Читать книгу Taylors Warnung - Jürgen Caloja - Страница 5
Dienstag, 10. Februar 1976, 14:30 Uhr
ОглавлениеUnsere Eltern sind schon bei Kurt. Ich setze den R4 in die Lücke neben Vaters Käfer, klemme den himmelblauen Weltempfänger unter den Arm und nehme Kurts braune Aktentasche vom Sitz.
Es schneit; ich hasse Schneeflocken zwischen Nacken und Hemd und schlage den Jackenkragen hoch. Ich halte mich an die weißen Schilder, die in blutroten Lettern den Weg zu den einzelnen Kliniken zeigen: Neurologie.
Der Pförtner sieht mich kommen und drückt den Knopf, der mir automatisch den Flügel des Glasportals öffnet.
»Danke«, sage ich. »Mein Bruder braucht seine Sachen. Wissen Sie, auf welchem Zimmer er liegt? Kurt Fuchs. Er ist seit heute Morgen hier.«
Der Pförtner fährt kopfnickend mit dem Finger auf seiner Liste abwärts. »Ja«, sagt er, »Doktor Kurt Fuchs. Heute eingeliefert – Zweihundertfünfunddreißig, zweiter Stock. Nehmen Sie den Aufzug da.« Er zeigt auf die Milchglastür, die in die Vorhalle führt. »Direkt da rechts.«
›Nett, der Alte‹, denke ich; solche Leute spannen dir ein Netz auf, und du kannst dich drauf verlassen, dass es nicht reißt.
Ich hasse diese Aufzüge! Erst ruckeln sie hinterhältig, schieben schleicherisch los, surrend, seicht, schneller, dann abbremsend, dass es einem übel werden kann! Und, klack, blockierend, stehen sie stumm. Überhaupt kann ich Krankenhäuser nicht ausstehen: allein der Geruch!
Ich wende mich nach rechts und suche die Nummer 235. Als ich öffne, kommt Vater schon auf mich zu, mir das Radio und die Aktentasche abzunehmen.
»Danke«, sage ich und gebe Mutter einen Kuss auf die Wange.
Kurt liegt da wie tot, kreidebleich im Afrolook. Sie haben ihn an den Tropf gehängt. Ich setze mich zu ihm ans Bett und nehme Mutters Hand.
Mutter weint. Vater stellt den himmelblauen Weltempfänger auf den Nachttisch.
Kurt schläft. Er muss heute Morgen wild getobt haben in seiner Bude. Frau Lehnbach hat mir eben in Beuel berichtet, was für einen Amoklauf er veranstaltet hat. Sie bot mir auch etwas von ihrem Mittagessen an, aber davon hätte ich nichts herunter gekriegt. Ich setzte mich zu ihr und hörte, was sie gehört und gesehen hatte. Plötzlich sei Kurt in seinen zwei Zimmern herumgelaufen und habe fürchterlich geschrien: »Ich halt das nicht mehr aus! Das halt ich im Kopf nicht aus! Diese ... !« (Frau Lehnbach mochte das Schimpfwort aus dem Maststall nicht wiederholen). Dann sagte sie, sie habe gehört, wie er Porzellan an die Wand geworfen habe. Den Tisch hatte er auch umgerissen. Sie ist eine brave Person; das hat sie sehr mitgenommen, dass Kurt sein gutes Geschirr zerschlug, und auch die Gläser! Obwohl sie schon aufgeräumt hatte, blitzten mir noch Splitter entgegen. Sein Kleiderschrank hat enorme Kratzer abbekommen, auch der Schrank im Arbeitszimmer. Der Teppich ist ruiniert. (Kurt hat wohl eine Flasche Rotwein zerschlagen). Auch einige Broschüren hat er zerrissen, physikalische Literatur. Immer wieder hatte er gebrüllt: »Unmenschen! Bestien sind das!«
Er war herumgelaufen und hatte die Möbel traktiert: Bücher – alle raus aus dem Regal! Einige schmiss er aus dem Fenster. Zum Glück sind sie nicht bis zur Straße gekommen; das Dach vor dem Mansardenfenster ist ziemlich flach, und sie blieben knapp vor der Dachrinne im Schnee stecken. Der Hausmeister hat sie nachher wieder reingeholt, sagte Frau Lehnbach. Sie war ganz betroffen, als sie es erzählte. Immer wieder beugte sie sich zu mir her und flüsterte: »Ihr Bruder ist schwer krank.«
Als er dann noch angefangen hatte, auch im Treppenhaus zu toben, hatte sie schnell die Feuerwehr angerufen. Die hätten gefragt: ›Ein Randalierer?‹ Sie habe gesagt: ›Nein, er ist krank!‹ Es war ihr unheimlich gewesen. Und peinlich! Kurt hatte sie angestarrt und geschrien: »Unmenschen!«
Die anderen Nachbarn von unten standen im Treppenhaus und riefen: ›Unverschämtheit! Das ist eine verdammte Unverschämtheit!« Die hätten das alles auf sich bezogen. »Dabei hat Ihr Bruder das ja ganz anders gemeint!«, sagte sie mitfühlend. »Aber das kommt daher, dass er so einen schwarzen Krauskopf hat. Die Leute glauben mir nicht, wenn ich sage, der Herr Fuchs, das ist ein Doktor.« Sie war ganz aus ihrer Bahn geworfen.
»Und dann haben sie ihn abgeholt?«, fragte ich.
»Ja«, sagte sie tief betrübt. »Mit dem roten Krankenwagen! – ›Ein Amokläufer!‹, hat einer der Sanitäter gesagt. ›Na ja, den muss man in Sicherheit bringen!‹ «
Kurt habe sich dann auch nicht gewehrt. Danach hatte sie ›ein bisschen was‹ bei ihm aufgeräumt. Ich dankte ihr.
Mutter seufzt still vor sich hin, und Vater stiert starr auf Kurts blassgrünes Gesicht. Wie oft hat er die Leute mäkeln hören, der soll doch endlich mal zum Frisör gehen die krause Mähne schneiden lassen!
Kurt rührt sich nicht. Aus der Ampulle laufen einzelne Tropfen durch den Schlauch zur Kanüle in seinem linken Handrücken. Irgendwas zur Beruhigung, denk ich mir. Ich muss mit dem Arzt sprechen.
»Habt ihr schon mit dem Doktor gesprochen?«, frage ich Mutter leise. Sie schüttelt nur den Kopf.
Vater sagt: »Der hat sich noch nicht blicken lassen.«
»Die Schwester meint, Kurt hat einen Schock«, sagt Mutter und tupft mit dem weißen Taschentuch die Tränen von der Wange. »Irgendwas muss ihn furchtbar aufgeregt haben!«, flüstert sie.
»Ja«, sage ich.
»Aber er hat ja auch kein einziges Wort mehr gesagt«, wispert sie und klammert sich an das feuchte Tuch. Es ist das erste Mal, dass ich sie so niedergeschlagen sehe. »Oder hat er dir etwas gesagt?«, fragt sie und sieht mich erwartungsvoll an.
»Nein«, sage ich leise, und ich weiß, dass sie merkt, ich schwindle. Sie hat das im Blick.
»Irgendwas hat er dir doch verraten?! Ich weiß, dass er nur noch mit dir spricht.« Traurig schaut sie Kurt an, sein krankes Gesicht. Sie tut mir leid.
»Nein, wirklich. Ich weiß nichts Genaues! Ich weiß nur, dass da etwas ist!« (Ich kann ihr aber nicht sagen, dass Kurt sich in arger Gefahr fühlt). – Sie möchte mir glauben und beruhigt sich ei wenig.
»Hast du von Frau Lehnbach erfahren können, wie das heute war mit Kurt?«, fragt sie flüsternd und forscht mit ängstlicher Erwartung nach der Wahrheit in meinen Augen.
»Ja«, sage ich, indem ich mich flüchtig vergewissere, dass Kurt auch wirklich schläft. »Sie hat mir erzählt, dass er furchtbar wütend war über irgendetwas. Dann muss er wohl zusammengebrochen sein. Dann hat sie den Krankenwagen gerufen, weil sie ja sah, dass Kurt krank war. Die sind dann gekommen und haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Das war alles recht harmlos«, lüge ich. (Sie wird das sowieso von Frau Lehnbach erfahren, wie es wirklich war. Aber das muss ja nicht alles heute sein).
»Das geht immer alles sehr schnell und reibungslos«, sagt Vater, der auf dem Holzstuhl am Fußende des Bettes sitzt.
»Du brauchst mich nicht zu schonen«, sagt Mutter, und dabei guckt sie zuerst mich an, dann Vater. »Ich bin mit der Wahrheit immer noch am besten gefahren«, sagt sie und richtet sich auf; jetzt ist sie wieder die alte: stolz und einfühlsam in einem. Ihr kannst du nichts vormachen.
»Ich seh mal nach dem Arzt«, sage ich und verlasse leise Kurts Zimmer. Es ist gut, dass sie ihm so ein Einzelzimmerchen gegeben haben, da hat Kurt seine Ruhe.
Unterwegs treffe ich die Schwester, eine hübsche, nicht allzu schlanke Frau im weißen Kittel. »Ist der Arzt hier?«, frage ich. »Kann ich ihn sprechen? – Bitte, Schwester.«
Sie sieht mich einen Moment lang an, guckt in die Richtung, wo sich Kurts Zimmer befindet, und entschließt sich zu sagen: »Ja. Ich seh mal. Sie sind sein Bruder?« Ich bestätige kopfnickend. Ihr Gesicht zeigt sich gutmütig.
Sie eilt in ihr Stationszimmerchen, nimmt den Telefonhörer auf, wählt eine Ziffer und spricht mit dem ›Herrn Doktor‹. Die Tür hat sie einen Spalt aufgelassen, und ich höre, wie sie sagt: »Es geht um den Patienten Doktor Fuchs. Sein Bruder möchte Sie sprechen. – Gut? Ja, dann kommt der junge Mann gleich rüber, Herr Doktor.«
Sie lässt den Hörer zurückfallen und kommt wieder heraus: »Sie können zu ihm, dritte Tür rechts.«
»Danke«, sage ich.
Mit wippendem braunen Haar huscht sie durch den Korridor ans andere Ende zur Küche; da klappert jemand mit Geschirr.
Das Transparentschild an der Tür des Arztes sagt mir nur: ›Dr. Dietrich Burger‹. Ist er Neurologe? Psychiater?
Ich klopfe an und öffne die Tür. Er kommt mir schon lächelnd entgegen und sagt: »Guten Tag, Herr Fuchs.« Er ist an die Sechzig, trägt eine graue Wollstrickjacke.
»Guten Tag, Dr. Burger«, sage ich, »schön, dass Sie Zeit für mich haben.« Er reicht mir die Hand. »Sie sehen sich ziemlich ähnlich«. Er lächelt. »Ein wenig jünger«, meint er und bietet mir einen angenehm gepolsterten Sessel an.
»Ich habe Ihrem Bruder heute Morgen nur noch erlaubt, kurz zu Hause anzurufen. Dann musste er sich sofort hinlegen und ruhen. Der Arme war ja ganz aus der Fassung geraten! Aber die ersten Stunden hier bei uns hat er bestens überstanden. Er wird sich wieder erholen, Herr Fuchs. Lediglich Ruhe braucht er momentan. – Schläft er jetzt?«
»Ja« sage ich.
»Das macht die Infusion«, sagt er, »die durchdringt sein ganzes Nervenkorsett. Irgendwie steht Ihr Bruder unter starker Anspannung, nicht wahr?«
»Ich glaube ja«, sage ich. »Er hat wohl auch Angst.«
»Fühlt er sich bedroht?«, fragt der Arzt, setzt die Lesebrille auf und zieht den Anamnesebogen näher heran. Hinter seinem Schreibtisch sieht er aus wie ein gemütlicher Wissenschaftler, etwas abseits steht tatsächlich ein gut bestückter Pfeifenständer auf dem Tisch. Aber es stinkt hier nicht so sehr nach Tabak.
»Ja, er fühlt sich bedroht«, sage ich nachdenklich. »Kurt hat Angst vor irgendetwas, das er nicht sagen kann.«
Der Doktor wirkt sympathisch, als er die Stirn in Falten legt; sein Haar leuchtet weißgrau, und weil es etwas länger ist, wirkt sein Kopf größer.
›Das müssen Sie mir genauer erklären, Herr Fuchs«, sagt er und guckt mir lange direkt in die Augen. Ich mag das, wenn Leute einem standhalten, wenn man sie ansieht.
Ich gucke genauso zurück und sage: »Sie meinen, ich soll genauer sagen, ob es sich meiner Meinung nach um Angst vor etwas Bestimmtem handelt?«
»Ja, genau!«, sagt er und zieht dabei die letzte Silbe etwas lang. »Oder ist es eine irgendwie undefinierbare Angst?«
»Es ist etwas ganz Bestimmtes, Herr Doktor«, sage ich. »Aber ich weiß nicht, was es ist. Ich weiß nur das Faktum.«
Er lächelt jetzt wieder. »Das ist besser, als wenn es nur so eine unterschwellige und eigentlich ziellose Angst vor etwas ganz Unbestimmtem wäre«, sagt er.
Ich ahne schon, warum, und frage deshalb nicht nach; es könnte pathologisch sein, wenn es eine ziellose Angst wäre.
»Jedenfalls werden wir ihn in Obhut nehmen«, sagt er. »Wir brauchen eine gründliche Diagnose. Mit psychischen Prozessen muss man sorgsam umgehen.« Er sagt das mehr in sich hinein, wie einen tausendfach wiederholten Lehrsatz.
»Ja«, sage ich.
Vielleicht durch mein ›Ja‹ ermuntert, vielleicht aber auch, weil er in mir einen aufmerksamen Zuhörer erkennt, sagt er: »Was meinen Sie, Herr Fuchs, wie viele Leute seelisch krank sind, in unserer Gesellschaft?« Er sieht mich gespannt an.
Ich lasse mir Zeit mit der Antwort und zucke nur mit den Schultern. »Viele«, sage ich.
»Ja, Herr Fuchs. Viel zu viele! Der Zeitgeist macht die Leute kaputt!« Er zeigt ein ehrlich betrübtes Gesicht. – »Sie haben studiert?« Er fragt das nicht nur rhetorisch, da bin ich sicher, er baut auf Erfahrung im Umgang mit Menschen.
»Ja«, sage ich, »Philosophie; zur Zeit arbeite ich als Lektor, freiberuflich, für ethische Verlagsprogramme.«
»Dann haben Sie sicher eine Vorstellung von der ZeitKrankheit«, sagt er. »Kennen Sie Kierkegaard?«
»Ja«, sage ich, »Sören Kierkegaard, der dänische Existenzphilosoph.«
»Was dieser Mann über die Verzweiflung geschrieben hat und über die Angst – das passt noch viel besser in unser Jahrhundert als in seins!‹ Das sagt er allen Ernstes; erkenne ich doch einen Anflug seiner eigenen Verzweiflung angesichts seines Berufsthemas. »Sie müssten sich das mal angucken, wer alles hier eingeliefert wird! Männer, Frauen, jung und alt, Akademiker, Arbeiter, Hausfrauen, Studenten, Oberschicht, Bürgertum, Ghetto. Die sind alle krank, weil sie verzweifeln; auf irgendeine Weise verzweifeln sie alle. Der eine hat Angst vor dem eigenen Versagen, der andere traut seinem Körper nichts mehr zu und glaubt, er ist ein Wrack. Der nächste kann keinem Menschen mehr trauen, weil er sich selbst nicht traut. Wieder ein anderer wird krank, weil er keine Ideale mehr hat, ein anderer setzt sich zu hohe und absolut unerreichbare Ziele. – Viele leiden unter einem total verkehrten Selbstbild: der eine schätzt sich zu hoch ein und versagt dann tatsächlich. Viele Frauen schätzen sich zu gering ein und merken nicht, dass sie Herausragendes leisten. – Manch ein Mensch verfolgt eine Utopie und besteht auf Unerfüllbarem. – Was verstehen Sie unter Utopie?«
»Ein Niemandsland«, sage ich. »Aber wir brauchen Utopien! Gerade lektoriere ich eine Publikation zum Thema ›Zukunftsprogramm im sozialökologischen Ansatz‹.«
»Utopien sind nötig, ja«, sagt er, »das stimmt! Man sollte sich aber im Klaren sein, dass man sich Utopien nur strebend annähern kann! Man muss die Spannung ertragen lernen! Man kann dem utopischen Ziel nahekommen, aber man kann die Utopie nicht perfekt machen. Ertragen lässt sich der riesige Spannungsbogen nur, wenn man den guten Sinn darin erkannt hat, dass die Utopie realistischerweise weder einholbar sein kann noch verfügbar werden darf!«
»Da könnte leicht jemand glauben, er werde um sein Glück gebracht«, sage ich.
»Ja, ja. Und das passiert auch«, sagt er. »Vollkommen berechtigt, Ihr Einwand!«
»Wenn sich ein Mensch etwa vorstellt, er muss, damit er erfolgreich seines Glückes Schmied wird, nur immer schön fleißig sein, gesund bleiben und recht alt werden, so dass er am Ende seines Lebens im Kreise seiner Lieben – Partner, Kinder und Enkel – glücklich seine Tage genießen und vielleicht noch einige Reisen unternehmen kann, dann ist diese Vorstellung ja eigentlich ein ganz legitimer Traum, für den sich zu leben lohnt«, sage ich.
»Ja, sicher«, bestätigt Dr. Burger kopfnickend, »aber unglücklich und krank werden solche Menschen, wenn sie ungenügend darauf vorbereitet sind, was ihnen alles in unserer Gesellschaft jederzeit passieren kann: der Mann wird untreu, geht fremd; die Frau läuft weg; der eine hintergeht den anderen, oder einer wird krank, jemand verunglückt schwer oder gar tödlich; man verliert die Arbeitsstelle, das Geld reicht nicht, der Erfolg bleibt aus; die Kinder wollen nichts mehr von einem wissen – ja, da zerschellt der Lebensmut.«
»Die Leute verzweifeln«, sage ich.
»Aber eigentlich könnten die Menschen von Natur aus spüren, dass eine solche gesellschaftliche Realität inhuman ist! Sie könnten sehr wohl wahrnehmen, dass modernes Leben in allen Belangen maßlos ist, zu kurz, obwohl die Leute immer älter werden. Unsere Zeit lässt zu wenig Zeit zum Leben – und es geht in Wirklichkeit nicht nur um Stunden! Es geht um tieferes Erleben. Eine einzige Stunde echtes Abenteuer, ist länger als vier Wochen Langeweile! Der Zeitgeist heute produziert die perfekte Langeweile. Auch da hat Kierkegaard recht. Kommt der Mensch einmal zur Ruhe, fürchtet er sich vor der Leere, vor dem Nichts, vor der Langeweile, deshalb will er sie so schnell wie möglich durch irgendein Arrangement von Vergnügungen loswerden, und das nutzt ja auch die Freizeitindustrie. Aber darin steckt ein gefährlicher Denkfehler! Nicht ein mögliches Vergnügen vertreibt die Langeweile sozusagen von außen her, sondern der Mensch, der wirkliche Freude am Leben hat, von innen her, aber die meisten Menschen können sich eben auch nicht wirklich vergnügen. Die lassen sich einfach leiten oder überrumpeln. So etwas hat dann aber pathologische Folgen.«
»Die Leute müssten lernen, nur das als richtig zu wählen, was sie selbst als wertvoll spüren«, sage ich.
»Eben« sagt er. »Aber, wissen Sie, Herr Fuchs, es ist wirklich mühsam, den Menschen wieder nahe zu bringen, dass sie überhaupt etwas wertschätzen können! Verstehen Sie das recht, die Menschen haben gelernt zu funktionieren. Sie setzen alles daran, nur ja nicht aus der Rolle zu fallen. Sie haben Angst, jemand Wichtiges könne sie als funktionsuntüchtig beurteilen. Und unsere Zeit macht das ja auch mit einer Brutalität, die unbeschreiblich ist! Wer Schwäche zeigt, fliegt raus, wer nicht ewig jung bleibt, ist nicht mehr zu gebrauchen, wer zweimal nachfragt, gilt als dement oder unwillig, wer langsamer wird, wird abgehängt! Wer krank ist, wird verachtet! Und wer einmal als unfähig beurteilt ist, stürzt ab und wird seinen Platz nicht mehr wiedersehen! Das ist ein Teufelskreis, den keiner durchbricht. Statt sich einer Realität der Endlichkeit menschlich anzupassen, wird jeder darauf festgelegt, eine immense Funktionsfähigkeit vorzugaukeln, auch wenn er sie gar nicht hat und auch nie haben kann. Das fängt schon in der frühen Kindheit an. ›Unser Sohn kann schon laufen!‹ – ›Unsere Tochter spricht schon‹ – ›Und kann sie denn auch schon Englisch?‹ – ›Ach nein? Unser Junge wächst aber bilingual auf‹. Da kommt ein Leistungsdruck ins Spiel, der die wünschenswerten Kulturfertigkeiten ihrer natürlichen Entwicklungsvoraussetzungen beraubt. Das steigert sich von Lernstufe zu Lernstufe: Test, Prüfung, Persönlichkeitsprofil! Alles nur, um unter den Regeln erfolgreicher Funktionstrainings immer profitabler zu werden. Wer kann da noch stark genug sein, um etwas vollkommen Anderes zu wollen?«
»Ich schätze, Sie denken dabei an die Leute, die sich bewusst dazu entscheiden, kleinere Brötchen zu backen«, sage ich. »Menschen, die sich mit dem zufrieden geben, was sie, ohne sich zu verbiegen, erreichen können?«
»Ja«, sagt er. »Aber kaum jemand hat gelernt, etwas Eigenes wirklich zu wollen! Die meisten unterwerfen sich dem allgemeinen Drill und lassen sich fremdsteuern. Aber sie bleiben letztlich allein damit. Dann lässt man sie schon gleich beim ersten auffälligen Fehler fallen! Das schafft dann eine Verzweiflung, aus der viele nicht mehr herausfinden. Sie werden krank.«
»Da kann nur mehr Freiheit helfen«, sage ich und muss grinsen, weil das ja utopisch klingt.
»Ja«, sagt er. »Ich meine Entscheidungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Richtungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Freiheit der Wahl und Freiheit der eigenen Wertung! Ich sage nicht, dass es rücksichtslose Freiheit für asoziale Individuen geben muss, wie es unsinnigerweise in manchen Managementzirkeln propagiert wurde. Aber ich glaube doch fest, es könnte eine stetige Annäherung an das persönliche Potential der Menschen geben, man könnte ihre Kräfte fördern, die ihren eignen Willen zum Handeln und Verändern stärken, ihre Lust auf gemeinschaftliche Kulturentwicklung motivieren und belohnen. Zwar bringt dieses Lernen ein gewisses Maß an Spannung mit sich, auf gar keinen Fall aber Langeweile! Die Leute würden lernen, sich als Initiatoren eines Systems zu verstehen und nicht als Rädchen im Getriebe! Verstehen Sie mich recht, es geht mir darum, dass der Einzelne fähig wird, aus eigener Kraft, eigenem Mut, eigener Verantwortung und Entscheidung heraus sozial zu sein. Sozial wertvoll und wirksam sein heißt leben-können, leben-wollen, gemeinsam Leben gestalten und genießen. Als Philosoph werden Sie mir die Wortketten nicht ganz so übel nehmen, nicht wahr.«
Er lacht, und ich lache auch.
»Also müssten die Leute fähig werden, zu sich selbst, so wie sie sind, ja zu sagen«, sage ich. »Auch im Widerstand zum Zeitgeist.«
»Ja«, sagt Burger. »Aber soll ich Ihnen was sagen? – Das ist dann unsere Utopie! Wir kommen vielleicht zurecht mit der Spannung darin, ja. Aber wie soll ein Mann, wie soll eine Frau, wie sollen Kinder sich gegen ein System auflehnen, das sie selbst als eigentlich recht zufriedenstellend erleben? Sie wiederholen im Verstand ja nur das, was man ihnen so sagt: ›Was wollt ihr denn? Es ist doch alles ganz gut so! Oder etwa nicht? – Ja doch! prima! – Also, Leute, was wollt ihr?!‹ Sehen Sie, Herr Fuchs, das ist unsere Krux: Viele glauben an so eine verrückte Ideologie: das spaßige Leben, das sie geschenkt kriegen von anderen, die es ihnen schön machen! – Aber unser Organismus, ich meine, unser beseelter Leib, der weiß das besser! Der innere Mensch weiß, er wird nach Strich und Faden betrogen! Die Leute erkennen: Alle Welt verlässt sich heute eher auf die ›Meinung‹, auf Versicherungsverträge, auf Rechtsnormen, auf alles Institutionelle eher, als auf die eigenen Empfindungen. Das ist schon pathologisch!«
»Und das betrifft jeden Dritten?«, frage ich.
»Na ja, so ungefähr«, sagt er. »Man soll das Zahlenspiel nicht übertreiben, aber es ist schon schlimm, wirklich. – Wir werden also Ihren Bruder in Obhut behalten. Und, bitte, Herr Fuchs, lassen Sie mich Genaueres wissen, sobald Sie etwas erfahren! Ich nehme doch an, Sie vertragen sich gut mit Ihrem Bruder?«
»Ja«, bestätige ich gern, »wir verstehen uns! – Wird es wohl möglich sein, dass ich auch außerhalb der Besuchszeit zu ihm kann?«
»Das lässt sich einrichten, Herr Fuchs. Die Schwester gibt Herrn Trebel Bescheid, dem Mann unten an der Pforte. Dann wird niemand Sie aufhalten«, meint er lächelnd. »Und, wie gesagt, tun Sie mir den Gefallen«, sagt er etwas lauter, »und informieren Sie mich, wenn Ihr Bruder etwas Genaueres mitteilt. – Das wird die Therapie abkürzen, Sie verstehen.«
Er erhebt sich vom Sessel und führt mich zur Türe. »Vor dem Abendessen seh ich mir den Patienten noch einmal an. Es wird ihm dann hoffentlich schon viel besser gehen.«
Ich bin beruhigt. »Gut, Herr Doktor. Wenn Sie vielleicht meine Mutter sprechen wollen, sage ich es ihr. Sicher kann sie Ihnen Vieles sagen, was Sie wissen sollten.«
»Ja, gut, dass Sie mich daran erinnern!«, sagt er. »Ist Ihre Frau Mutter jetzt im Haus?«
»Ja, ich kann sie eben holen«, sage ich und gehe zur Tür.
»Bitte tun Sie das, Herr Fuchs«, sagt er und lässt die Tür offen.
Als ich wieder zu Kurt ins Zimmer trete, sage ich leise zu Mutter: »Du möchtest bitte zum Doktor kommen.«
Mutter springt gleich vom Stuhl auf, ich begleite sie über den Korridor und sage ihr: »Dr. Burger ist sehr nett. Sag ihm alles, was er wissen muss. Er nimmt das sehr genau mit unserem Kurt. Du brauchst überhaupt nicht unruhig zu sein.«
»Danke, Peter«, sagt sie mit leiser, zitternder Stimme.
Ich weiß, sie ist furchtbar aufgeregt, obwohl sie sich das nicht anmerken lassen mag. Der Arzt nimmt sie lächelnd in Empfang: »Frau Fuchs, gut, dass Sie da sind! Treten Sie ein.«