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Berlin, Montag, 03.10.2011
ОглавлениеUnd wie pünktlich sie sich meldet. Die Hündin hat den schmalen Türspalt zum Schlafzimmer so weit geöffnet, dass ihre Vorderpfoten und ihr Kopf hinein passen. So liegt sie nun, total unbequem, und versucht allein durch Hypnose ihren Herbergsvater zu wecken. Der hat nun dummerweise seiner Anvertrauten den Rücken zugewandt, also ist Hypnose die falsche Methode. Hilft nur Eskalationsstufe zwei, singen. Lucie beginnt mit leisem Winseln und steigert sich zu einer Art Vibrato, sozusagen Hundetremolo. Es ist nicht genau zu ermitteln, welche Passage des von Lucie vorgetragenen alten irischen Volksliedes Brunos Aufwachzentrum erreicht, jedenfalls sitzt er jetzt auf der Bettkante und brummt etwas in ihre Richtung. Sie deutet es als 'Ja ich komme gleich', zieht sich aus dem Türspalt zurück und tänzelt kurz darauf im Flur um den Garderobenständer, wo ihr Geschirr hängt. Man sagt ja Hunde hätten kein Zeitgefühl, aber Lucie hat eine volle Blase, von daher spielt die Zeit eine wesentliche Rolle, auf den Punkt gebracht: Notfall!
Bruno schleicht ins Bad und schaut kurz in den Spiegel, so kurz, kürzer geht's nicht.
Also um eine OP komme ich wohl nicht herum. Das wird ja wieder kosten…
Als er wieder in den Flur tritt, hat er seinen Jogginganzug an, der übrigens noch nicht einen Meter Joggingtempo an Brunos Körper erleben durfte, immer nur Schrittgeschwindigkeit. Er streift sich die Jacke über, setzt seine Tirolmütze auf und steigt in die durchlöcherten Gummiclogs. Als er mit Lucie endlich die Straße betritt, hat er enorme Mühe die Hündin zu halten. Sie wählt den kürzesten Weg zu ihrer Linde, der sie auch gestern Abend noch einen Besuch abgestattet hat. Bruno steht abwesend daneben und erwacht erst wieder, als Lucie durch ihre Körperhaltung andeutet, dass sie nicht nur das Wasser zwickt.
"Nee, mein Täubchen, das bewahre dir man noch auf. Du weißt doch, wo dein Hundeklo ist."
Er braucht nur etwas an der Leine zu ziehen und die Hundedame versteht, schließlich weiß sie, was sich gehört. Bruno geht für seine Verhältnisse ziemlich schnell Richtung S-Bahnhof. Schon nach wenigen Schritten spürt er den Schweiß auf der Stirn. Für die Jahreszeit ist es immer noch sehr mild, und selbst um diese frühe Morgenstunde atmet die Stadt schon mühsam die feuchte Wärme aus. Der bleigraue Himmel verstärkt noch das Gefühl der Schwüle.
Seltsam, dass man sich immer etwas anderes wünscht, als man gerade erlebt. Ist es warm, wünscht man sich Abkühlung und ist es kühl, soll die Sonne scheinen. Wahrscheinlich hängt es mit der Rationalität des Menschen zusammen. Um diese Uhrzeit hat es kühl zu sein, erst recht im Oktober!
Bruno hat den kleinen Grünbereich am Buddeplatz erreicht, der kaum noch von den Menschen als Erholungsraum genutzt wird. Er zieht sich aus einem der dafür vorgesehenen Ständer einen Plastikbeutel und steht Lucie hilfreich bei der Erledigung ihres Geschäftes zur Seite. Nach der Entsorgung setzt sich Bruno auf eine der alten Parkbänke und betrachtet den gegenüberliegenden Bahnhofsvorplatz, der in goldgelbes Oktoberlicht getaucht ist. Oft hat er hier als Kind gesessen und mit Spannung verfolgt, wie die Angehörigen der französischen Besatzungsmacht ankamen oder wegfuhren. Lange Züge mit Waggons für die Soldaten und den Schwerlastwagen für die Militärfahrzeuge. Manchmal fuhren die französischen Panzer mit Höllenlärm durch die Berliner Straße, man musste sich die Ohren zuhalten.
Ich glaube damals ist meine Abneigung gegen das Militär entstanden, obwohl ich bestimmt noch gar nichts von den Zusammenhängen verstanden habe. Und dann die hilflosen Versuche unseres Geschichtslehrers, uns den Wandel der ehemaligen Kriegsgegner zu Freunden der Berliner, nein nur Westberliner, begreiflich zu machen. Herr Rohde, ich habe es nie verstanden. Aus dem bösen Großdeutschen Reich war plötzlich ein zweigeteiltes Land geworden, in dem all die Guten auf der einen Seite der Grenze lebten und die Bösen auf der anderen, da hätte es ja eigentlich vorher eine Völkerwanderung geben müssen. Und komisch, je nach dem auf welcher Seite man sich befand, man selbst gehörte zu den Guten, und die Bösen waren immer drüben. Und wenn man weiterspinnt, bei den Einwohnerzahlen der beiden deutschen Teilstaaten hätte es ja eine überwältigende Mehrheit an guten Deutschen während der Nazizeit geben müssen… Wenn das mal stimmt.
Bruno spürt, wie er sich gedanklich geradewegs in Richtung Schlechte Laune bewegt. Also gibt er sich einen Ruck, wobei Ruck wohl etwas übertrieben ist. Der Griff nach der Hundeleine ist für Lucie das Signal ebenfalls aufzustehen und ihrem Freund zu folgen.
"Komm Lucie, wir müssen noch ein wenig einkaufen, sonst gibt es kein Frühstück."
Wenig später stehen sie vor einem Supermarkt. Betreten können sie ihn allerdings nicht, geschlossen. Überhaupt, es ist auch so wenig los auf den Straßen.
Ach du lieber Himmel, heute ist ja Feiertag. Mensch, das habe ich ja völlig verschlafen, aber so ist das, wenn man im Ruhestand ist. Kann ich nur hoffen, dass mein Türke auf hat.
Der Kiosk von Ünal hat auf, wie eigentlich immer. Das hat jetzt aber nichts damit zu tun, dass Ünal den Tag der Deutschen Einheit nicht achtet. Er ist hier geboren und hat sich 1989 genauso gefreut, wie die meisten anderen Berliner. Aber er ist eben auch Türke und hat noch nie verstanden, weshalb er denn am Sonntag den Laden geschlossen halten sollte. Im Laufe der Jahre hat er gemerkt, dass immer mehr Anwohner sein Angebot dankbar angenommen haben, und so hat er es immer mehr erweitert. Aus dem ehemaligen Zeitungskiosk, mit Zigaretten und Süßigkeiten ist ein Minimarkt geworden, der quasi alles vorrätig hält, was der Normalbürger zum Leben braucht, Brötchen, Milch, Kaffee, Bier, Wein, Wurst und Käse, sogar frisches Obst und Gemüse.
Zurück im Haus hat Bruno Lucie von der Leine gelassen und die Hündin spielt nun ihre Jugend aus, ist natürlich viel früher an der Wohnungstür als er, der doch etwas aus der Puste geraten ist.
"Gib bloß nicht so an, du hast ja auch doppelt so viele Beine. Außerdem muss ich auch unser Frühstück schleppen."
In der Wohnung ist es angenehm kühl und Bruno hängt seine Jacke und die Mütze an die Garderobe. Nachdem er die weichen Gummilatschen gegen seine normalen Hausschuhe getauscht hat, geht er in die Küche und stellt die Einkaufstüte auf die Arbeitsplatte neben der Spüle. Nun ist so eine Plastiktasche kein festes, sondern ein weiches, nachgiebiges Teil, das zwar stabil hängen aber nicht stabil stehen kann. Logische Folge: fast der gesamte Inhalt rutscht aus der Tasche in die Spüle, Brötchentüte, Fleischsalat, Butter, Kaffeepads, auch die Zeitung, die sich sofort mit einer schon lauernden Wasserlache vollsaugt.
"Na Klasse, der Tag ist meiner. Eine Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst. Den Unterschied zwischen Stabil und Labil habe ich mal gelernt, Lucie. Guck mal, nur deine Leckerli sind in der Tasche geblieben, ist doch alles gut, oder?"
Es braucht ein paar Augenblicke, bis die Ordnung wieder hergestellt ist, aber endlich sitzt Bruno am Küchentisch, hat den trockenen Teil der Zeitung aufgeschlagen und schlürft genüsslich den heißen schwarzen Kaffee. Lucie sitzt zu seinen Füßen und knabbert an irgendwelchen knochenharten Keksen mit Fleischaroma herum.
"Lutschen Lucie, nicht knacken! Hat meine Mutter zu mir auch immer gesagt."
Lucie arbeitet weiter und die entstehenden Geräusche lassen sich nicht eindeutig zuordnen. Ist nun der Keks gebrochen oder ein Zahn? Im Radio verwirklicht sich gerade eine Nachwuchsmoderatorin durch das Abspielen ihrer liebsten Hits, natürlich amerikanischer Massenpop, bis auf eine Ausnahme, da will jemand die Welt retten und das auf Deutsch. Wenn das mal gut geht. Bruno wirft einen Blick auf die Uhr, kurz vor Zehn.
Müssten ja eigentlich gleich Nachrichten kommen, mal sehen wie das Wetter wird.
Bruno erhebt sich, räumt den Tisch ab und stellt das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Lucie hat sich inzwischen auf ihre Decke im Flur zurückgezogen. Das Kauen war wohl doch anstrengend.
…eine unbekannte Leiche im Tegeler Fließ… wie die Polizei gestern Abend auf Anfrage mitteilte, handelt es sich um eine ca. fünfzigjährige Frau, die bisher nicht identifiziert werden konnte… über die Todesursache wurden keine Mitteilungen gemacht. Das Wetter…
Mist, jetzt habe ich gar nicht richtig hingehört. Früher waren die Nachrichten auch ausführlicher und nicht nur zwei Minuten, inklusive Wetterbericht und Aufzählung von mindestens 13 Blitzern. Tote im Tegeler Fließ, gestern Abend? Mensch, da war ich ja gar nicht weit weg! In der Zeitung stand nichts davon, zumindest nicht im trockenen Teil…
Bruno öffnet den Mülleimer für Papier und holt die zusammengeknüllten, nassen Seiten heraus. Auf dem Küchentisch versucht er sie soweit wieder zu glätten, dass er etwas entziffern kann.
Scheiße, reißt natürlich ein. Muss ich auch noch puzzeln. Immerhin scheint es sich um den Lokalteil zu handeln. Den habe ich gar nicht vermisst. Hier steht etwas, fünf Zeilen… Unbekannte Frauenleiche im Tegeler Fließ gefunden, Todesursache kann wohl erst durch gerichtsmedizinische Untersuchung festgestellt werden…
Bruno setzt sich hin und überlegt. Jetzt fällt ihm auch der ganze gestrige Abend wieder ein. Die Sechserbrücke, der Sturz durch den hektischen Passanten namens Lutz Strehlow, sein Knie.
Siehst du, nur weil das Knie nicht mehr schmerzt, habe ich den Vorfall gar nicht mehr auf der Pfanne. Dabei sollte ich froh sein, dass es nicht mehr wehtut…
Er geht hinüber ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. Nach fünf Minuten Rumzippen schaltet er ihn wieder aus. Jede Menge Leichen aber keine Frauenleiche aus Tegel. Bruno beschließt erst einmal zu duschen, dann könnte er ja nochmal die 11:00 Uhr Nachrichten verfolgen, vielleicht wissen die da schon mehr. Oder auch noch einen Blick in die anderen Zeitungen werfen.
Also die Nachrichten sind die gleichen wie die um 10:00 Uhr, Bruno ist enttäuscht. Er schnappt sich die Leine und Lucie ist völlig überrascht, hat nicht so schnell damit gerechnet, dass es wieder an die Luft geht. Unten im Parterre des Hauses nimmt Bruno die Hündin an die Leine und redet auf sie ein, unnötig laut.
"Komm schon her du Bestie, sonst kommt die böse Frau Krause und schlachtet dich mit einem Küchenmesser oder einem Hackebeil. Das hat sie schon ein paarmal mit anderen Hunden gemacht, kannste glauben."
Draußen vor der Haustür ist er zunächst unschlüssig, in welche Richtung er gehen soll. Ein Blick auf die gegenüberliegende Seite macht ihm klar, dass sein dort geparkter Subaru unbedingt mal wieder gewaschen werden muss. Zu lange schon wurde er nicht bewegt und entsprechend haben sich diverse Vögel auf ihm verewigt. Bruno greift in seine Jackentasche und holt den Autoschlüssel hervor. Lucie muss nach hinten, aber sie kennt das schon. Zwischen der Ladefläche des Kombis und dem Fahrgastraum ist ein stabiles Gitter installiert, dass ihr aber den Blickkontakt zu Bruno ermöglicht. Der steigt nun ebenfalls ein und ist froh, dass der Motor beim ersten Startversuch sofort anspringt.
Die schöne Parklücke, wer weiß wo ich nachher einen Platz finde. Vielleicht sollte ich doch mal das Angebot der Hausverwaltung annehmen und diesen Parkberechtigungsschein mieten…
Bruno fährt auf der Berliner Straße in Richtung Borsigwerke. Der einstige Maschinenbaukonzern, der zu seinen Glanzzeiten der weltweit zweitgrößte Hersteller von Lokomotiven war, ist trotz gegensätzlicher Beteuerungen der Verantwortlichen immer wieder verkauft, zerhackt, verkleinert, umorganisiert, umstrukturiert, wieder verkauft, nochmal zerhackt und umstrukturiert worden, bis er quasi nicht mehr bestand. Soweit Bruno weiß, gehören die nicht wiederzuerkennenden Reste einer asiatischen Firma, deren Eigner nicht mal ahnen, was sie da eigentlich an Industriehistorie übernommen haben, die nicht eines der unzähligen Schicksale der ehemals Beschäftigten kennen, die nicht wissen wie viele sich bei der Abwicklung daran bereichert haben und wie viele Steuern in Form von Fördermitteln dabei versenkt wurden. Wer weiß es überhaupt? Wer will es wissen?
Nach wie vor beeindruckend, das wunderschöne Borsigtor, an dem er jetzt vorüberfährt und der dahinter liegende Borsigturm, den er schon als Kind bewundert hat. Einmal, Mitte der 1960er Jahre, hat er eine der Werkhallen von innen gesehen. Er war Lehrling bei der AEG und musste Prüfungsunterlagen zur Ausbildungsabteilung der Firma Borsig bringen. Man hatte ihn ausgewählt, weil er aus Tegel kam. 'Da kennst du dich ja aus', hatte ihm der Meister mit auf den Weg gegeben. Die große Halle für die Lehrlingsausbildung kam ihm viel bombastischer vor, als die in der Holländer Straße, wo er seine Ausbildung absolvierte. Nur eines war für ihn absolut lächerlich, alle Werkzeugmaschinen waren rosa lackiert! Für ihn, Bruno, hatten solche Maschinen grün zu sein, vielleicht mal blau aber rosa? Kurz hinter dem Borsigtor schließt sich das ehemalige Kasinogebäude an, in dem schon seit Jahren die Polizei untergebracht ist, Polizeidirektion 1, Abschnitt 11.
Die müssten doch etwas wissen über die tote Frau, vielleicht sollte ich die mal fragen…, ich hätte ja sogar einen Grund, Lutz Strehlow, vielleicht hat ja der was damit zu tun. Wer ältere Männer umstößt, bringt vielleicht auch Frauen um… So, nun ist aber auch gut. Jetzt fahren wir erst mal zur Tanke…
Bruno zirkelt seinen Subaru in die Waschanlage und steckt dann die erworbene Karte für die 'Super Premium Pflegewäsche Gold' in den Schlitz des Steuergerätes. Es dauert fast sechs Minuten, bis er das superpremiumgoldgepflegte Auto wieder aus der Waschanlage herausfahren kann.
Naja, unter Premium verstehe ich was anderes, aber Hauptsache die Vogelscheiße ist runter.
Er stellt den Wagen in eine leere Parklücke und geht dann noch einmal zurück in das 'Shopping Center' der Tankstelle. Vorbei an Süßigkeiten und Minisalamitüten wendet er sich dem Zeitschriftenregal zu. Er blättert einige der Tagezeitungen schnell durch und stellt fest, dass keine der am heutigen Montag erscheinenden Blätter mehr zu berichten hat, als er ohnehin schon weiß. Offensichtlich arbeiten Journalisten am Sonntag auch nur mit Notbesetzung und gegen Abend gar nicht mehr.
Wie ist das überhaupt mit den Zeitungen? Gestern Sonntag, heute Feiertag, also dann bis morgen warten oder heute Abend die Regionalnachrichten. Bin neugierig, ob ich eventuell Zeuge bin. Schließlich wurde ich auch fast umgebracht, womöglich ein Massenmörder, ein Amokläufer…
Bruno erlebt eines der seltenen Wunder in Berlin, sein Parkplatz ist noch frei. Er stellt den Subaru genau dort wieder ein, wo er ihn vorhin weggeholt hat. Doch dann fällt er eine rationale Entscheidung.
Nee, nee, dann siehst du gleich wieder so aus wie heute Morgen.
Er startet den Motor erneut und verwirrt damit seine Freundin Lucie, die für sich findet, dass ihre Geduld lange genug angehalten hat. Mit einem empörten Hundesprachen-Mix aus 'Mann, wat is denn nu?' und 'Ich habe Hunger!' und 'Ich muss mal!' gibt sie Bruno deutlich zu verstehen, dass er sich jetzt um sie zu kümmern hat, um niemanden sonst. Der fährt noch einmal um die Ecke, Buddestraße, rechts rum, Veitstraße, dann überquert er die Berliner Straße, biegt in die Treskowstraße ein und findet in der Tat einen Parkplatz. Kein Baum vor und keiner hinter ihm, für das Auto vielleicht angenehm, für Lucie hingegen… Dafür revanchiert sich Bruno mit einem ausgedehnten Hundespaziergang, viel Grün, reichlich Bäume und letztlich sind sie wieder an der Greenwich-Promenade gelandet. Viele Menschen sind nicht unterwegs. Obwohl er es nicht geplant hat, stehen sie schließlich wieder vor der Sechserbrücke. Bruno steigt wie automatisiert eine Stufe nach der anderen nach oben, ohne sich klar zu sein, welche Art von Magnetismus ihn da anzieht. Vielleicht reine Neugierde, vielleicht auch das langsame Erwachen aus dem Detektivkoma? Es ist noch gar nicht so lange her, dass er den Nick Knatterton gegeben hat, auch mehr durch Zufall. Damals in den Tiroler Bergen kam er sich wirklich manchmal wie in einem Film vor, leider keine Heimatschnulze, eher eine Tragödie mit unglücklichem Ausgang für den Hauptdarsteller. Er weiß bis heute nicht, ob er damals wirklich den Richtigen ermittelt hat, dabei war es keine Lappalie, es ging immerhin um einen Doppelmord. Am Ende hat er auch noch die Frau verloren, die seine große Liebe war. Dachte er jedenfalls, damals.
Nee, Helden sehen wirklich anders aus. Aber mich interessiert schon, ob der Kerl, der Lutz Strehlow ist, etwas mit der toten Frau zu tun hat.
Er passiert die Stelle seines Sturzes, bleibt stehen, kann aber beim besten Willen keine Spuren auf den Holzbrettern ausmachen, obwohl ihn Lucie nasentechnisch nach Kräften unterstützt.
Eigentlich weiß ich auch gar nicht, was ich hier finden sollte. Vielleicht 'ne Visitenkarte?
Dann fällt sein Blick auf die andere Seite. Da, direkt unter ihm, fließt das Tegeler Fließ in den Tegeler See, wobei fließen etwas übertrieben ist. Das dunkle Wasser wirkt erschöpft, träge, hat schließlich von seiner Quelle bis hierher 30 km zurückgelegt. Am Ufer, von hier oben gesehen links des kleinen Flüsschens, drängen sich Grundstück an Grundstück, hübsch herausgeputzte Häuschen, jedes für sich ein Kleinod. Dazwischen liegen größere Parzellen traditionsreicher Tegeler Wassersportvereine. Bruno erkennt Schuppen und Unterstände, in denen offenbar die Boote aufbewahrt werden.
Sieh mal an, feiern können die scheinbar auch. Das Vereinsheim sieht richtig urig aus und dann der große Grill und die Holzbänke und Stühle, richtige Biergartenatmosphäre… Kann ich mir auch gut vorstellen. Aber eins fällt mir auf, von dieser Seite kommt ein Fremder offensichtlich nicht an das Ufer, da müsste er über eines der Grundstücke… Das muss ich mir genauer ansehen.
Die andere Uferseite wird durch eine schmale Insel gebildet, die über ihre gesamte Länge das Tegeler Hafenbecken vom Tegeler Fließ trennt. Auf dieser Insel stützen sich auch die beiden Brückenpfeiler ab, deren obere Plattformen irgendwie für Brunos Unfall verantwortlich sind. Der Tegeler Hafen an sich ist schon ewig außer Betrieb, zumindest gemäß seiner ursprünglichen Bestimmung, aber Bruno kann sich noch gut an die Zeiten erinnern, wo schwerbeladene Lastkähne über den See stampften. Kohle, Kies, Holz wurde im Hafen umgeschlagen, auch Getreide für die am Hafenende befindliche Humboldt-Mühle. Im Gegensatz zu heute hatten damals nicht alle Schiffe eigene Antriebe und Bruno hat noch genau das Bild vor Augen, wie schwarz qualmende Schleppdampfer bis zu vier, fünf Lastkähne im Schlepptau hatten und wie die hoch aufragenden Schornsteine umgelegt werden konnten, wenn eine Brücke passiert werden musste, auch hier bei der Sechserbrücke.
"Weißt du was, Lucie, wir gehen da mal hinunter. Da war ich auch schon ewig nicht mehr. Ein ehemaliger Schulfreund wohnte da drüben, Werner Bargfrede, der ist übrigens Tierarzt geworden…"
Bruno meint zu spüren, wie Lucie erschrickt, jedenfalls hat sie sich ganz dicht an sein rechtes Bein gedrängt. Dann folgt sie ihm aber willig die Brückentreppe hinunter. Die Brücke hat mit dem Abgang auf dieser Seite auch das Fließ überquert und sie gehen bis zur nächsten Querstraße, die sich mehr als einfacher Sandweg zeigt.
'Siedlung am Fließ', das muss der Zugangsweg zu den ganzen Wassergrundstücken sein, da parken auch ein paar Autos.
Tatsächlich weist ein am Anfang des Weges aufgestelltes Schild darauf hin, dass es sich um eine Privatstraße handelt und der Durchgang auf eigene Gefahr geschieht. Bruno schlendert mit Lucie wie ein Spaziergänger den Weg entlang. Die links und rechts des Weges liegenden Grundstücke sehen von hier unten nicht mehr ganz so idyllisch aus, wie es der Blick von der Sechserbrücke versprochen hat. Vieles erinnert an eine Kleingartensiedlung, aber offensichtlich werden die Häuser nicht nur als Wochenenddomizil genutzt. Postkästen, Namensschilder und parkende Autos deuten eher darauf hin, dass die Bewohner hier ihren festen Wohnsitz haben. Nach etwa 100 Metern erreicht Bruno das erste Vereinsgelände, ein Kanuverein. Er registriert das Betretungsverbot, das an der einzigen Zugangstür angebracht ist und das vorschreibt, dass Fremde nur in Begleitung von Vereinsmitgliedern das Gelände betreten dürfen. Vor dem Zaun parkt ein dunkelblauer Opel Astra mit Berliner Kennzeichen. Bruno geht ein paar Schritte weiter, bis er einen besseren Einblick in das Vereinsgelände hat und erkennt einen weißhaarigen Mann, der offensichtlich dabei ist Laub zu fegen. Der Mann wendet Bruno den Rücken zu und der sieht, wie ein leichter aber zerstörerischer Windstoß einen Großteil der Arbeit des Mannes kaputt macht.
Schönen Gruß von Herrn Sisyphus, dann kannst du ja mal deine Arbeit unterbrechen…
"Hallo, darf ich Sie mal etwas fragen?"
Der Mann hebt den Kopf, schaut auf seine Armbanduhr, stellt den Besen an die Wand und kommt langsam schlurfend zu Bruno an den Zaun.
"Tach, um watt jehtit denn?"
"Guten Tag, mein Name ist Hallstein. Ich bin freier Mitarbeiter beim Wagner-Verlag, Berlin-Friedrichshagen…"
"Wagner-Verlach? Nie jehört."
"Nun ja, wir sind ein sehr kleiner Buchverlag und erst seit dem Fall der Mauer auf dem Markt. Unser Geschäftsführer verfolgt aber die Idee, dass nur die saubere Recherche und authentische Beschreibung…, also Klasse statt Masse, Sie verstehen?"
"Ja, Bahnhof, watt wolln Se denn nu von mir? Doch keen Buch schreim oda?"
"Na nicht direkt über Sie, aber darin vorkommen könnten Sie schon, wenn Sie einverstanden sind. Nein, ich schreibe Kriminalgeschichten und suche immer nach realen Hintergründen, wissen Sie? Und da habe ich heute Morgen in meiner Zeitung gelesen, dass hier gestern eine Frauenleiche gefunden wurde. Und da wollte ich einfach nur mal…"
"Ach so, jetzt wird 'n Schuh draus, Sie komm wegen der toten Wassaleiche! Hättik ma ja gleich denken könn. Sie sind nich der erste, da war'n schon zwe andere da, so vor 'na Stunde. Die ham mir Löcher in'n Bauch jefraacht."
"Polizei?"
"Nee, Kolleeng von Ihn', vonne Zeitung, wat wees ick. Die war'n ziemlich kess. Ick hab se denn einfach steh'n lassen, weilet mir zu bunt wurde. Ick habe ja och janischt jesehen. Jestern Amnd warick ja zu Hause, war ja Sonntach, da binick nie da. Außadem muss dit viel weita ohm jewesen sein, da wo de Lauben zu Ende sind. Da ham se se wohl jefundn. Da sollten Se mal reschaschian, wie Se so schön saang. Ick wees nischt. Kommick denn nu in Ihr Buch vor? Wär ja schön uff meine alten Taare."
"Da werde ich drüber nachdenken und sage Ihnen Bescheid. Sie sind doch sicher öfter hier oder?"
"Jeden Tach, von Montach bis Sonnamd, nur, wie jesacht, Sonntachs nich. Imma von zehne bis so zirka sechzehn Uhr. Wennick nich zu sehen bin, fraang se einfach een von den Jungs hier."
"Und nach wen soll ich fragen, Ihr Name?"
"Ach so, habick ja noch ja nich gesacht, Walter, einfach nach Walter fraang, die wissen denn schon."
"In Ordnung, haben Sie vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen. Wiedersehen."
"Tschöö, der Mensch hilft doch jerne. Aber eene Frare noch, watt issn dit fürn Hund? Der sieht ja schön aus."
Lucie widmet ihre Aufmerksamkeit augenblicklich dem Mann und ihr Schwanz wedelt mit dem ganzen Körper.
"Das ist ein Irischer Setter, also genau genommen eine Sie, Lucie heißt sie."
"Na denn, Lucie, schönet Hundeleben. Wenn dein Herrchen mal nich mehr will, kannste zu mir komm."
Bruno muss schon ein wenig energischer an Lucies Leine ziehen und auch noch nach zehn Metern läuft sie mit nach hinten gewandtem Kopf, obwohl ihr neuer Freund Walter schon nicht mehr zu sehen ist. Nach weiteren 200 Metern biegt der Sandweg im Rechten Winkel nach links, um dort in die Gabrielenstraße zu münden. Bruno beschließt aber den gleichen Weg zurückzugehen. In der Höhe des Kanuvereins, der jetzt auf der linken Seite liegt, wird Lucie unruhig und drängt Bruno hinüber zum Zaun, dem Ort ihrer Liebeserklärung.
"Mann, Hund, dein Freund ist nicht zu sehen, der macht bestimmt Mittagspause. Komm jetzt, ich kriege auch langsam Hunger!"
Kurz vor dem Brückenaufgang wendet sich Bruno nach links und kann von hier sehen, dass der Brückenpfeiler mit der Wendeltreppe unten eine Stahltür hat, die wohl den Ausgang ermöglicht, oder den Eingang, wenn man von hier unten nach oben will. Trotz der Entfernung kann Bruno erkennen, dass diese Tür ebenfalls ein Sicherheitsschloss hat.
Hmm, wenn man den passenden Schlüssel hätte, könnte man von der Brücke direkt auf dieser schmalen Insel landen und hätte den Zugang zum Fließ. Aber der Typ gestern kam von links, also vom Treppenaufgang. Wenn der über die Wendeltreppe hochgekommen wäre, hätte ich das gehört und der hätte mich gesehen… Dann wäre es gar nicht zu dem Zusammenstoß gekommen. Vielleicht sollte ich Kanu-Walter nochmal befragen. Vielleicht weiß der, wer einen Schlüssel hat.
Der Hunger treibt Bruno an und er hat Lucie an die kurze Leine genommen. Zielstrebig landen sie nach ein paar Minuten bei der 'Mühle', um den Schock des Tages zu erleben: Montags Ruhetag!
Mist, das glaub ich jetzt nicht… Ruhetag, seit wann das denn? Sag bloß seit heute… Wir haben Anfang Oktober, stimmt überhaupt. Von Oktober bis Mitte März macht Harry montags Wellness, da hättest du mir ja mal einen Tipp geben können, Lucie… Pass auf, jetzt machen wir etwas, was wir noch nie gemacht haben, jedenfalls nicht wir beide.
Kurze Zeit später stehen sie an dem Imbiss, wo es Sonntagabend so verführerisch in Lucies Nase gekitzelt hat. Bruno bestellt zwei Frikadellen mit Senf, eine Cola und für Lucie ein Paar Wiener Würstchen.
"Lucie, das bleibt aber unter uns…"
Im Hausflur ist es angenehm kühl und Bruno lässt Lucie von der Leine, endlich. Sie ergreift sofort die Flucht und geht schon voraus, während Bruno noch einen Blick auf seinen Hausbriefkasten wirft. Normalerweise bekommt er montags selten Post aber diesmal scheint etwas Weißes durch das Sichtfenster. Er schließt das Fach auf und entnimmt einen Briefumschlag, der zwar seine Adresse aber keinen Absender trägt. So ohne Lesebrille macht es keinen Sinn, den Brief zu öffnen, also ab in die Jackentasche. Er kommt etwas außer Atem vor seiner Wohnungstür an, vor der Lucie schon einige Pirouetten gedreht hat.
"Ja, ich komme ja schon, bin schließlich schon etwas älter."
In der Wohnung stellt er Lucie als erstes den Napf mit frischem Wasser hin und hängt dann seine Jacke und das Hundegeschirr an die Garderobenhaken. Dann ein Blick in den Kühlschrank, genau noch eine Flasche Bier, die muss jetzt dran glauben, sofort. In dem Kramfach, wo normalerweise alles zu finden ist, fehlt ausgerechnet der Flaschenöffner. Also geht er mit der Flasche ins Wohnzimmer und nimmt aus seinem alten Eckschrank ein Bierglas und den Öffner. Der erste Schluck geht runter wie Öl. Obwohl, der Vergleich…mit Öl… und dann mit Kohlensäure und kalt, naja. Bruno hat es sich in seinem Sessel bequem gemacht und schaut auf sein Smartphone, zwei neue Nachrichten und eine Email. Hat er mal wieder nicht gemerkt. Die erste Nachricht ist von seiner Schwester, 'War heute bei Mutti, soll dich grüßen und fragen, wann du dich mal wieder sehen lässt. Ich glaube es geht ihr nicht gut, ruf mich mal an.' Die zweite Nachricht kommt von Harry, 'Schöne Grüße aus München, war gestern mit Tina im Englischen Garten, Kaiserwetter und zwei Maß Bier, wäre was für dich. Bis Mittwoch, grüß mir Lucie.'
Tina, Harrys hübsche Tochter und dann noch Kaiserwetter im Biergarten, hätte mir wirklich auch gut gepasst, aber für mich bleiben nur tote Frauen…
Bruno öffnet die Email und löscht sie gleich wieder. Irgendein Getränke-Onlinehandel, bei dem er vor Jahren mal eine relative seltene Whiskysorte als Geschenk für einen Freund gekauft hat, versorgt ihn regelmäßig mit äußerst wichtigen Newslettern, und obwohl er diese schon zigmal abbestellt hat, bekommt er sie immer wieder. Er trinkt den letzten Schluck Bier aus und steht auf, um das Glas in die Küche zu bringen.
Mensch, der Brief! Habe ich ja ganz vergessen. Ohne Absender, wo der wohl her ist?
Während Bruno zurück ins Wohnzimmer geht öffnet er den Umschlag und fischt ein weißes DIN A4 Blatt heraus. Der Text ist gedruckt, wohl das Produkt eines PC, nur die unleserliche Unterschrift ist mit einem blauen Kugelschreiber hingekritzelt worden.
Lieber Bruno,
hoffentlich erreicht dich der Brief überhaubt. Ich habe unzählige Tage damit verbracht, alle Adressen unserer Klasse aufzutreiben aber ob die immer alle aktuell sind, weiß man natürlich nicht. Ja, ich habe vor, ein Klassentreffen zu organisieren! Hammer oder? Stell dir vor, ein Wiedersehen der G10b von 1964. Als Termin habe ich mir den 7.10. um 20.00 Uhr überlegt, ist ein Freitag, da können alle am nächsten Morgen ausschlafen (Hahaha). Wir machen das bei mir, ich habe genug Platz. Für Essen und Trinken wird gesorgt. Also ziehr dich nicht und komm. Würde mich riesig freuen.
Zusagen an: Lutz Strehlow
Im Sandfeld 1
13467 Berlin (Hermsdorf)
L.S.-Immo@immmak.de
Bruno ist froh, dass er sitzt. In seinem Kopf rotieren wildeste Gedanken, Kettenkarussell, Walzerbahn, Autoskooter, alles auf einmal.
Ich glaube, ich verblöde. Das kann doch nicht wahr sein! Jahrzehnte nichts von Lutz Strehlow gehört, nicht mal an ihn gedacht. Der war völlig aus meinem Erinnerungsspeicher verschwunden, nicht mal mehr im Unterbewusstsein, alles gelöscht und jetzt…, jetzt rennt der mich um, dass ich mir fast die Knochen breche und am nächsten Tag lädt er mich zum Klassentreffen ein… und dann so kurzfristig. Ist das noch normal?
Immer wieder fliegen die Blicke über das beschriebene Blatt Papier.
Na, Rechtschreibung war ja noch nie deine Stärke. Aber eine eigene Email-Domäne…Immo…immmak… hört sich verstärkt nach Immobilienmakler an. Das würde auch zu dir passen, Lutz Strehlow.
Bruno wirft den Brief auf den Couchtisch und geht in die Küche. Ein weiterer Blick in den Kühlschrank zaubert auch kein zweites Bier herbei. Also schaltet er die Kaffeemaschine ein. Nach kurzem Erhitzen des Wassers legt er ein Kaffeepad in die Maschine und beobachtet andächtig, wie zwei Kaffeestrahlen unter lautem Getöse die Tasse füllen. Der erste Schluck ist zu heiß und er stellt die Tasse noch einmal ab.
Was mache ich denn jetzt? Warten bis Freitag? Andererseits hat er ja seine Adresse hinterlassen, da könnte ich ihm ja einen Besuch abstatten. Hermsdorf, Sandfeld, kenn ich gar nicht, kommt das Navi mal zum Einsatz. Aber wenn der jetzt was mit der toten Frau zu tun hat, dann hat der mich auch erkannt und das ganze ist eine Falle. Ich sollte einfach zur Polizei gehen und denen erklären, was mir passiert ist…, aber wie erkläre ich denen, dass ich nicht gleich gekommen bin? Und wenn der Strehlow gar nichts damit zu tun hat, würde ich ihn unnötig belasten…, wäre mir eigentlich schnurzpiepegal. Aber warte mal, heute ist doch Feiertag und gestern auch keine Post…, der Brief muss doch schon seit Sonnabend im Kasten gelegen haben! Jetzt blicke ich überhaupt nicht mehr durch. Ich werde in Anbetracht des Getränkenotstands nachher nochmal zur Tanke fahren, und morgen Vormittag statte ich dem Walter von der Kanugarage nochmal einen Besuch ab. Würde mich schon mal interessieren, wie das da mit dem Schlüssel ist…, und dann kann ich ja doch einmal in Hermsdorf vorbeischauen, wenigsten von weitem. Mein Auto kann er ja nicht kennen…