Читать книгу Taylors Warnung - Jürgen Caloja - Страница 4
Dienstag, 10. Februar 1976, 13:00 Uhr
ОглавлениеKurt ist eingeliefert worden – Nervenzusammenbruch.
»Sie haben ihn auf den Venusberg gebracht, zur Uniklinik, da liegt er auf der Neurologischen.« Die arme Frau Lehnbach klang am Telefon völlig aufgelöst. Kurt lässt mir ausrichten, ich solle bitte zu seiner Wohnung fahren, die Aktentasche holen und seinen Weltempfänger mit in die Klinik bringen. Den Wohnungsschlüssel hat Frau Lehnbach.
Es ist Dienstag, Marie hat Spätschicht. Wenn ich gleich losfahre, bin ich gegen halb drei bei Kurt. Ich hasse es, bei Glatteis mit dem Auto unterwegs zu sein; sie haben zwar gestreut, aber meine Reifen sind nicht die besten. Trotzdem muss man ja hin, wenn das Bruderherz seelisch kollabiert. Und das mit seinen vierunddreißig Jahren! In den letzten Monaten hat er abgebaut; Vater meinte: »Unser Kurt hängt irgendwie schlimm daneben. Was hat der Junge bloß?«
»Er ist einfach überlastet«, hatte ich gesagt. »Der Job in der Uni, dann die Verantwortung im Institut und dazu noch die vielen Wochenendreisen! Der hat doch nie ein ruhiges Wochenende!«
»Ja«, sagte Mutter, »ich weiß auch nicht, wie der Junge das schaffen soll. Das nimmt noch ein schlimmes Ende.«
Obwohl Kurt als Wissenschaftler ein gutes Gehalt hat und sich seit langem ein eigenes Appartement hätte leisten können, konnte er sich nicht entschließen, die ewige Studentenbude am Bahnhof Beuel in der Goetheallee aufzugeben; auch nach dem Examen hat er sie nicht renoviert. Der ist einfach im alten Trott geblieben: keine feste Frau, immer nur seine Physik. All die Jahre hindurch ging er zu Fuß oder fuhr mit Rad oder Straßenbahn über die Kennedybrücke zur Uni, als Student genauso wie als Assistent und später als Dozent; auch als Abteilungsleiter im Institut für Kernphysik ist er der Goetheallee treu geblieben. Aber mit Geld hatte das nichts zu tun; meine teuersten Bücher hat Kurt bezahlt. Als ich 1968 in Bonn mit dem Studium anfing, sah seine Wohnung genauso aus wie bei meinem ersten Examen; ob ich mein Verlagsvoluntariat ableistete, meine erste Stelle als Lektor in Köln antrat oder wie jetzt meine Dienste freiberuflich anbiete: Kurts Haushalt bleibt sich gleich. Für sich selbst gibt er kaum etwas aus, mir gegenüber hat er sich aber auf keine Weise lumpen lassen. Also bin ich – und nicht nur aus Dankbarkeit – gleich los, um ihm die Sachen aus der Goetheallee in die Klinik zu bringen. Bei all der Aufregung hat Frau Lehnbach natürlich nur die paar Dinge zusammengesucht, die er unbedingt da braucht, auf der Neurologischen. Frau Lehnbach wohnt parterre und freut sich, dass sie ihre kleine Rente aufstocken kann, indem sie ihm den Haushalt macht; sie wäscht ihm auch alles. Kurt betätigt sich dafür gerne als freundlicher Zuhörer, wenn er Zeit hat; jedenfalls kann sie ihm all ihre Sorgen erzählen. Im letzten halben Jahr hatte er aber nicht mehr viel Zeit für Frau Lehnbach.
Unsere Mutter kümmert sich auch immer um alle, die Kummer haben. Wieder und wieder hat sie mich damals, als wir noch im absoluten Freiflug studieren durften, ermahnt: »Junge, wenn du die Philosophie im Kopf hast, dann vergiss dabei die Leute nicht! Die Leute, Peter, die haben ihre Sorgen und müssen ihr Leben meistern.«
»Aber Mutter! Was denkst du denn von mir!?«, so hatte ich dann immer meinen Part im Dialog zu übernehmen: »Ich vergesse doch die Leute nicht!« Aber manchmal, ehrlich gesagt, hat man sie ja doch vergessen. Das ging mir so, und das ging auch Kurt so. Plötzlich hat die Wissenschaft dich so richtig gepackt und du suchst irgendwas Objektivierbares, Allgemeines, irgendwelche Gesetze, Prinzipien, Axiome. Dabei geht dann der Sinn fürs Alltägliche verloren, du siehst auf einmal nicht mehr Herrn Meier von nebenan, sondern ›ein überaus komplexes biologisches System, das in je spezifischer Art um seine Existenz ringt‹.
Mutter erinnert uns auch immer wieder an uns selbst. Als wir letzten Sonntag ihren Geburtstag feierten, nahm sie mich abends beiseite und meinte: »Junge, wie siehst du wieder aus! Hast ja ein ganz käsiges Gesicht, Peter, so blass bist du! Ich meine, da lohnt sich die ganze Kulturarbeit nicht! Und schau, der Kurt, der ist auch kein Vorbild! Wie ein Gespenst kommt er daher, er wird uns noch krank! Und so kommt ihr zu Mutters Geburtstag.«
Sie ahnt voraus, wenn irgendwas mit ihren Jungs nicht in Ordnung ist. Sie hat da so eine Gabe. Auch wenn Vater nicht ganz wohlauf ist, merkt sie es sofort: »Hans, was ist denn nur? Du sagst wieder kein Wort! Du versteckst dich wieder hinter deinem Kaufmannsgesicht.«
Vater ist einer von diesen unbestechlichen Finanzbuchhaltern, aber er wird bald pensioniert; ich glaube, er wird gar nicht fertig damit. Irgendwie haben wir drei Männer etwas vom selben Fimmel: in die Arbeit gestürzt und alle Welt ringsum vergessen! Wenn es Mutter nicht gäbe, könnte es gut sein, dass wir alle schon verlernt hätten, wie man lebt. – Nun ist unser Kurt ja schon soweit, obwohl unsere Mutter aufpasst! Sicher ist sie schon bei ihm in der Klinik. Mit ihren achtundfünfzig Jahren ist sie voller Elan. Und wenn mit ›ihren Männern‹ irgendetwas nicht stimmt, lebt ein tiefgründiges Ahnen in ihr auf; da regt sich ganz unwillkürlich eine zum Mitfühlen bereite Intuition, wie ich sie bisher nur bei meiner Marie gefunden habe, und bei sonst keinem.
Mutter kann in solchen Momenten all ihre Bewertungsinstanzen, Prinzipien, Normen, Maximen komplett über Bord werfen. Sie hat die Gabe, sich rückhaltlos einzulassen. Dann will sie nur erfahren, wie es uns geht; kein einziges Urteil kommt ihr dabei über die Lippen.
Ich hatte einmal, als ich klein war, meinem Freund Wilfried das schöne neue Bakelit–Auto gestohlen, einen olivgrünen Wiking–Unimog. Auf den war Wilfried besonders stolz, und ich fand das Ding dermaßen begehrenswert, dass ich es einfach in die Tasche steckte und fest mit den Fingern umschloss, bloß, um diese Kostbarkeit zu fühlen. Natürlich fand Mutter sofort heraus, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte; sie spürte meine Leidenschaft für das sagenhafte Ding wie auch meine Angst davor, als Dieb entlarvt zu werden. Mutter hatte einfach nur beobachtet, mit welcher inneren Glut und Begeisterung ich den Unimog über die Tischdecke schob. Ich hatte darauf gehofft, Ma würde gar nicht merken, dass die neue Errungenschaft gar nicht mir gehörte; ich dachte, Mutter könne unmöglich meine Autos auseinander halten. Ich hatte ja vier oder fünf davon, und ganz verschiedene Modelle.
Natürlich war Mutter sofort klar, dass dieses Ding, das ich so festhielt, genau der Schatz sein musste, um den Wilfried so leidvoll trauerte. Als Mutter dann anderntags sagte: »Ich glaube, der Peter hat deinen Unimog so prima gefunden, dass er ihn, ohne es zu merken, mitgenommen hat«, da wusste ich, dass sie wusste, ich hatte ihn gestohlen.
Dann gab sie dem Wilfried sein herrliches Allrad–Nutzfahrzeug zurück und drückte mir zwei Mark fünfzig in die Hand: »So, dann geht ihr jetzt beide zu Frau Rührig und kauft noch so einen schönen Unimog. Dann habt ihr beide einen.« Ich weiß nicht, wie selig ich war!
Erst am Abend, als ich im Bett lag, hat sie gesagt: »Und dann wirst du auch niemandem mehr etwas wegnehmen. Jeder hat bestimmte Schätze, und die kannst du ihm nicht wegnehmen, ohne ihm weh zu tun.« Es war nicht das einzige Mal, dass Mutter mich vor anderen und vor mir selbst so in Schutz nahm. Ich rechne es ihr noch heute hoch an, und ich habe ihr immer vertraut. Auch Kurt konnte die wichtigen Dinge mit Mutter besprechen. Plötzlich wandelte sich das, da kam er auf einmal zu mir und meinte, er könne jetzt praktisch nichts mehr offen erzählen. Er sagte: »Jetzt ist alles im Eimer, die ganze schöne Vertrautheit.« Er meinte, Mutter habe einfach nicht die Kraft, ›das‹ zu bewältigen. Worum es sich dabei handelt, weiß ich selbst nicht; ich weiß aber, dass Kurt etwas hat, das er keinem Menschen mehr mitteilen kann, und wenn er es der Ma schon nicht mehr anvertraut, dann keinem. Sie ahnt schon länger, dass Kurt da irgendwas hat, und ist zutiefst beunruhigt.
Mit Vater haben wir nie so gesprochen. Ihn haben wir immer als unseresgleichen erachtet, ein bisschen älter bloß. Mit Vater kann man allen möglichen Unfug machen. Du kannst Pferde mit ihm stehlen, aber ernsthaft mit ihm reden kannst du nicht. Er ist, glaube ich, unfähig, dem Sprechen zu glauben. Das scheint aus der Zeit im Krieg zu kommen. Was er macht, hat immer den Charakter des Handelns. Er handelt mit Dingen. Mit sich selbst hat er ›nichts am Hut‹, und allen ›inneren Angelegenheiten‹ geht er aus dem Weg, davon verspricht er sich nichts. Ich glaube, er glaubt, wenn er ernsthaft spricht, dann bricht er irgendein Versprechen. Er lacht dann lieber und feixt herum oder redet über ›objektive Angelegenheiten‹, er plant etwas, macht etwas, berechnet alles, sorgt für etwas.
Immer wenn es um ›etwas Inneres‹ geht, streikt er sichtlich; dann lenkt er ab oder wendet sich anderem zu. Das kann er auch gut machen, weil ja Mutter ›für das Ernste im Leben‹ da ist, in diesen Dingen verlässt er sich ganz auf sie, schon seit ihrer Verlobung. Sicher steht er nachher ziemlich hilflos bei Kurt am Bett und klagt über irgendwas ›Objektives‹, zum Beispiel, dass es eine Schande ist, wie die Krankenzimmer aussehen: so kalt, so sachlich, so klinisch! Bestimmt ist er dann ganz aus dem Häuschen, wenn er sieht, dass ich Kurts Weltempfänger mitbringe. »Jawoll! Junge! Eine gute Idee, das Radio! Da hat er doch was Abwechslung.« So ist Vater.
Ma wird dann nur still dasitzen und nachfühlen, wie das wohl ist, wenn man so einen Nervenkollaps hat und dann in dieser schrecklichen Neurologie liegen muss. Dann grübelt sie, ›was sie Gutes für den Jungen tun kann‹.
Ich ahne schon, dass es eine schlimme Sache wird. Kurt wird unfähig sein zu erzählen, wie das Ganze gekommen ist. Da wird er herumdrucksen und mit der Sprache nicht herauswollen. Einer Seele von Mensch wie Mutter darf man ›solche Dinge‹ doch einfach nicht zumuten. Übersensibel kann er sich nicht vorstellen, dass Mutter ›das‹ verkraftet.
Ich weiß selber nicht, worum es sich handelt, wenn er von ›dieser Sache‹ spricht, aber ich weiß, dass es schon eine schlimme Sache sein muss, wenn er auch mir gegenüber schon etliche Monate lang nur solche Andeutungen macht. Als ›kleiner Bruder‹ hatte ich nie tieferen Einblick in seine beruflichen Angelegenheiten, aber irgendwie, das ahne ich, hängt seine ganze Misere mit seiner Arbeit als Kernphysiker zusammen. Und die Politik scheint auch eine gewisse Rolle zu spielen. Seit einigen Monaten reist Kurt öfter nach Berlin; da trifft er sich – meist an verlängerten Wochenenden – mit Bernd, dem Soziologiedozenten an der Freien Universität; für die Treffen steht Kurt ein Gästezimmer in Bernds Wohnung in Charlottenburg zur Verfügung. Bernd ist führender Vordenker der ›Berliner Gruppe‹; für sozial-utopische Ideen war Kurt schon immer aufgeschlossen. Jedenfalls pflegt er intensive Kontakte mit den ›Berliner Leuten‹, und mir gegenüber kritisiert er seit langem meinen ›Philosophischen Konservatismus‹. Wieso ich statt Marx, Engels, Lenin und Mao, Leute zitiere wie Sokrates, Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, Nikolaus von Kues, Pascal, Kant, Jaspers und die Phänomenologen – das will ihm einfach nicht in den Kopf.
»Du bist aus einer ganz anderen Generation, Brüderchen«, sagt er immer, »aber zum Umarmen treuherzig, das gebe ich zu.«
Ich bin, scheint es, tatsächlich unfähig, so richtig aktiv zu sein, politisch. Ich bin eher so ein Künstler und Entdecker, einer, der sucht und erfindet und seinen Wachträumen nachhängt; keiner, der an Ort und Stelle etwas verändern könnte, außer vielleicht im reflexiven Bereich. Ich kann die Parolen nicht leiden: zu wenig Wahrheit, zu viel Suggestion. Da fühle ich, scheint es, ähnlich wie unser Vater. Natürlich ist auch Kurt nicht per se zum Agitator geboren, aber er zeigt doch einige nicht zu unterschätzende autoritäre Züge, glaube ich. Er meint: »Seit es die Physik gibt, beeinflusst sie direkt und materialiter vom Schreibtisch aus die Technik.« Er sei zwar Theoretiker, liefere aber der Mechanik ihre Materialgrundlagen. Durch Leute wie ihn könnten wir Energien freisetzen, Raketen abschießen und Schiffe ozeanweit atomar antreiben. Durch diese Physik werde Weltpolitik beeinflusst: das Gleichgewicht des Schreckens, also im Grunde unser augenblicklicher Waffenstillstand, sei der methodologischen Leistung von Naturwissenschaftlern zu verdanken, die den Technikern geeignete Mittel und Verfahren zur Verfügung stellten. Aber ich denke, er weiß auch, dass die eher philosophischen Disziplinen und vielleicht auch die Psychologie, wenn sie sich nicht gerade ausschließlich mit Reklamefragen befasst, soziokulturell so wichtig für das Fortbestehen der Menschheit sind wie die unmittelbar Natur beherrschenden Fächer.
»Weil uns alles zu entgleiten droht«, resümierte er, nachdem wir uns wieder einmal eine ganze Nacht lang mit Folgenabschätzung der Natureroberung und Ressourcenausbeutung befasst hatten. Dass ich Kurt aber dann doch nie ganz überzeugen konnte, höre ich, wenn er darauf beharrt: »Es gibt überhaupt nichts Wichtigeres als den politischen Widerstand!« Aber dann schwankt er auch wieder zwischen der Vorstellung: ›Man muss etwas machen (und wirklich erfolgreich handeln kann nur die Machtpolitik)‹ und der Einsicht: ›Man muss gründlicher nachdenken‹.
Ich dagegen laufe eher introspektiv durch die Welt: ›Ich muss die Welt, wie sie mir zu sein scheint, wahrnehmen und überprüfen‹ beziehungsweise: ›Ich muss die Welt erfinden, wie sie sein könnte‹ und ›Überhaupt: Könnte nicht alles ganz anders sein?‹ Wahrscheinlich bin ich der geborene Zuschauer meiner selbst. Mich hat schon immer interessiert zu verstehen, wie und warum ich etwas genau so sehe, wie ich es sehe. Und selten glaube ich mir sofort, was ich denke.
Von der Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung hat Kurt nur den undankbareren Teil mitbekommen: er denkt nur dann an sich, wenn er plötzlich spürt, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmt oder wenn er krank zu werden droht. Geht es ihm gut, befasst er sich wie Vater nur mit seinen Projekten, Plänen, Theorien und Methoden. Geht es ihm aber schlecht, braucht er einen anderen Menschen, der sich wie ich mit all dem befasst, was man als ›das Innere‹ auch zum Gegenstand des Philosophierens machen kann.
Früher kam er mit Selbstklärungsfragen öfter zu Mutter. Seit er ihr ›das alles‹ aber nicht mehr sagen kann, kommt er zu mir, um mir zu sagen, dass er es weder ihr noch mir sagen kann.
Ich bin sicher, da kommt jetzt wieder so was auf mich zu. Einen Nervenzusammenbruch hat er gehabt! Sicher hat er einen echten Grund, Monate lang mit einem Wissen herumzulaufen, von dem er Mutter nichts sagt und mir nur faktisch Andeutungen macht. Das wird ihn wohl zermürbt haben.
Jedes Mal, wenn er sich nicht in Ordnung fühlt, reagiert er auch körperlich übersensibel. Und hat er ein schlechtes Gewissen – schon wird ihm übel, schon kriegt er Magenschmerzen. Oder anders: ist er erkältet, fällt er sofort aus der gewohnten Rolle des scharfsinnigen Naturwissenschaftlers; dann kann er sich nicht konzentrieren; es zieht ihn geistig herab, und er ist vollkommen hilflos. Er hat nie gelernt, in seinen besten, seinen gesunden Zeiten achtsam mit sich umzugehen. Schon leiseste Skrupel und Zweifel machen ihn physisch und psychisch krank, erst recht natürlich wirklich große Gewissensbisse. Kurz vor seinem Rigorosum hatte er mal ein Mädchen, und er meinte, das gehöre ja nun mal dazu, dass er sie so liebt, wie das verlangt wird: kurz, heftig und ohne dauerhafte Bindung. Weil er aber plötzlich merkte, dass er gar nicht der Mensch dazu ist, quälten ihn Skrupel. Als sie dann ein Kind von ihm erwartete, meinte sie, sie müsse es abtreiben lassen. Die passende Adresse hatte sie von einer Kommilitonin, die sich für die Gleichberechtigung der Frau einsetzte. Obwohl auch Kurt die Emanzipation für richtig und notwendig hielt, machte es ihn krank, dass er, wenn er es bedachte, in gewisser Weise doch mitschuldig werden sollte. Aus seiner Sicht konnte man es glatt für Mord halten, wenn man das Kind ohne besonderen Grund abtrieb. Wochenlang hat er nichts mehr für die strenge mündliche Promotionsprüfung getan. Bis Mutter ihn endlich mit seiner Gewissenslast durchschaute: »Junge, du musst dich nicht für alles verantwortlich machen, was andere tun. Wenn Erika das Kind abgetrieben hat, war das in ihrem Sinne vielleicht richtig. Du kannst nicht ins Herz eines Menschen sehen, und überhaupt darf der Mann der Frau keinen Strick daraus drehen!«
Er hat die Beziehung zu Erika gelöst. Menschlich, fand ich, sauber, er hat ihr einfach gesagt, dass er so nicht mit ihr leben kann, er wirft ihr aber auch nichts vor. Danach hat er sich für drei Wochen ins Bett gelegt, bis er wieder kuriert war. Er konnte seine Promotion dann doch noch mit Auszeichnung über die Bühne bringen. Aber seit damals hat er nichts Ernstes mehr mit Frauen. Er konnte sich wieder mal, als er physisch in Ordnung war, nicht richtig ins Gleichgewicht bringen. »Es hätte ja mein Sohn sein können, oder meine Tochter, das Kind«, sagte er später mal abschließend zum Thema. Danach ging er den Problemen konsequent aus dem Weg und hat kaum mal ein innigeres Verhältnis zu sich selbst ausprobiert.
Mir gegenüber hat er sich gewunden und alles immer nur angedeutet. »Hör mal, Peter, ich weiß, dass du es verstehst, aber ich bin einfach nicht soweit, dass ich es sagen könnte; ich bin einfach nicht dazu in der Lage.« Da ließ ich ihn wieder in Ruhe.
Es scheint da auch äußere Anlässe zu geben, dass er es nicht sagen will: »Ich darf es auch nicht!«, behauptet er. »Da hängen noch ganz andere mit drin! Und alles ist mir entglitten, ich würde auch nichts mehr daran ändern!«
Ich fragte ihn: »Bist du irgendwie in Gefahr?«
Er sagte bloß: »Ja.«
Das war abends beim Abschied in Siegburg, als wir nach Mutters Geburtstagskaffee in unsere Autos stiegen und Kurt wieder nach Beuel fuhr und ich nach Königswinter zu Marie, die aber wegen des üblichen Wochenenddienstes im Altenheim noch nicht wieder da war.