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Berlin, Sonntag, 02.10.2011

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Bruno Hallstein sitzt recht verspannt auf seiner roten Ledercouch und versucht die Hingabe der dunkeläugigen Schönheit zu ignorieren. Er ist den Umgang mit dem weiblichen Geschlecht einfach nicht gewöhnt, genauer gesagt, nicht mehr. Die hier ist auch noch von der Sorte Hemmungslos und gibt sich voll und ganz ihren Gefühlen hin. Im Gegensatz zu Bruno hat sie es sich sehr gemütlich gemacht, liegt mehr als dass sie sitzt. Die leise Musik scheint sie noch zu beflügeln, denn sie legt jetzt ihren Kopf auf seinen Schoß und seufzt dabei filmreif. Bruno wagt nicht sich zu bewegen, einerseits ist ihm die Situation unangenehm, andererseits will er die Situation nicht ungenutzt lassen, schließlich ist er der Mann, ist hier zu Hause und außerdem sieht doch keiner zu. Er greift ganz vorsichtig nach seinem Glas. Sofort erhebt sie den Kopf und schaut ihn dermaßen verliebt an, dass er den Wein mit einem großen Schluck auf einmal austrinkt. Dann, nach kurzem Zögern, fährt seine rechte Hand über ihren Hals und greift ihr in das wellige, kastanienbraune Haar. Sofort spürt er wieder den leichten Druck ihres Kopfes auf seinen Oberschenkeln. Seine Finger spielen in ihrem Haar, und er spürt, wie sie es genießt.

Du bist mir vielleicht ein Luder. Was machst du eigentlich, wenn ich das alles Harry erzähle? Der ahnt von nichts, geht davon aus, dass du ihm treu bist. Aber so sind die Weiber. Sei's drum. Ich kann ja doch nicht widerstehen.

Brunos Hand wandert zärtlich streichelnd über ihren schlanken Körper nach unten, landet schließlich auf ihrem wunderschön geformten Po. Das allerdings scheint ihr nicht zu gefallen, geht ihr wohl zu weit. Sie erhebt sich abrupt und schaut plötzlich in Richtung Tür, so als würde dort jeden Augenblick jemand eintreten.

"Was ist Lucie? Plötzlich Gewissensbisse? Harry ist in München, den kannst du vergessen."

Lucie scheint ihn nicht zu hören, ist von der Couch runter und steht schon unmittelbar vor der Wohnzimmertür. Dann wendet sie ihren Kopf und schaut Bruno aus ihren wunderschönen Augen an.

"Ach so, du willst raus! Drückt die Blase? Na dann los, tut mir auch gut."

Lucie dreht eine Runde um ihre eigene Achse und wedelt nicht nur mit dem Schwanz, nein, das ganze Hinterteil schwingt in freudiger Erregung. Bruno öffnet die Tür zum Flur und kaum ist die ein Spalt weit offen, zwängt sich Lucie hindurch und rotiert aufgeregt vor der Garderobe. Dort hängt ihr Brustgeschirr samt Leine, und obwohl sie es natürlich genau weiß, dass es ohne nicht los geht, tollt sie vor Freude so ausgiebig herum, dass Bruno Minuten braucht, um die Irish-Red-Setter-Dame zu bändigen und ausgehfertig zu machen. Dabei unterstützt sie die Prozedur mit einer Mischung aus Jaulen, Hecheln und Lachen. Jawohl, Lucie kann lachen, hat jedenfalls Harry schon oft genug erzählt. Bruno zieht sich seine graue Jacke über und greift nach der blauen Schirmmütze mit dem aufgestickten Tiroler Adler. Die hat er sich aus dem letzten Urlaub mitgebracht, weil er es ausgesprochen praktisch fand, dass der Tiroler Adler vom Brandenburger Adler auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden ist, jedenfalls für Laien. Beide sind rot und haben goldene Flügelspangen mit Kleeblattenden. Außerdem schauen beide in die gleiche Richtung. Allerdings trägt der Tiroler Kumpel eine goldene Krone und einen grünen Kranz um das Haupt, Lorbeer oder so. Weil nun die mehr oder weniger berühmte Ur-Tirolerin, Margarete Maultasch, Mitte des 14. Jahrhunderts einen Brandenburger Markgrafen geheiratet hat, liegt natürlich der Verdacht nahe, dass…, aber hier haben gewissenhafte Historiker nachgewiesen, dass der Tiroler Adler auch schon weit vorher in der Landesgeschichte auftaucht. Ihm, Bruno, ist es egal. Entscheidend für ihn ist, dass er die Mütze sowohl in Brandenburg, wie auch in Tirol aufsetzen kann. Außerdem findet er, die Mütze kleidet ihn und das will etwas heißen. Normalerweise ist er mit seinem Spiegelbild ja nie zufrieden, zu dick, zu hässlich, zu alt, was es halt so an negativen Attributen gibt.

Bruno zieht den Wohnungsschlüssel ab, der immer von innen im Türschloss steckt und verstaut ihn in der Hosentasche. Alle wichtigen Dinge, wie Portmonee, Schlüssel, Handy steckt er immer in die Hosentasche, weil er meint, dass er einen Diebstahlsversuch besser bemerken würde. Andererseits sehen vollgestopfte Hosentaschen mitunter sehr fragwürdig aus. Aber jetzt hat er ja eine Jacke drüber, und außerdem will er ja nur ein wenig mit dem Hund spazieren gehen. Er zieht die Wohnungstür hinter sich zu und steigt dann die zwei Stockwerke zu Fuß hinunter. Lucie schleift die Leine hinter sich her und befindet sich immer eine halbe Etage im Voraus. Sie bleibt aber auf jedem Treppenabsatz stehen und schaut wo er bleibt. Im Parterre angekommen, öffnet sich prompt die Tür der ehemaligen Portierswohnung. Frau Krause.

"So geht das aber nicht, Herr Hallstein. Der Hund gehört an die Leine. Wenn der mich beißt, werde ich Sie verklagen, da können Sie Gift drauf nehmen. Mein Sohn ist Rechtsanwalt."

"Ist ja schon gut, Frau Krause, der Hund beißt ja nicht, nicht mal Sie. Der weiß gar nicht wie das geht. Ist doch eine Dame, wie Sie. Sie können sie ruhig streicheln, dann haben Sie eine neue Freundin."

"So weit kommt es noch. Ich habe 'ne Tierhaarallergie und außerdem sind Haustiere gar nicht erlaubt. Ich werde mich bei der Hausverwaltung beschweren. Der kackt doch überall hin."

Das heitere Zwitschern eines Wellensittichs dringt aus der Wohnung von Frau Krause, und Bruno setzt sein nettestes Lächeln auf.

"Wie war das noch mit den Haustieren oder ist das Ihr Sohn, der da zwitschert?"

"Das geht Sie gar nichts an!"

Wumm! Die war zu! Bruno bleibt gelassen. An anderen Tagen hat er sich schon schwarz geärgert über diese Nachbarin, die bei ihm den Arbeitstitel "Blöde Ziege" trägt, aber heute, mit Lucie an seiner Seite, macht ihm die zickige Frau Krause nichts aus. Er kann sich nicht erinnern, sie jemals lachen gesehen zu haben oder mal ein nettes Wort sagen, vielleicht 'Guten Morgen Herr Hallstein, wie geht's denn Ihrem Hund?'

Außerdem hast du garantiert gar keinen Sohn! Welcher Mann würde sich das mit dir antun?

Bevor Bruno die Haustür öffnet, angelt er nach der Leine. Zumindest auf dem Weg bis zur Seepromenade kann er Lucie nicht frei laufen lassen. Auf der Straße empfängt beide eine fast sommerliche Wärme, obwohl es Oktober ist und die Dämmerung schon eingesetzt hat. Bruno bedauert, dass er die warme Jacke gewählt hat. In seiner Wohnung hat er nicht viel von dem herrlichen Altweibersommertag bemerkt. Seitdem der Altbau komplett saniert wurde, ist es an heißen Tagen drinnen angenehm kühl, und im Winter braucht er keine dicken Pullover mehr, um es auf der Couch auszuhalten. Und wie lange hat das gedauert, bis endlich alle Wohnungseigentümer mit der Investition einverstanden waren. Bruno hat damals seine ganze Ingenieurskompetenz einbringen müssen, hat Berechnungen angestellt, anhand derer man sehen konnte, nach welcher Zeit die Kosten durch Einsparungen wieder kompensiert werden. Dabei wusste er natürlich ganz genau, wie fragwürdig solche sogenannten Wirtschaftlichkeitsrechnungen sind. Die anderen Wohnungseigentümer waren aber beeindruckt und nur dadurch ist es zu einer positiven Entscheidung gekommen. Jetzt sind alle froh und bis auf Frau Krause, die allerdings auch nur zur Miete wohnt, sind alle anderen Hausbewohner ausgesprochen freundlich, wenn sie Bruno über den Weg laufen.

Sie erreichen die Berliner Straße, den Tegeler Boulevard. Die Straße ist für die Uhrzeit noch recht belebt, obwohl die Geschäfte geschlossen sind. An der Ecke Alt-Tegel wechselt er die Straßenseite, um dann Richtung Seepromenade zu schlendern. Scheinbar ist soeben eine U-Bahn in die Endstation eingefahren, jedenfalls strömen plötzlich viele Menschen aus den Zugängen zur Linie 6. Wie oft ist er früher hiermit gefahren? Zur Oma, zur Freundin, zum Studium und später zur Arbeit. Bevor die U-Bahn Ende der 1950er Jahre nach Tegel kam, fuhr hier die Straßenbahn. Bruno kann sich noch erinnern, wie sie quietschend um die Ecke kam, um dann hier zu halten, ziemlich genau da, wo er jetzt gerade mit Lucie steht, Linie 41. Das große Textilkaufhaus gab es damals noch nicht. Irgendwann nach dem Mauerbau setzte das große Straßenbahnsterben ein. Mit aller Macht wurde der Verkehr auf die Buslinien und zunehmend auf die U-Bahn verlagert. Außerdem riefen Politiker, Medien und nicht zuletzt die Gewerkschaften die Westberliner Bevölkerung nach dem 13. August 1961 zum S-Bahn-Boykott auf. Schließlich war der Betreiber der S-Bahn die Deutsche Reichsbahn, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein DDR-Unternehmen war. Offizieller Hauptgrund, man wollte der DDR keine Devisen mehr zukommen lassen, denn auf den Westberliner Bahnhöfen musste der Fahrpreis in harter Westwährung bezahlt werden. Die Folge, man sah seit dem nur noch fast leere Geisterzüge durch die Stadt fahren, obwohl die S-Bahn aufgrund ihres Schienennetzes und der günstigen Fahrpreise das bis dahin am häufigsten benutzte öffentliche Verkehrsmittel der Berliner war. Die wenigen Fahrgäste, die weiterhin die S-Bahn benutzten, weil sie nicht anders konnten oder wollten, wurden nicht selten übel beschimpft.

Um die fehlende Beförderungskapazität einigermaßen zu kompensieren, wurden neue Buslinien installiert und fehlende Busse wurden von westdeutschen Verkehrsbetrieben solidarisch zur Verfügung gestellt. Überhaupt Solidarität, ein großes Wort damals, aber Bruno verstand es nicht. Überhaupt verstand er damals so vieles nicht, aber er war ja auch erst dreizehn, als das alles passierte und es ist inzwischen fünfzig Jahre her.

Manchmal ertappt er seine Erinnerungen auch dabei, dass sie ihm etwas vormachen, dass sie verfälschen, oft geschönte Geschichten ins Gedächtnis rufen. Sei es drum, heute fahren wieder alle Berliner mit der S-Bahn, wenn sie denn fährt und nicht durch technische Probleme ausfällt. Und es sind sogar auch im Westteil der Stadt wieder Straßenbahnlinien reaktiviert worden. Bruno empfindet es als Attraktion, mit der Tram mitten durch die Stadt zu fahren, nur bedauert er, dass es keine Schaffner mehr gibt. Wie schön war doch der Klingellaut, wenn der Schaffner an diesem Lederriemen zog und dem Fahrer signalisierte: Fahr los.

Bruno will die Treskowstraße passieren, aber Lucie hindert ihn mit aller Kraft daran weiterzugehen, zu verlockend sind die Gerüche, die ein Kiosk an der Ecke verbreitet. Mehrere Menschen stehen an weißen Bistrotischen und verzehren Bratwurst oder Currywurst oder Pommes Frites oder alles zusammen. Drei ältere Männer trinken Bier aus der Flasche und reden, na über was wohl, natürlich Fußball. Bruno hat mitbekommen, dass Hertha gestern 3:0 gegen Köln gewonnen hat, aber scheinbar ist das den Männern zu wenig, jedenfalls lässt die Stimmung nicht auf viel Freude schließen.

Vielleicht haben sie einfach schon zu viel Bier im Kopf. Jetzt können wir auch noch einen kleinen Abstecher über die Brunowstraße machen.

"Ist ja gut, Lucie, wir gehen hier lang. Da zeige ich dir mal, wo ich zur Schule gegangen bin. Franz-Marc-Grundschule, sagt dir wohl nichts, wie? Hast du schon mal ein blaues Pferd gesehen?"

Bruno zieht etwas energischer an der Leine, und Lucie reißt sich widerwillig von den kulinarischen Gerüchen los. Gegenüber dem roten Klinkerbau von Brunos alter Schule sticht die Schulstraße auf die Treskowstraße aber Bruno geht weiter bis zur nächsten Querstraße.

"Als Junge habe ich immer damit angegeben, dass diese Straße nach mir benannt ist. Hat mir natürlich keiner geglaubt, aber dass diese Straße und der nachfolgende Platz zwar Bruno gesprochen werden aber eben Brunow, mit W am Ende geschrieben, das hat keiner gemerkt. Kannst du mal sehen, Lucie, so dumm sind Menschen."

Am Brunowplatz angekommen wechseln sie wieder die Straßenseite und laufen über den Medebacher Weg zurück Richtung Alt-Tegel. An der Ecke biegen sie links ab und steuern nun direkt auf den alten Dorfanger mit der evangelischen Kirche zu.

"Siehst du Lucie, hier bin ich getauft und konfirmiert worden. Besonders die Konfirmation war damals ganz wichtig in meinem Leben. Da gab es die große Feier und es gab Geldgeschenke. Das erste Mal in meinem Leben besaß ich mehr als zweihundert Mark. Und ich war mit deinem Herrchen zusammen im Konfirmationsunterricht, wusstest du das Lucie?"

Lucie läuft jetzt wie von allein. Sie hat erkannt, dass ihr Zuhause nicht mehr weit entfernt ist. Sie kreuzen den Eisenhammerweg und die Wilkestraße.

"Nein Lucie, wir wollen nicht zu Harry, der ist gar nicht da. Komm jetzt. Gleich kann ich dich von der Leine lassen, auch wenn es verboten ist aber um diese Zeit..."

Die Hündin ist zwar etwas verwirrt, weil es nicht in Richtung Heimat geht, aber sie folgt doch willig, und dann haben sie die Greenwich-Promenade erreicht. Vor ihnen liegen einige Fahrgastschiffe, fest vertäut an ihren Anlegern. Sicher haben sie heute bei dem herrlichen Sommerwetter nochmal einen Riesenansturm zu bewältigen gehabt. Die Sonne ist jetzt ganz verschwunden und der See liegt dunkel vor ihnen. Bruno glaubt auf dem Wasser ein Ruderboot zu erkennen.

Vielleicht ein Angler? Hätte ich auch mal wieder Lust zu, aber alleine? Wenn Harry wieder da ist, muss ich ihn mal fragen…, wo habe ich überhaupt mein ganzes Angelzeug?

Bruno hat Lucie inzwischen die Freiheit geschenkt. Sie bleibt aber immer in seiner Nähe, schnüffelt mal hier, mal da und schaut alle paar Sekunden in seine Richtung. Er weiß, dass sie im Dunkeln Schiss hat aber irgendwie reizt es eben doch, die ganzen Bäume und Büsche einem Riechtest zu unterziehen. Außerdem hat sie einen Beschützer dabei.

"Komm Lucie, wir gehen noch eben über die Sechserbrücke und dann langsam zurück nach Hause."

Sie gehen weiter an der Promenade entlang, und sind scheinbar die Einzigen, die hier noch unterwegs sind. Die Laternen spenden ihr spärliches Licht, aber Bruno kennt sich aus, und nachdem sie den Minigolfplatz links liegen lassen, steigen sie die Stufen der Tegeler Hafenbrücke, die von allen aber nur Sechserbrücke genannt wird, empor.

Im Heimatkundeunterricht hat Bruno gelernt, dass früher jeder, der die Brücke überqueren wollte, einen Brückenzoll von 5 Pfennigen zu entrichten hatte, und zum Fünfpfennigstück sagten alle Sechser. Warum, hat er erst viel später verstanden. Vor der Reichsgründung gab es auch echte Sechser, die den Wert von sechs Pfennigen hatten oder einem halben Groschen. Damals beherrschte aber auch noch der Taler die Währung. Erst mit der Einführung der Reichsmark wurde auch das Dezimalsystem eingeführt, wonach eine Mark 100 Pfennige hatte und der Groschen demnach 10 Pfennige wert war, und darunter gab es das Fünfpfennigstück. Na gut, dachten sich die Berliner, dann ist das eben unser Sechser.

Der stählerne Fachwerkbogen der Brücke überspannt das Tegeler Hafenbecken und endet in zwei mächtigen Pfeilern, die nach unten den festen Stand der Brücke garantieren, und nach oben in zwei überdachte Plattformen enden, von denen man eine beeindruckende Aussicht über den See genießen kann. Bruno kann es sich nicht verkneifen, wie immer wenn er die Brücke überquert, die Ausbuchtung der gemauerten Aussichtsplattformen zu betreten. Schon als Kind hat er sich hier immer versteckt, um seine Eltern zu erschrecken, wenn sie vorbei liefen. Natürlich waren die völlig überrascht, weil sie ihren Sohn gar nicht vermisst hatten. Leider ist nur noch der zur offenen Seeseite gerichtete Pfeiler für die Öffentlichkeit zugänglich. Sein Bruder auf der gegenüberliegenden Seite ist durch eine Stahlgittertür verschlossen. Dahinter führt eine Wendeltreppe innerhalb des Pfeilers nach unten. Bruno kann sich nicht erinnern, ob dieser Zugang schon immer verschlossen war. Er steht immer noch und schaut über die dunkle Wasserfläche, und auch wenn es jetzt zu dunkel ist, weiß er, dass ganz hinten das Strandbad Tegel zu sehen wäre. Wie viele Tage hat er dort mit seinen Freunden verbracht? Wie viele Stunden saßen sie auf den schwimmenden Holzkreuzen und versuchten sich gegenseitig ins Wasser zu befördern. Wer zuletzt noch oben sitzen blieb war der Held des Augenblicks, besonders wenn auch Mädchen dabei waren. Bruno verliert sich in Erinnerungen und wird erst durch einen energischen Nasenstüber in die Kniekehle wieder in die Gegenwart zurückgerufen.

"Ja, ist ja gut Lucie, ich komme."

Bruno betritt wieder die Holzplanken der Brücke. Plötzlich dann das Geräusch, das ihn herumfahren lässt, weil es hier nicht hergehört. Für den Bruchteil einer Sekunde schaut er in das Gesicht eines Mannes, dann schlägt er auch schon hart auf dem Boden auf. Der andere hat ihn brutal umgestoßen und hastet jetzt mit schnellen Schritten in die Richtung, aus der Bruno und Lucie gekommen sind. Bruno sieht den fliehenden Mann im Schein der abendlichen Beleuchtung kleiner werden, bis er die abwärts führenden Treppenstufen erreicht hat, die für den Rest sorgen, wie aus dem Nichts erschienen und wieder darin verschwunden. Lucie steht winselnd neben Bruno und leckt sein Gesicht ab.

"Nicht Lucie, hör auf damit, ich lebe ja noch."

Er kommt umständlich wieder auf die Beine und versucht keuchend erst einmal die Fassung wiederzugewinnen. Dann klopft er sich die Hose und die Jacke ab, aber so ganz sauber wird’s natürlich nicht, zu sehr ist der alte, hartnäckige Schmutz ins Gewebe eingedrungen.

So ein blödes Aschloch! Hat der mich denn nicht gesehen? Und entschuldigt sich nicht mal. Mein Gott, hat der das eilig gehabt. Wie sehe ich denn jetzt aus? Mist, meine Hände brennen wie Sau, da habe ich mir bestimmt die Haut abgeschürft. Ich muss so schnell wie möglich die Hände waschen sonst droht noch eine Entzündung oder sogar Blutvergiftung, Tetanus, was weiß ich?

"Los Lucie, wir gehen jetzt zu dir. Ich muss was trinken und die Hände waschen."

Bruno greift nach der Hundeleine und geht mit energischem Schritt zurück über die Brücke, Zielrichtung 'Mühle', dem Kneipenrestaurant seines Freundes Harry. Beim Hinuntersteigen der Treppenstufen schmerzt sein rechtes Knie.

Na das fehlt mir noch. Mit dem Knie habe ich doch sowieso immer Probleme. Pass mal auf, in spätestens drei Monaten will ich Skifahren, wehe wenn da was zurückbleibt. So ein Scheiß, nur weil ich in diesem blöden Häuschen war, der konnte mich ja gar nicht sehen. Aber warum war der auch so hektisch? Wie auf der Flucht.

Bruno betritt die 'Mühle', Lucie an seiner Seite fühlt sich sofort wie zu Hause und zerrt direkt zur Tür neben dem Tresen, wo es normalerweise hinein geht, denn dahinter liegt Harrys und damit auch Lucies Wohnung. Sie ist zwar etwas verwirrt, weil Bruno in Richtung Kachelofen zu seinem Lieblingsplatz steuert, aber Lucie wäre nicht Lucie, wenn es sie ernsthaft beschäftigen würde. Ihr Grundvertrauen in die Menschen, die sie umgeben, ist unerschütterlich. Sie verzieht sich sofort unter dem Tisch als Bruno Platz nimmt und wartet erst mal ab.

"Hallo Bruno, dich habe ich ja ewig nicht mehr hier gesehen. Warst du krank?"

Sylvia, die wichtigste Beziehung seines Freundes Harry, steht am Tisch und hat eine Speisekarte in der Hand.

"Grüß dich Sylvia. Ja stimmt, ich war lange nicht hier aber krank? Nee, zum Glück nicht. Aber eben, auf der Sechserbrücke, hat mich irgendein Volltrottel regelrecht umgerannt. Der war vielleicht in Eile kann ich dir sagen. Hat sich nicht mal entschuldigt. Bring mir mal bitte ein Glas Spätburgunder, den badischen. Die Karte kannst du hierlassen, ich schau gleich mal rein. Erst muss ich mir aber mal die Hände waschen. Wirfst du mal ein Auge auf den Hund?"

Bruno steht auf und sofort hebt Lucie den Kopf. Da ihr Ersatzherrchen aber nichts sagt, legt sie ihn gleich wieder auf ihre Vorderpfoten, eigentlich muss niemand auf sie aufpassen. In der Toilette schaut sich Bruno sein Gesicht im Spiegel an, was er an sich sehr ungern tut, aber er will doch mal sehen, ob er noch irgendwo lädiert ist. Nachdem er sich gründlich die Hände gewaschen und den Staub von Hose und Jacke notdürftig mit einem angefeuchteten Handtuch abgewischt hat, betritt er wieder den Gastraum und nimmt Platz. Der Rotwein steht schon da und Bruno nimmt einen für herkömmliche Weintrinker unanständigen Schluck, Brunos Proletenschluck. Sein Knie schmerzt noch immer aber im Sitzen geht es. Er setzt seine Lesebrille auf und studiert die erste Seite der Speisekarte, die mit den Tagesgerichten. Den Rest kennt er auswendig.

"Na Bruno, hast du was gefunden?"

"Ja, bring mir bitte die Gurkensuppe mit geröstetem Pumpernickel und danach den gemischten Aufschnittteller. Ich habe keine Lust auf was Großes. Habt ihr wieder das gute Brot?"

"Heute Morgen gebacken."

"Gut."

Sylvia nimmt die Speisekarte wieder an sich und geht zum Tresen zurück. Bruno verfolgt ihren Gang und kann Harry verstehen. In seinem Alter, was will er mehr? Sylvia ist um die Fünfzig und man sieht, dass sie einmal eine Schönheit war. Bruno weiß aber auch, dass sie harte Zeiten durchgemacht hat und die haben auch Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie kam erst ein wenig zur Ruhe, als sie Harry kennenlernte. Der war damals gerade von seiner Frau verlassen worden und froh, mit Sylvia eine zuverlässige Hilfe im Restaurant gefunden zu haben. Seit jener Zeit haben sie immer mehr zueinander gefunden. Sylvia schmeißt den Laden, wenn Harry mal unterwegs ist, und er kann sich auf sie verlassen. Bruno hat mal vorsichtig angefragt, warum sie denn nicht heiraten würden. Die Frage hat er danach nie wieder gestellt. Es gibt einfach Dinge, über die Harry nicht redet, auch nicht mit seinem besten Freund. Bruno glaubt aber zu wissen, dass Sylvia auch immer noch ihre eigene Wohnung hat, obwohl sie meist hier schläft.

Jaja, so ist das mit den Frauen. Ich würde dich auch nicht verschmähen. Vielleicht solltest du nicht mehr ganz so kurze Röcke tragen und etwas dezenter mit der Schminke umgehen aber sonst… Ich bin jedenfalls allein. Träume immer nur von der und mal von der. Apropos, ich müsste mich mal wieder bei Anna melden, sonst vergisst sie mich noch ganz. Oder Anita! Die schöne Anita. Ich glaube, die würde mich sogar heiraten. Da bin ich doch ganz schön ins Schleudern gekommen, emotional. Komisch, an Carla muss ich gar nicht so oft denken, obwohl mir ihre Trennung doch sehr wehgetan hat, anfangs jedenfalls…

"Na, wo bist du denn in Gedanken? Immer noch bei dem Rüpel von vorhin? Komm, genieße erst mal die Suppe. Wir haben übrigens einen neuen Koch, wusstest du das? Ganz junger Kerl, hat aber schon eine positive Erwähnung in einer Schweizer Gourmetzeitschrift. Bin mal gespannt, wie es dir schmeckt. Du bist doch auch so ein Feinschmecker oder?"

"Feinschmecker? Ich weiß nicht. Ich esse gerne gut und genieße es, wenn es schmeckt. Das darf aber durchaus ganz einfach sein, Hausmannskost, Regionalküche, Hauptsache die Qualität stimmt. Du kannst mir übrigens noch einen Wein bringen, bitte."

Bruno nimmt einen Löffel der Suppe und spürt beim ersten Zungenkontakt, hier war ein Könner am Werk. Sehr ausgewogen sind Gurke, Dill, Oregano, Thymian zu schmecken. Dazu die Pumpernickel-Croutons, wirklich der Hammer! Bruno hat schon früher Gurkensuppe kennengelernt, auch schon als kalte Variante, aber die hier, klare Punktsiegerin.

"Na, habe ich zu viel versprochen?"

"Schönen Gruß an den jungen Mann, wirklich hervorragend. Ich werde jetzt öfter kommen. Da wird er richtig gefordert."

"Der wird dich auch mit seinen anderen Kreationen überzeugen, ist schließlich mein Sohn."

"Ach so, daher weht der Wind. Ich wusste gar nicht, dass du Kinder hast."

"Du weißt eben ganz wenig von mir, aber Kinder ist übertrieben, es ist nur der eine, Luca. Sein Vater ist Italiener, bei dem hat er auch sein Handwerk gelernt. Kann ich jetzt die kalte Platte bringen?"

Bruno genießt das frische Brot, dessen Duft ihn immer wieder schwach werden lässt. Dazu die deftige Salami, die Mortadella und ein ihm unbekannter aber umwerfender Käse. Ein paar Oliven und Kirschtomaten runden das Geschmackserlebnis ab und Bruno hat den Unfall von vorhin fast vergessen. Erst als ein neues Glas Wein vor ihm steht, geht er die Ereignisse noch einmal in Gedanken durch.

Was das wohl vorhin war? Zufall, Absicht? Nee, Absicht kann nicht sein. Der konnte mich im Dunkeln kaum sehen, schon gar nicht solange ich noch in der Ausbuchtung stand. Der war bestimmt genauso perplex wie ich. Aber er hätte sich ja mal entschuldigen können, oder mal fragen, ob mit mir alles OK ist. Also das ist schon merkwürdig…, als ob der Teufel hinter ihm her war.

Bruno ist wohlauf, fühlt sich gut, spürt noch die Aromen seines Festmahls nach und blickt zufrieden in die Runde. Das Lokal ist noch gut besetzt, selbst am Tresen sitzen ein paar Leute, reden über Gott und die Welt, trinken ihr Sonntagabendbier und denken nicht an morgen. Oder vielleicht gerade doch, denn morgen ist Feiertag! Keine schlechte Perspektive für einen Sonntagabend. Aus unsichtbaren Lautsprechern dringt einer seiner Lieblingstitel von Miles Davis an sein Ohr, Milestones.

Milestones kenne ich aus meinem Berufsleben auch zur Genüge. In jedem Projektplan tauchten sie auf, die lieben Meilensteine. Was war bis wann mit welchem Erfüllungsgrad zu erledigen? Welch ein Segen, dass ich das hinter mir gelassen habe, und mein jetziges Leben nicht mehr von Meilensteinen bestimmt wird. Das muss ich mir immer wieder bewusst machen, da beneiden mich andere drum.

"Sylvia, bitte zahlen."

Obwohl er nicht laut gesprochen hat, hebt Sylvia den Kopf und beendet ihr Gespräch mit einem älteren Herrn, der vor einem halbleeren Glas am Tresen sitzt und sie die ganze Zeit zugetextet hat. Sylvia ist eben für alle da, gibt Ratschläge, tröstet und nimmt auch schon mal die Beichte ab, alles am Tresen, der Sünder muss nicht mal die Kneipe verlassen. Sie tippt mit dem Zeigefinger auf einem bunten Display herum, wartet kurz, bis ein kleiner Bon aus einem Schlitz herausgeschoben wird und kommt lächelnd auf Bruno zu.

"So mein Lieber, ich hoffe, es war alles OK."

"Wirklich lecker, ich werde wohl wiederkommen. Apropos wiederkommen, wann wird denn Harry wieder hier aufschlagen?"

Lucie ist augenblicklich aufgestanden und schaut ihn aus ihren dunklen Augen an. Ein Zwischending aus leisem Knurren und Winseln verleiht ihrem Blick Nachdruck.

"Ja, ist ja gut, dein Herrchen wird bald wieder da sein."

Bruno greift ihr in das lange Haar unter dem Hals und krault sie zärtlich. Die Hündin senkt andächtig den Kopf und genießt es.

"Also soweit ich weiß, bleibt er noch bis Mittwoch, aber du kennst ihn ja, da braucht nur etwas dazwischen kommen und der Herr überlegt es sich anders. Eigentlich wollte er mich heute Abend noch anrufen, bin mal gespannt."

"Gut, falls er sich meldet, grüße ihn bitte von mir. Ich komme schon klar mit seiner Freundin. Meinetwegen kann er noch wegbleiben."

Bruno bezahlt großzügig und erhebt sich von seinem Platz. Sofort meldet sich sein Knie und erinnert ihn wieder an den Vorfall von vorhin.

"Hast du Schmerzen? Dann lass doch lieber mal einen Arzt auf dein Knie schauen. In deinem Alter sind Knieprobleme ernst zu nehmen."

Bruno verspricht ihr, dass er zum Arzt gehen wird und weiß im gleichen Augenblick, dass er lügt. Gleichzeitig ist er berührt, dass sich jemand um ihn sorgt, insbesondere, weil dieser Jemand eine Frau ist.

Aber was hat das mit meinem Alter zu tun?

Als er die Straße betritt, ist es menschleer. Alle Ausflügler sind inzwischen wieder zu Hause oder sitzen in Kneipen oder Restaurants, vielleicht auch im Kino oder Theater. Er hat Lucie an der Leine und sie gehen Seite an Seite die Straße Alt-Tegel hoch. Es ist inzwischen fast 22:00 Uhr und selbst Lucie schaut nicht mehr links und rechts, hat keine Lust mehr auf Gerüche. Bruno hat das Gefühl, dass das Laufen seinem Knie gut tut, zumindest ist das Stechen weg, nur noch ein schwacher, dumpfer Schmerz, mehr so ein Druck.

Das wird schon wieder. Ich könnte mich nur ärgern, dass der Typ nicht mal nach mir gesehen hat. Es hätte ja auch was Schlimmes sein können, was weiß ich, bin schließlich keine Zwanzig mehr. Was der wohl hatte? Vielleicht wurde er verfolgt? Aber dann wäre doch noch jemand gekommen. Hat ja ein paar Minuten gedauert, bis ich weitergehen konnte. Oder ein Dieb, Taschendieb oder so. Hat einer alten Frau die Tasche geklaut. Aber dann hätte man doch wohl Hilferufe gehört. Außerdem hatte der nichts bei sich, keine Tasche oder so. Da bin ich mir sicher. Irgendwie sah der verschreckt aus, fast ängstlich. Und wenn ich so darüber nachdenke, erinnert er mich an jemand, so als ob ich ihn schon mal gesehen habe. Ich meine es war ja nur ein Sekundenbruchteil, wo ich in sein Gesicht geschaut habe, aber das Bild hat sich in meinem Kopf gespeichert, sozusagen als Download. Mein fotografisches Gedächtnis ist eigentlich sehr ausgeprägt, ganz im Gegensatz zu meinem Namensgedächtnis. Irgendwas in mir sagt, den kenne ich, zumindest habe ich den schon mal gesehen…, fällt mir bestimmt noch ein.

Bruno hat sein Wohnhaus erreicht. Als ob sie es ahnt, dass sie jetzt für längere Zeit nicht mehr rauskommt, setzt Lucie noch einen kurzen Strahl an die alte Linde am Straßenrand. Dann steigen beide die zwei Stockwerke nach oben. Bruno setzt das Bein mit dem lädierten Knie sehr vorsichtig ein, merkt aber schnell, dass beim Hochsteigen nichts weh tut. In der Wohnung angekommen befreit er Lucie von ihrem Geschirr und hängt alles zusammen mit seiner Jacke über die Garderobenhaken. Nachdem er die Schuhe gegen ein paar ausgetretene Latschen getauscht hat, geht er in die Küche und füllt Lucies Trinknapf mit frischem Wasser. Die fängt sofort an zu schlabbern und trinkt fast den ganzen Napf leer.

"Na toll, dann wirst du mich ja morgen frühzeitig aus dem Bett holen. Aber Recht hast du, ich muss auch noch was trinken."

Er greift sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Wasser und schlurft dann Richtung Wohnzimmer. Ein Blick in die Fernsehzeitschrift genügt um zu entscheiden, dass die Glotze aus bleibt. Stattdessen geht er zu seiner Audioanlage und kramt in den CD's herum. Schließlich landet 'The Best of Miles Davis & John Coltrane' im Abspielgerät.

Wenn wir schon Miles Davis hatten…

Lucie schaut Bruno an, als würde sie lieber Michael Jackson hören. Frustriert entschließt sie sich, ihren Schlafplatz aufzusuchen. Bruno hat ihr aus alten Decken und einem großen Kissen eine Ecke im Flur zubereitet, von der aus sie fast die ganze Wohnung im Blick hat. Nur die Schlafzimmertür ist verschlossen. So weit geht Brunos Liebe zu seinem weiblichen Gast nun doch nicht. Er kriegt die Krise, wenn er nur hört, dass manche Menschen ihre Tiere zum Schlafen mit ins Schlafzimmer nehmen. Selbst seine Schwester lässt es zu, dass ihr dämlicher Kater zu ihr ins Bett steigt. Bruno ist zertifizierter Katzenhasser. Er pflanzt sich in seinen Lieblingsplatz, einem alten, abgewetzten Ledersessel, dann öffnet er die Wasserflasche und nimmt einen Schluck direkt aus der Pulle, wie man so schön sagt.

Naja, Wasser ist auch ein schönes Getränk. Aber jetzt noch einen Wein? Ich weiß nicht. Wollte ja sowieso kürzertreten.

Er stellt die Flasche neben sich auf den Boden und erhebt sich. Obwohl es schon spät ist, hat er noch keine Lust, schlafen zu gehen. Beim Blick auf einige alte Fotoalben fällt ihm wieder ein, dass Harry bald Geburtstag hat.

Dann hast du mich wieder eingeholt, mein Freund, dann hört die Lästerei über mein Alter wieder auf, hoffentlich…

Bruno steht auf, krallt sich seinem Zufallsgenerator folgend eines der Fotoalben und macht es sich in seinem Sessel wieder so gemütlich, wie es nur geht, beziehungsweise sein lädiertes Knie es zulässt. Vorsichtig schlägt er das Buch mit den alten Fotografien auf. Diverse Bilder, in Farbe und Schwarzweiß, teils von ihm selbst geschossen, teils überlassen von anderen Leuten, Verwandten, Freunden. Einige der Fotoecken, mit denen man damals die Bilder in den Alben fixierte, können nicht mehr ihre eigentliche Aufgabe erfüllen und haben sich von den Albumseiten gelöst, eben auch alt geworden. Er muss aufpassen, dass keine Bilder herausfallen.

Ich muss mal sehen, ob ich nicht eine andere Art der Archivierung finde. Aber alle Bilder digitalisieren…? Da müsste ich mir erst mal einen neuen Scanner zulegen. Das wird ja ein Riesenprojekt. Andererseits könnte ich mal sortieren, den ganzen Schrott entsorgen und nur die besten und für mich wertvollen Fotos aufbewahren.

Brunos Blick schweift über die vielen Fotografien und verharrt hier und da, besonders bei Bildern aus seiner Kindheit.

Guck mal einer an, da komme ich wohl gerade aus der Schule, sieht man an der Schulmappe. Billiges braunes Leder, mit einem Überschlag, der sich im Halbrund über die Taschenöffnung legt. Und dann diese beiden federnden Verschluss-Rasten aus messingfarbenem Blech…, Mensch, wie oft habe ich mich daran geklemmt oder den Fingernagel abgebrochen…, so eine Scheißkonstruktion. Das muss in Alt-Tegel sein…, das ist doch das alte Kino…, das Kosmos, genau! Mein Gott, ist das lange her. Fast dreimal die Woche sind wir ins Kino gegangen, Kosmos, Teli im Waidmannsluster Damm und Filmpalast, schräg gegenüber vom Bahnhof. Naja, fünfzig Pfennig das Kinderprogramm am Sonntag und siebzig Pfennig für die Nachmittagsvorstellung in der Woche. Das war selbst für meine Eltern bezahlbar, und sie hatten am Sonntagnachmittag die Bude für sich…

Bruno hat das Album auf seinem Schoß abgelegt und sieht sich in Gedanken ins Kino gehen. Steve Reeves als Herkules oder Victor Mature als Gladiator.

Warum werden diese alten Schinken eigentlich nicht im Fernsehen wiederholt? So gut wie die heutigen, im Akkord zusammengefuschten US-Produktionen, mit den unendlich vielen und genauso unbekannten Darstellern, sind sie allemal. Glaube ich jedenfalls…

Bruno sieht auf die Uhr, es ist fast Mitternacht. Er erhebt sich und sein Knie meldet umgehend: vielen Dank für die Rücksichtnahme, du Idiot. Nach einer kurzen Pause fällt der nächste Schritt etwas vorsichtiger aus, und schließlich stellt er das Fotoalbum in die wartende Lücke des Bücherregals. Dann schaltet er den CD-Player aus, ist aber zu faul, den Silberling zu entfernen. Außerdem könnte er die Platte ja morgen noch einmal hören. Er bückt sich zum Lampenschalter hinunter, der ja eigentlich ein Fußschalter ist aber wie immer verkehrt herum liegt.

Oh, da liegt ja noch ein Foto, muss wohl rausgefallen sein…

Er hebt das etwas größere Bild auf und wirft einen kurzen Blick darauf. Ein Schwarzweißfoto mit wellig geschnittenem Rand. Offensichtlich ein altes Klassenfoto. Er schätzt mal siebte oder achte Klasse, also 1961 oder 62.

Ach du Scheiße, die Frisuren! Mein Gott, wie sehe ich denn da aus, wie ein Alien. Nee, Aliens gab es damals noch nicht in unserem Sprachgebrauch. Da ist Harry… auch nicht schlecht, Messerformschnitt. Sybille Mandel, alle waren in dich verschossen und der blöde Burkhard Drogan durfte deine Schultasche tragen. Fast hätte ich ihn getötet, mit einer Laserpistole…

Bruno setzt sich auf die Lehne seines Sessels. Ohne es wahrzunehmen, lächelt er, betrachtet ein Gesicht nach dem anderen und kramt den jeweiligen Namen aus seinem Gedächtnis hervor. Nicht alle fallen ihm ein, manchmal nur die Vornamen.

Wolfgang Bach, Veronika Sahm, André, wie hieß der noch? Lange, genau, André Lange. Da, unser alter Pauker, Herr Schmalz, und die da ist Britta Lehmkuhl. Die war die erste, die mit einem Minirock zur Schule kam, jedenfalls was damals so Mini war…und natürlich Lutz Strehlow! Der größte Arsch in der Klasse, war sitzengeblieben und deshalb älter als wir. Der einzige, der auf dem Schulhof rauchte, jedenfalls wenn bestimmte Lehrer Aufsicht hatten. Aber Fußball war sein Ding. Da war er immer der erste, der gewählt wurde, tipp-topp… Warte mal Lutz Strehlow…, jetzt fällt gerade mein Groschen…, das ist doch deine Visage! Genau, du hast mich doch vorhin umgerannt! Wieso ist mir das nicht gleich eingefallen? Lutz Strehlow, in der Schule der größte Versager aber der, der keiner Klopperei aus dem Wege ging. Fast alle hatten Schiss vor dir, selbst die aus den höheren Klassen.

Brunos Gedanken geraten in Wallung, keine Chance jetzt zu schlafen. Er geht zum Eckschrank und holt die angefangene Flasche Rotwein von vorhin heraus. Australischer Shiraz, ein Geschenk seiner Schwester Anette, die ihm von ihren Reisen sehr oft landestypische Weine mitbringt. Der hier könnte allerdings auch vom Weinhändler sein. Australische Weine sind momentan angesagt und Wein im Privatgepäck von Australien nach Deutschland zu transportieren, würde Anette wohl kaum einfallen. Das benutzte Weinglas vom Nachmittag steht auch noch auf dem Tisch und Bruno schenkt ein. Ein kurzer prüfender Blick durch die Flasche gegen die Lampe und er überwindet sich, den Rest auch noch ins Glas zu kippen. Dann nimmt er einen großen Schluck, Lust auf Tannine und vollmundige Aromen. Er setzt sich wieder, diesmal aber auf die Couch und angelt nach dem Klassenfoto, um es noch einmal zu studieren.

Lutz Strehlow, wie kann das sein? Da sieht man sich ein halbes Leben lang nicht mehr und dann so. Hast du mich auch erkannt? Wohl kaum, sonst wärst du bestimmt nicht weitergerannt. Oder doch? Also zutrauen würde ich es dir. Vielleicht bist du ja immer noch der alte Penner, brutal und rücksichtslos, Hauptsache du bist der King! Würde mich direkt mal interessieren, ob du noch in Tegel wohnst. Ihr hattet doch eine Fleischerei in der Schlieperstraße, war doch Schlieperstraße oder? Jetzt muss ich doch mal nachsehen, ob ich noch mehr Fotos aus der Zeit finde, denn nach der Schule haben wir uns aus den Augen verloren. Oder ich frag mal Harry, wenn er wieder da ist…

Es ist inzwischen Montag, 01:20 Uhr. Bruno hat kein weiteres Foto von Lutz Strehlow gefunden, dafür ein gutes Dutzend anderer Bilder, die ihn abgelenkt und in eine andere Vergangenheit entführt haben. So hat er völlig die Zeit vergessen. Jetzt, das leere Weinglas holt ihn in die Gegenwart zurück.

Wird aber auch Zeit, Lucie wird sich sicher pünktlich melden…

Lange Schatten im Oktober

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