Verfügungsgewalt des Lesers im Umgang mit literarischen Texten zu weit getrieben, schlägt sie in fruchtlose Beliebigkeit um.“ (Jannidis et al. 2000: 24). Auch Bredella, ohne kreative Aufgabenformate rundweg abzulehnen, wendet sich aus literaturdidaktischer Sicht gegen Forderungen, interpretative Textzugänge ganz abzuschaffen und durch handlungsorientierte zu ersetzen (vgl. Bredella 2007: 65-66). Dementsprechend setzt Ann Klimes-Link sich am Ende ihrer empirischen Untersuchung zur Erarbeitung literarischer Texte für eine Kombination von „analytische[n] und handlungsorientierte[n] Verfahren“ ein, da sie „geeignet sind für ein ‚ins-Gespräch-kommen‘ mit dem Text“ (Kimes-Link 2013: 361; vgl. dazu aus methodischem Blickwinkel Surkamp/Nünning 2010). Sie hebt hervor:

Textanalytische Verfahren zur Identifizierung von Stil- und Strukturmerkmalen sind zwar sinnvoll, wenn sie das Verhältnis von Form, Bedeutung und Wirkung auf den Rezipienten beleuchten und ein vertieftes Textverständnis vorantreiben, nicht aber, wenn sie zum Selbstzweck werden und sich vom jeweiligen Text entfernen. (Kimes-Link 2013: 362)

Die Verfasserin führt allerdings nicht aus, was sie mit dem polemischen Schlagwort „Selbstzweck“ meint – eine vom Textsinn entkoppelte Metrikanalyse würde diesem sicherlich eher entsprechen als das Bemühen, unterschiedliche mögliche Bedeutungen eines Textes herauszuarbeiten.

Die Ausführungen in Kapitel 2 zu den literarischen Texten, die in den Lehrwerken zur Erarbeitung angeboten werden, lassen zudem deutlich werden, dass es häufig gerade die handlungsorientierten Aufgaben sind, die zu einem „Selbstzweck“ werden und dazu tendieren, „sich vom jeweiligen Text zu entfernen“ oder diesen unkenntlich werden zu lassen. Dies ist schon deshalb naheliegend, weil solche Aufgabentypen dazu dienen, „Lernende dazu an[zuregen], das Gelesene auf ihre Lebenswelt zu beziehen und mögliche Konsequenzen zu reflektieren, sodass handlungs- und produktionsorientierte Verfahren nicht nur grundlegende Aspekte literarischer Kompetenz, sondern auch Selbst- und Fremdverstehen zu fördern vermögen“ (Kimes-Link 2013: 363). Legitim wird dieser Übertrag auf die Lebenswelt mit seiner unvermeidlichen Entfernung vom Text eigentlich jedoch erst dann, wenn auch – entweder zuvor oder danach – das innere Zeichen- und Kommunikationssystem des Textes selbst im Zuge einer ausführlichen Lektüre in den Vordergrund der Betrachtung rückt.

Who’s afraid of … Interpretation? Wie schon in Abschn. 1.3 dargelegt wurde, findet sich im überarbeiteten CEFR 2018 noch immer eine prekäre Haltung gegenüber der kognitiven Aktivität des Interpretierens, die auch im schulischen Kontext lediglich innerhalb des AFB II „Analysis“ ihren Platz zugewiesen bekommen hat.10 Höhere Wertschätzung erhalten subjektiverende Verfahren der Textaneignung wie Bearbeitungen (z.B. Umschreiben eines Textfragments aus einer anderen Figurenperspektive; Vervollständigen eines offenen Handlungsendes), generische Transformationen (z.B. einer Romanpassage in ein Drehbuch oder in einen Tagebucheintrag) oder expressive Kommentare, die alle AFB III zugeordnet sind. Derlei kreative Aktivitäten sollen sich zudem aus Gründen der Kreativitätsförderung vom literarischen Text maximal entfernen dürfen, wobei Defizite im Hinblick auf die Förderung diskursiver und kritischer Kompetenzen im reflektierten Umgang mit ästhetischen Texten hingenommen werden.

Ein literarischer Text(-ausschnitt) wird unter den gegenwärtigen Gegebenheiten, die die Lehrwerke in Abstimmung auf die Kerncurricula schaffen, häufig zum primär kommunikativen Impulsgeber, auf den die Lernenden Bezug nehmen können, als wären sie selbst Teil der fiktiven Handlung, bzw. als wären die literarischen Figuren Teil ihrer eigenen Lebenswelt (s.o., „Authentizität“). Aus dieser Vermischung bzw. Analogisierung unterschiedlicher Ontologien entstehen (nicht zuletzt auf die subjektive „Stimmung“, s.o., bezogen) problematische Arbeitsaufträge. Beispielhaft genannt sei hier die Anregung zum Formulieren einer „suicide note“ aus der imaginären Feder Juliets vor ihrem – zunächst bekanntermaßen nur vorgetäuschten – Freitod, wie es in einem muttersprachlichen Materialband zu Shakespeares Romeo and Juliet gefordert wird (vgl. McNeilly 2009: 65). Eine Aufgabe wie diese setzt zum einen ein hohes Maß an schülerseitigem Einfühlungsvermögen in die Gefühlswelt einer imaginären Figur in einer existenziellen Extremsituation voraus, das jedoch nicht diskursiv als (inhaltlich und / oder historisch zu kontextualisierende) Interpretation des Dramentextes zum Ausdruck gebracht wird. Zudem evoziert die Aufgabe eine anachronistische, pseudo-authentische Überlagerung von Figur und realer Person.11

Die Problematik der Aufgabe, die Schüler:innen einen Abschiedsbrief Juliets verfassen zu lassen, besteht maßgeblich darin, dass für die zugrundeliegende Figurenanalyse, die für ein solches learning outcome notwendig ist, kein diskursiver Raum bleibt und somit auch die historisch-rekonstruktive, kritische Auseinandersetzung mit dem Stück oder der Figur in den Hintergrund tritt. Zweifellos aber sind einflussreiche literarische Interpretationen, die sich einem Text unter Einschluss seiner zeitgebundenen Episteme und mit einer Kontrastierung zu aktuellen Einstellungen annähern, in Argumentation und Fazit ebenso ‚originell‘ wie solche Verfahren der Textproduktion, bei denen die Lernenden sich vom überlieferten Text entfernen und diesen als Vorlage für eine eigene imaginative Bearbeitung verwenden.

Resümierend bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass die Vermittlung von Literatur über die Lehrwerke allein nicht ausreicht, um das Sinn-Potenzial von Texten unter Verabsolutierung der Schülersicht hinreichend zu erarbeiten. Die für die Lehrwerke ausgewählten Passagen ermöglichen jedoch einen ersten Schritt in Richtung einer fortgeschrittenen Ganztextlektüre, zumal sie mit den Querverweisen auf die Kompetenzseiten wichtige Hilfestellungen geben. Die fragmentierten und isolierten Textauszüge, die in den Lehrwerken als Arbeitsgrundlage angeboten werden, können kaum valide Einsichten über breiter angelegte Plotmuster, subtile und konplexe Charakterentwicklungen oder kategorisierende Genre-Typologien vermitteln; stattdessen besteht anhand dieser Textbeispiele die Gelegenheit, die Verfahren der literarischen Textanalyse mit anschließender Sinnkonstitution, die bewusst auf Generalisierungen verzichtet, einzuüben – Verfahren, die in der Ganztextanalyse erneut zur Anwendung gebracht und dort im Hinblick auf die genannten Makrostrukturen vertieft werden. Gleichwohl werden die lehrwerkanalytischen Abschnitte in Kapitel 2 deutlich machen, dass die Textauszüge immer wieder als repräsentative Aussagen über einen Roman, ein Drama, eine Situation oder eine Figur überansprucht werden. Die Limitation der formalen und ontologischen Aussagekraft eines Textabschnitts wird nicht erkannt bzw. vermittelt.

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