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Reisen durch Europa I: London und der ‚mappe‘-Plan
ОглавлениеBald nach Mitte April 1888 brach Stefan George zu seiner ersten längeren Reise auf, die ihn nach London führte. Er blieb dort bis Anfang Oktober. Der äußerliche Zweck bestand darin, die Zeit bis zur Aufnahme eines Studiums für die Optimierung seiner Fremdsprachenkenntnisse zu nutzen. Das Englische beherrschte George deutlich weniger gut als das Französische. Hinzu kam indes der massive Drang, der erstickenden Atmosphäre in Deutschland zu entrinnen. Aus dem Jahr 1911 überliefert der spätere Romanist Ernst Robert Curtius Georges Worte: „In Deutschland wars damals nicht auszuhalten; denken Sie an Nietzsche! Ich hätte eine Bombe geworfen, wenn man mich hier festgehalten hätte; oder ich wäre wie Nietzsche zugrundegegangen.“6
George stieg in einer Privatpension im nördlichen Stadtteil Stoke ab und fand warme Aufnahme bei seiner landlady Caroline Mess, die ihm zum zwanzigsten Geburtstag eine Dickens-Ausgabe schenkte. Noch nach seiner Rückkehr schickte sie ihm einen Gruß nach Bingen, in dem es hieß: „we have never had a more quiet and in every respect more gentlemanly behaved boarder than you.“ (RB II, 273) George absolvierte in London das übliche Besichtigungsprogramm. Im Mai schrieb er an Stahl: „Ich habe all die hauptsachen Westminster Abbey St Pauls Cathedral National gallery gesehen und bewundert. […] Alles eminent grossartig superbe magnifique.“7 Was die Menschen angeht, richtete sich seine Aufmerksamkeit vor allem auf das weibliche Geschlecht. Der Brief geht weiter: „Kürzlich war ich auch im Hydepark. Ui was ladies zu fuss zu wagen zu ross. Von jetzt ab lass ich auf die englischen ladies nichts mehr kommen. Übrigens werden sie mir hier in der Familie, wo ich bin, dutzendweise vorgestellt.“ Zum Exempel erwähnt George im selben Brief drei „ladies im alter von 13 – 16 circa“, von denen eine namens Mabel ihm durch ihr „Desdemonagesicht“ auffällt. Die Briefpassage mündet in einem halb verschwörerischen, halb verheißungsvollen Ton: „vielleicht hörst du später noch etwas von ihr psssssst. –“ Im August rapportiert ein Brief an Stahl weitere weibliche Bekanntschaften, die George in seiner Unterkunft vermittelt wurden. Er hebt neben einer ‚strammen‘ Holländerin und einer Irin mit italienischem Vater ganz besonders eine ‚kohlenpechschwarze‘ und keineswegs hässliche indische Prinzessin hervor und kommt zu dem summarischen Befund: „ich habe hier wahrlich eine ausgezeichnete gelegenheit, nicht nur Engländerinnen sondern frauen überhaupt kennen zu lernen.“8 Im selben Brief berichtete George enthusiastisch über den Besuch einer französischsprachigen Aufführung des Theaterstücks Die Kameliendame von Alexandre Dumas d. J., in dem die damals angesagteste Schauspielerin, Sarah Bernhardt, ihre Glanzrolle spielte. Er kommentierte: „Ich sage nur eins: ‚grossartig riesig‘. Man ist fast noch mehr entzückt von ihrer unaussprechlich melodischen stimme, als von den mimischen gewandtheiten und der leidenschaft ihres spiels. Ich war auch ganz entzückt.“ Auch einen Ausflug nach Brighton, „eines der fashionabelsten seebäder in England“, unternahm George. Zu seiner Lektüre gehörten Romane von Edward Bulwer-Lytton, dessen Pelham ihm „ein ausgezeichnetes bild der englischen gesellschaft und besonders des high-life“9 lieferte.
Der Aufenthalt in London hatte für die persönliche Entwicklung Georges und seiner literarischen Pläne eine eminente Bedeutung. Als Arthur Stahl, der am 1. April gleich seinen Militärdienst angetreten hatte, ihm Ende April schrieb, dass er erwarte, „dass Dein kosmopolitischer, drängender und stürmischer Geist in der Fremde etwas gezügelt wird“,10 handelt er sich Georges entschiedenen Widerspruch ein: „Wenn Du meinst dass ich hier meinen Kosmopolitismus ablege bist Du irr Du triffst den Nagel auf die Spitze. Grade dadurch dass ich in dem (persönlicher Freiheit unendlich mehr gestattendem) lande bin, werde ich ein vollständiger Kosmopolit und dass ich nicht daran bin, nach der andren Seite umzukippen, und Engländer zu werden, daran hindert mich die ueberzeugung, dass auch bei uns viele einrichtungen besser sind, dass es in anderen landen noch bessere gibt, die ich alle mit eignen augen zu besehen und zu beurteilen gedenke.“11 Als Stahl Georges Schilderungen des weltmännischen Lebens in London mit detaillierten Auskünften über seinen Militärdienst beantwortet, nennt George diesen militärischen Tagesablauf „narrenpossen“ und fährt ironisch fort: „Du musst übrigens wissen, dass ich in England immer kosmopolitischer werde und ich bitte Dich daher meine briefe mit allenfalsigen anstössigen bemerkungen gut zu verbergen, auf dass nicht eine preussische schnüffelnase durch Deine commode oder schrank hindurch lunte riecht.“12 Die Debatte um Pro und Contra des Militärdienstes setzte sich zwischen George und Stahl noch bis in das Jahr 1889 fort, als George bereits in die Schweiz gereist ist. Stahl, der inzwischen auch einer Burschenschaft beigetreten ist, verteidigt das Militär als ‚Schule des Lebens‘ und vertritt die Ansicht, es verleihe dem Menschen größere Festigkeit, während der Reisende doch immer ein Fremder bleibe und sich seiner Umgebung anpasse. George hält dagegen: „Um die praktischen sachen zu erlernen um in verschiedenen lebenslagen sich schlagfertig und gewachsen zu zeigen braucht man nicht zum militär zu gehen. Das will ich Dir einfach sagen gehe auf reisen wie ich gehe nach England nach Frankreich und nach der Schweiz etc. und ich garantiere Dir, dass Du da in allen lebensumständen gewitzigt wirst.“13 George holt in diesem Brief sogar zu einer weit ausgreifenden kulturhistorischen Argumentation aus, um die Vorteile einer ethnischen Durchmischung für die Entwicklung der geistigen Freiheit und Souveränität eines Volkes zu erläutern. Gerade die Rheinhessen gelten ihm als einschlägiges Exempel für diese Beobachtung. „Der Rhein war stets eine große verkehrsstrasse und die großen landrouten führten durch unser land. Bei allen invasionen haben die rheinhessen ferner am meisten nicht nur zu leiden gehabt sondern auch profitiert und magst Du sagen was Du willst ich werde Dir haarklein beweisen, dass die französische herrschaft (so kurz sie auch gedauert hat) kein unwichtiges moment in der ausbildung unseres volksgeistes war. Berührung mit anderen völkern anderen sitten anderer weisheit (das ist das pferd auf dem ich so gerne trabe) ist das beste mittel zur ausrottung aller steifheit aller verblendung alles stumpfsinns aller knechtschaft kurz aller schlimmen ungeschicke der völker..“14
Diesem Zuwachs an Internationalität verdankt auch ein Projekt seine Existenz, das unter der Bezeichnung ‚mappe-plan‘ einen neuen Schritt auf dem Wege zu den Blättern für die Kunst darstellt. Nachdem George knapp fünf Monate in London verbracht hatte, kehrte er für einen Monat nach Bingen zurück, um bereits Ende Oktober wieder aufzubrechen. Zu einem neuerlichen ‚Dichter-Congress‘, den George in einem Brief an Stahl für Herbst in Aussicht gestellt hatte, kam es offenbar nicht. Diesmal führte ihn seine Reise ins schweizerische Montreux. Von dort schrieb er am 1. Dezember an Stahl: „Kommen wir rasch zu dem punktum importantum zu dem ‚mappe-plan‘. Was denkst du davon und glaubst dass in der form in der ich ihn Rouge mitgeteilt habe, er auszuführen ist? […] Ich könnte vielleicht auch hier einige französische poeten anwerben, ich will mir wenigstens alle mühe geben. Auch meinen freund in England [Thomas Wellsted] will ich um beiträge bitten so dass unsere mappe sozusagen die erste ‚Internationale‘ einrichtung dieser art würde.“ (RB II, 29) Gegenüber der durchgängigen Kleinschreibung in diesem Brief sticht das großgeschriebene und in Anführungszeichen gesetzte Wort ‚Internationale‘ ab. Es dürfte sich dabei um eine bewusste Anspielung auf den Namen der 1864 in London gegründeten ersten sozialistischen Internationale handeln. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Georges Vorstellung einer übernationalen, europäischen Vereinigung von Dichtern gleicher oder verwandter Kunstanschauungen in London durch die damals fortschrittlichen Organisationsformen der Arbeiterbewegung angeregt wurde. In einem Brief aus London an Stahl klagt George über den „trocknenden sturm unserer zeit, in der lüge und narrheit um die oberherrschaft ringen.“15 In dem bereits zitierten Brief an denselben Adressaten vom Januar 1889 gewinnt seine Zeitkritik sogar einen explizit gesellschaftspolitischen Charakter. George war dort in Berührung mit adligen Kreisen geraten und hatte sich aktiv an einer Liebhaberinszenierung von Molières Der Menschenfeind beteiligt. Er schreibt Stahl amüsiert: „Wir führen Molières ‚Misanthrope‘ auf und mir ist die titelrolle zugefallen. Ich wünsche Du würdest mich hören französisch parlierend, im Costüm Louis XIV […]. Kannst du dir etwas gegensätzlicheres vorstellen, als dass ich, der Socialist Communard, Atheist mit einem deutschen Herrn Baron, im hause eines professors der theologie, umringt von einer ganzen kette von Highlifedamen Komödie spiele?“16
Die so bereichernde ‚Berührung mit anderen völkern‘ wollte George auf der Ebene der Kunst mit seiner internationalen ‚Mappe‘ realisieren. Sie sollte zeitgenössische deutsche, englische und französische Dichtungen in den Originalsprachen enthalten. Offensichtlich fanden sich aber zunächst keine Beiträger für die damals kühne Konzeption. Das Projekt kam über die Planungsphase nicht hinaus. Ein Faktor für das Scheitern des Projekts war auch die immer unübersehbarer werdende Kluft zwischen George und seinen einstigen Mitstreitern in Bezug auf ästhetische Fragen und das literarische Selbstverständnis. Arthur Stahl hatte George bereits um die Jahreswende 1888/89 in mehreren Briefen gestanden, seine lyrische Produktion sei „beinahe ganz eingefroren“.17 Carl Rouge war hingegen umso produktiver. Er wechselte mit George seit dessen Aufbruch nach London meist beiderseits neunseitige Briefe – bedingt durch die Faltung des von beiden verwendeten Briefpapiers und den oft sich über Tage oder Wochen erstreckenden Schreibzeitraum –, in denen er sowohl als Kritiker von Georges Dichtungen als auch als Kommentator eigener literarischer Projekte agierte. Gleich zu Beginn dieses umfangreichen Briefwechsels breitet er vor George seine literarischen Pläne für die kommenden zwanzig Jahre aus und schließt mit dem nicht ganz unbescheidenen Ausblick: „Wenn wir beide einst unseren Briefwechsel herausgeben, wird er ohne Zweifel interessanter sein, als der Schillers und Goethes, meinst du nicht?“18 Rouge sah sich eher als Dramatiker denn als Lyriker und motivierte George mehrfach, seine dramatischen Versuche fortzusetzen. Aus seinem Brief vom Juni 1888 weiß man, dass George an einem Stück mit dem Titel Die Massageten arbeitete, über das er Rouge offenbar schon vor seiner Abreise nach London erzählt hatte. Georges Beschäftigung mit dem Drama reicht in seine Schulzeit zurück. Im Gegensatz zu dem Stück Die Massageten, von dem sich wohl keine ausgearbeiteten Teile erhalten haben,19 existieren Szenen von den drei Dramenansätzen Manuel, Phraortes und Graf Bothwell. Während George selbst einzelne Szenen aus zwei Werkstufen des Manuel in die Blätter für die Kunst aufnahm, erschienen die Fragmente der beiden anderen erst aus dem Nachlass.20 Beide handeln von Königinnen, die sich in politischen Drucksituationen klug, stolz, diszipliniert und – im Falle der Maria in Graf Bothwell – tapfer im Schmerz zeigen. Vom Milieu her erinnern beide Stücke deutlich an Schiller, dessen Maria Stuart der Name Bothwell entnommen ist. Der Stoff des Phraortes stammt aus dem ersten Buch von Herodots Historien. Auch die im Mittelpunkt stehenden Themen wie die Spannung zwischen Pflicht und Neigung oder die Standfestigkeit in einer intriganten Umgebung passen zu Schiller.
In seiner Zeit als Gymnasiast in Darmstadt war George ein regelmäßiger Besucher des Großherzoglichen Hoftheaters. Es bot das klassische Repertoire, zu dem auch Shakespeare und Wagner-Opern gehörten. In der Spielzeit 1886/87 konnte George dort mit der Aufführung von Henrik Ibsens Die Stützen der Gesellschaft aber auch ein Stück eines zeitgenössischen Autors sehen, der den aktuellen, kritischen Zeitgeist repräsentierte. Der Dichter Karl Wolfskehl, seit 1892 ein enger Freund Georges, der gleichzeitig mit ihm das Ludwig-Georgs-Gymnasium besucht hatte, prägte im Rückblick auf diese Jahre sogar den Begriff einer ‚Ibsen-Jugend‘. Die Verpflichtung auf die Wahrheit und das Streben nach sittlicher Idealbildung, in deren Zentrum eine geradezu obsessive Entlarvung von Lüge und Phrasenhaftigkeit gestanden habe, seien deren oberstes Gebot gewesen. Wolfskehl erinnert sich daran, dass sie „die Selbstbeobachtung, Selbstschau, Selbstprüfung […] ins Äußerste getrieben“21 und „das Bewahren des seelisch Ursprünglichen, Unbeeinflußten, Starken“ als Ziel angesehen hätten. George begeisterte sich an Ibsens Stücken und eignete sich sogar in kürzester Zeit so viel Kenntnis des Dänischen an, dass er vier seiner Werke ganz oder teilweise übersetzte. Die Auswahl der beiden vollständig übersetzten Stücke Catilina und Nordische Heerfahrt legt mit den Themen des Umsturzes in einer moralisch verkommenen Gesellschaft und der Besinnung auf das Dichteramt nach schweren persönlichen Verlusten nahe, dass Georges Motive „auch identifikatorischer Natur“22 gewesen sind.
Den wichtigsten Stellenwert unter Georges frühen dramatischen Versuchen nimmt sein Stück Manuel ein, über das er sich mit seinen dichterischen Mitstreitern Rouge und Stahl mehrmals austauschte. Eine erste Fassung von 1886 hatte George in London wieder vorgenommen, ohne dass die Überarbeitung ihn völlig befriedigen konnte. An Stahl schrieb er über seine Selbstzweifel in Bezug auf die nächsten literarischen Pläne, wobei er zwischen einer Abkehr von der Lyrik und einer Abkehr von der Dramatik schwankte: „Lache mich nur aus; aber ich weiss wirklich selbst nicht, was ich von mir halten soll. Ob ich Drama schreiben soll? Ob nicht – ich mache dann auch in meinem ganzen leben keine Lyrik mehr – Mein ‚Manuel‘, den ich fertig vor mir sehe, der vor seiner vollendung mich so sehr ermutigte, giebt jetzt mir durchaus keine ermutigung mehr, ich weiss selbst nicht warum. – Ich glaube ich habe Dir schon geschrieben, dass ich grosse erwartungen auf jene arbeit setzte und dass alles so zurückblieb resp. so anders wurde; nicht anders wie ich es gewollt, sondern anders wie ich es gehofft; das ist allerdings eine etwas unklare ausdrucksweise, aber klarer kann ich es eben zu papier nicht bringen. […] Mir aber ist nichts klar. Ich weiss nicht ob ich nach ‚Manuel‘ überhaupt wieder ein Drama beginnen soll; obgleich der stoff vorliegt und wider meinen willen allmählich klarere formen annimmt. Doch genug von dieser beichte.“23 Die in diesem Brief geäußerte Hoffnung, auf der bevorstehenden Reise nach Montreux „mein zweites Drama zu fixieren oder niederzuschreiben“, erfüllte sich indes nicht. Anfang Januar teilte George Stahl mit: „Also ich gebäre oder suche zu gebären. Doch die Sache geht nicht vonstatten; die Luft hier ist lyrisch, episch vielleicht, doch wenig dramatisch.“24