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Berlin, Sonnabend, 03.10.2015
ОглавлениеBruno Hallstein rollt sich von einer Seite auf die andere, quasi Rollkur. Seit mindestens einer Stunde versucht er die Hilferufe seiner gequälten Blase zu ignorieren. Dabei ist er ziemlich rücksichtslos und undankbar, denn schließlich ist er schuld daran, dass sein Körperorgan schon gestern den ganzen Tag über hat sehr fleißig arbeiten müssen. Morgens schon mal drei Tassen Kaffee. Da muss man nicht viel zu sagen, Kaffee treibt. Dann war er mittags bei seinem Freund Harry, nur einen kleinen Imbiss einnehmen, aber auch da zwei kleine Biere und jeder weiß, was für Kaffee gilt, gilt erst recht für Bier. Am Abend schließlich waren Karla und er im 'da Vinci', ihrem mittlerweile neuen Lieblingsitaliener, und haben traditionell den Vorabend des dritten Oktober gefeiert, den Tag der Deutschen Einheit. Wobei, Deutsche Einheit hin oder her, erst mal jeder ein Glas Prosecco, so eine Art Begrüßungsschluck. Die beiden Inhaber, Laura und Fabrizio, ein schwarz gelocktes Zwillingspaar, waren in Deutschland geboren, italienischer Vater, Gastarbeiter und so, würde jetzt zu weit führen. Mit achtzehn waren sie jedenfalls ihrem Vater nach Sizilien gefolgt. Die Mutter kennt Bruno gut, Frau Krause, eine nach außen hin sehr verbittert und zänkisch wirkende Frau, die aber seit der Wiederkehr ihrer Kinder vor zwei Jahren wie ausgewechselt ist. Was hat sich Bruno früher mit ihr schon in der Wolle gehabt. Sie wohnt im gleichen Haus, nur ganz unten, parterre, führte sich auch ganz gern wie eine Pariser Concierge auf, besonders Bruno gegenüber. Jetzt haben sie aber Frieden geschlossen und Bruno findet sie inzwischen richtig sympathisch, kann sogar eine gewisse Schönheit an ihr ausmachen. Aber zurück zum Thema. Zum Essen natürlich eine Flasche Wein, dann noch Wasser und zum Abschluss nochmal Kaffee. Dummerweise blieb Karla an diesem Abend nicht in Tegel, nahm sich ein Taxi und ließ sich zu ihrer eigenen Wohnung nach Hermsdorf bringen. So war Bruno ohne Aufsicht. Glotze an, Glotze aus, kurzes Intermezzo am PC, schließlich ein älterer Bildband über die Geschichte der Berliner S-Bahn und leise Musik von Jan Garbarek. Da kann man schon mal die Kontrolle verlieren, auf gut Deutsch, noch zwei Flaschen Bier, wenn nicht drei.
So, und nun hilft auch nichts mehr, Bruno gibt sich geschlagen und muss hoch. Der Blick auf den Radiowecker gibt ihm den Rest. Es ist inzwischen fast 10:00 Uhr. Liegt vielleicht auch daran, dass er ganz gegen seine sonstige Gewohnheit die Rollläden heruntergelassen hatte. Normalerweise schläft er sogar bei offenem Fenster aber seine Freunde, die Meteorologen, hatten gestern den ganzen Tag vor stürmischen Böen für die Nacht gewarnt. Dann macht Bruno immer die Schotten dicht. Er hasst Sturm. Er drückt den Schalter für das Öffnen der Rollläden, wartet aber gar nicht erst ab, bis das helle Tageslicht seine Augen strapaziert, dafür hat er es zu eilig. Nach einer guten halben Stunde verlässt Bruno wieder das Bad, total runderneuert. Frisch geduscht und rasiert, mit geputzten Zähnen, frischen Klamotten und vor allen Dingen ohne Überdruck auf der Blase. Sein nächster Gang führt ihn in die Küche, erst mal Kaffee, mindestens zwei Tassen. Seit er sich diesen Kaffeevollautomaten zugelegt hat, ist sein Konsum des schwarzen Getränks zwar deutlich angestiegen, aber er genießt auch mehr, weil der Kaffee einfach besser schmeckt, und das ist die zentrale Bedeutung für Bruno Hallstein. Außerdem, so als alter Ingenieur liebt er technisches Equipment natürlich über alles. Heißer und frischer Kaffee auf Knopfdruck, einen besseren Start in den Tag gibt's nicht. Im Gegensatz dazu gibt der Kühlschrank nicht viel her und Bruno beschließt auswärts zu frühstücken. Er wirft einen kurzen Blick aus dem Fenster und sieht, dass es wohl trocken ist und von starkem Wind keine Spur, geschweige denn Sturm. Er zieht seine erst kürzlich erworbene neue Jacke über. Das war auch so ein Ding. Eigentlich wollte er neulich gar keine Jacke kaufen. Aber eine äußerst beeindruckende Verkäuferin folgte ihm auf dem Fuße, kaum dass er den Herrenausstatter betreten hatte. Ursprünglich wollte er nur mal ein bisschen stöbern, natürlich allein und nun diese Frau. Als sie ihn dann auch noch fragte, ob sie ihm helfen könne, hatte er schon die Nase voll. Ihm gingen einige blöde Antworten durch den Kopf. Er entschied sich für die blödeste und fragte nach einer Jacke mit möglichst vielen Taschen, in der man aber nicht wie Schimanski aussehen würde. Sie sah ihn daraufhin etwas gequält an und er hoffte schon, dass er sie erwischt hatte, aber zu früh gefreut. Sie verschwand hinter einem fahrbaren Kleiderständer, schob ein paar quietschende Kleiderbügel zur Seite und erschien prompt mit einer blauen Jacke im Arm, also sowas von blau, neonblau nichts dagegen. Die Jacke war noch gar nicht ausgepreist, gerade erst reingekommen. Bruno war zunächst einmal entrüstet, dass sie ihm eine 56 ausgewählt hatte, aber als er sie dann überzog und sich im Spiegel anschaute, musste er zugeben, wie angegossen. Nichts klemmte oder spannte, außen zwei, innen vier Taschen, zwei davon mit Reißverschluss. Der Stoff wirkte leicht aber trotzdem strapazierfähig, und die Farbe? Mein Gott, das trägt man heutzutage so. Die Verkäuferin war voll des Lobes, einmal hob sie natürlich die Eigenschaften der Jacke hervor, dann aber auch Lob für Bruno. Die Jacke passe hervorragend und sei ihm auf den Leib geschneidert und die Farbe stehe ihm ausgezeichnet, würde ihn jünger machen. Außerdem würde er viel Freude an ihr haben und regensicher sei sie auch, sogar mit einer im Kragen integrierten Kapuze, und Schimanski, nun ja, manche Männer stünden auf Schimanskijacken, aber diese Jacke hier sei mehr sportlich, dynamisch, atmungsaktiv und trotzdem wasserdicht bis zu einer Wassersäule von 10.000 mm. Wenn Bruno nicht alles täuschte waren das ziemlich genau zehn Meter! Er überlegte krampfhaft, ob er sich schon einmal in einer Situation befunden hatte, die mit einer auf ihm lastenden Wassersäule von zehn Metern Länge vergleichbar gewesen wäre. Er kam zu keinem Ergebnis. Meist sucht er bei Regen die nächstmöglichen Räumlichkeiten auf und Kapuzen, also Bruno mag keine Kapuzen, weil er darunter nicht vernünftig hören kann, schon gar nicht wenn auch noch eine zehn Meter hohe Wassersäule auf ihr lastet. Letztlich nahm er die Jacke dann aber doch, ihn hatte die Atmungsaktivität überzeugt und die zweilagige Superdry-Membran und die verschweißten Nähte und natürlich die schmeichelnde Passform, nicht zu vergessen die jünger machende Farbe und die beeindruckende Verkäuferin sowieso. Soweit diese Geschichte.
Bruno kontrolliert noch einmal, ob er alle wichtigen Dinge, wie Portmonee, Smartphone, Schlüssel, Taschentücher dabei hat und verlässt dann seine Wohnung im zweiten Stock. Im Hausflur unten angekommen, kann er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Bis vor kurzem hätte er jede Wette angenommen, dass Frau Krause, also die Mutter der beiden italienischen Restaurantbetreiber, genau dann herauskommt, wenn er die Treppe heruntersteigt, um natürlich rein zufällig gerade dann ihr Namensschild zu polieren. Aber wie schon gesagt, seit der Deeskalation ihres Verhältnisses hat sich das gelegt. Jetzt bedauert er es sogar, dass sie sich nur noch selten sehen.
Vielleicht sollte ich sie mal zum Essen einladen, muss ja Karla nicht unbedingt wissen. Obwohl, Karla würde doch nicht auf Frau Krause eifersüchtig sein…, oder?
Auf der Straße empfängt ihn eine leichte Brise. Die Sonne scheint von einem fast wolkenlosen Himmel und bringt das herbstliche Laub zum Leuchten. Es ist auch erstaunlich mild und Bruno lässt seine Jacke offen, obwohl atmungsaktiv. Auf dem Weg zum Tegel Center trifft er erstaunlich wenige Menschen, und als er vor den verschlossenen Toren steht, weiß er auch warum, Tag der Deutschen Einheit.
Scheiße, also den Feiertag habe ich immer noch nicht drauf, und nun? Da ist mein Frühstück wohl gestorben.
Er überquert die Berliner Straße und geht automatisch die Straße Alt-Tegel hinunter, die ihn Richtung Seepromenade führen soll. Hier besteht nämlich am ehesten die Chance etwas Essbares zu finden. Gleich an der ersten Ecke auf der linken Seite hat eine Imbissbude geöffnet und er überlegt, ob man sich um kurz vor Elf schon mal eine Bulette oder eine Currywurst gönnen kann, möglichst noch 'ne Dose Bier dazu. Bleibt aber ein kurzes Hirngespinst, ihm ist mehr nach Kaffee und frischen Brötchen mit Wurst oder Käse oder beidem. Dabei kommt ihm eine Idee, die Idee überhaupt. Er ändert seinen Plan, geht die Treskowstraße hoch, an seiner alten Grundschule vorbei, bis zur Brunowstraße, dann links hoch, muss wieder die Berliner Straße überqueren und steht kurz danach vor Ünals Supermarkt. Er geht dort eigentlich sehr häufig und gerne einkaufen. Deshalb fiel ihm vorhin auch ein, dass Ünal sein Angebot um einen kleinen Backshop erweitert hat, und, was das Wichtigste ist, er hat jeden Tag auf, auch sonntags und an Deutschen Einheitstagen. Bruno findet sogar noch einen freien Platz in einer winzigen Ecke und hängt seine Jacke über die Stuhllehne. Dann sucht er sich am Tresen drei halbe belegte Brötchen aus, Salami, Salami und Salami, sozusagen Brunos Formel für ausgewogene Ernährung. Aber heute ist ein Tag, wo er alles richtig machen will, also sieht er sich gezwungen noch ein halbes Brötchen dazu zu nehmen, Käse. Den Kaffee lässt er schwarz und balanciert das kleine überladene Tablett zu seinem Platz. Ünal hat er noch gar nicht gesehen, vielleicht hat der ja an Feiertagen frei, sozusagen Chefbonus, zuzutrauen wäre es ihm. Egal, das Frühstück ist ganz nach Brunos Geschmack, lecker und ohne Arbeit für ihn. Er holt sich auch noch einen zweiten Kaffee, meine Güte, was soll's, er wird sich schon rechtzeitig um seine Blase kümmern.
Beim Verlassen des Supermarktes begegnet er Ünal doch noch. Der kommt wohl gerade aus dem Keller mit einem großen weißen Karton, der ziemlich schwer zu sein scheint.
"Grüß dich, Hallstein, hab dich gar nicht kommen sehen. War alles recht?"
"Tach, Ünal, jaja, alles bestens. Hast heute ein Alleinstellungsmerkmal, also rein frühstückstechnisch. Alle anderen haben zu, nur wegen dieser blöden Wiedervereinigung."
"Blöd? Ich dachte immer ihr Deutschen seid froh, dass ihr wieder eins seid."
"Ja, habe ich auch mal geglaubt, aber du siehst ja, kaum werden wir als Nation mal gefordert, treten die Unterschiede wieder deutlich zutage."
"Du meinst PEGIDA?"
"Ach, nicht nur die. Schau dich doch mal um, die erkennst du schon an der Terminologie. Völkisch, National, Patriotismus, Deutschtum, Rückbesinnung, Säuberung, ich bekomme 'ne Krise, was sich da entwickelt. Hinzu kommt noch die Präsenz. Unter dem Deckmantel 'Wir sind das Volk' treten sie regelmäßig in Erscheinung und predigen Fremdenhass, Rassismus und schreien ihre Drohungen heraus, ganz offen und ganz laut. Die Zeiten sind vorbei, wo solche Bewegungen im Untergrund agierten. Sie sind gesellschaftsfähig geworden, treten nicht nur bei selbst organisierten Veranstaltungen auf, sondern werden auch zu Polit-Talkshows im Fernsehen eingeladen. Selbst die Menschen, die man bisher für integer und human gehalten hat, entdecken für sich den neuen, alten Wortschatz. Das Kotzen kriege ich, wenn dann auch noch von unseren christlichen Grundwerten schwadroniert wird. Für mich der Beweis, dass es gar keinen Gott geben kann und auch keinen Sohn, sonst würde der sich, nach allem, was in der Bibel steht, nicht mit seinem Namen von dieser Bewegung vereinnahmen lassen."
"Ach komm, Hallstein, es gibt auch positive Beispiele. Guck mal, als ich geboren wurde, waren meine Eltern gerade aus dem tiefsten Anatolien nach Berlin gekommen. Mein Vater versuchte erst gar nicht uns Kinder streng religiös zu erziehen, obwohl er ein sehr gläubiger Muslim war. Aber meine Mutter hat ihn immer ermahnt und darauf hingewiesen, dass wir freiwillig in dieses Land gekommen waren, wie gut es uns nun ginge, dass er Arbeit hätte, regelmäßig Geld verdienen würde und dass wir dafür dankbar sein sollten, nicht Allah, sondern den Menschen gegenüber, die uns diese neue Heimat boten. Meine Mutter war sehr pragmatisch und da mein Vater sie über alles liebte, ließ er sie gewähren. Sie hat uns erzogen, wenn du so willst mit christlichen Werten. Dass man uns unsere alte Heimat ansah, konnte sie auch nicht ändern aber meine Schwester musste kein Kopftuch tragen und wir mussten auch nicht beten. Wenn du so willst, ein ganz normales Familienleben. Der einzige Zwang, den wir Kinder als solchen auch empfunden haben, war die Schule. Da aber war meine Mutter unnachgiebig. Sie wusste instinktiv, dass Bildung gerade für uns eine wichtige Voraussetzung war, um hier zu bestehen, obwohl sie selbst auf keine sechs Jahre Schulausbildung kam. Heute bin ich dankbar und meine Schwester Güler auch. Unter meinen Kunden gibt es auch nicht einen einzigen, der sich schon mal in irgendeiner Form ablehnend uns gegenüber geäußert hätte. Sei nicht so pessimistisch, Hallstein, hier, ein Wiedervereinigungstropfen."
Ünal hat den weißen Pappkarton in einen leeren Einkaufswagen gestellt und mit einem Taschenmesser geöffnet. Er entnimmt eine dunkelgrüne Flasche und reicht sie Bruno. Sofort fliegt ein Lächeln über sein Gesicht und er ist fast gerührt. Eine Flasche Grüner Veltliner Smaragd aus der Wachau hat ihn wieder geerdet.
"Hast recht, wir sollten uns nicht unterkriegen lassen. Danke vielmals, den werde ich heute Abend zur Feier des Tages köpfen, aber erst muss er mal kalt werden, mach's jut, Ünal."
Bruno hat sein Geschenk in die Innentasche seiner Jacke gesteckt, ist ihm unangenehm mit einer Flasche so über die Straße zu laufen. Zum Glück hat er es ja nicht weit. Als er die Fahrbahn überquert, fällt sein Blick automatisch auf sein Auto, einen alten Subaru Forester. Die Vögel haben wieder ganze Arbeit geleistet. Das ist eben der Nachteil, wenn man feste Parkplätze zugeordnet bekommt. Erst waren sie alle froh im Haus, als die Hausverwaltung es endlich durchgesetzt hatte, dass alle Besitzer der Eigentumswohnungen auch einen festen PKW-Stellplatz bekamen. Aber schon nach kurzer Zeit hatte Bruno bemerkt, dass alte Linden nicht gerade autofreundlich sind. Mal sind es die klebrigen Punkte auf der Scheibe, auch Honigtau genannt, mal die weißen Kleckse der unzähligen Vögel, auch Vogelscheiße genannt.
Ich fürchte, ich muss wohl mal durch den Autowasch fahren. Hoffentlich haben die wenigstens auf. Nachher feiern die heute auch die Wiedervereinigung. Aber zu so einem bedeutenden Tag müssen deutsche Autos doch sauber sein…
Bruno steht vor seiner Wohnung und auch diesmal konnte er die Tür zu Frau Krauses Wohnung passieren, ohne dass die in Erscheinung trat. Daran muss er sich erst noch gewöhnen. Die Weinflasche landet im Kühlschrank und die Jacke am Garderobenhaken. Dann wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr und überlegt, ob er jetzt Karla anrufen soll oder nicht. Ein wenig pikiert war er gestern Abend schon, dass sie so sang und klanglos nach Hause gefahren ist, schließlich waren sie seit zwei Jahren verlobt, was in seinem Alter natürlich völlig normal ist, so mit siebenundsechzig.
Aber ich könnte auch gleich direkt zu ihr hinfahren. Dann kann ich auf dem Weg dahin gleich noch meine Chaise waschen lassen.
Also Jacke wieder an und runter. Diesmal bleibt er im Hausflur nicht allein. Jetzt muss man wissen, Bruno hat ein Frauenproblem, wobei er das gar nicht als Problem empfindet, aber welcher Alkoholiker weiß schon, dass er einer ist? Okay, der Vergleich hinkt, aber irgendwie auch wieder nicht. Allein die letzten sechs Jahre waren Jahre voller Irritationen. Immer wieder traten Frauen in sein Leben, die ihn faszinierten, mal auf die eine, mal auf die andere Art. Einige zeigten ihm die Grenzen auf und machten deutlich, dass er nicht hoffen durfte, andere schieden von vornherein aus, schon aus Altersgründen, also seinem Alter natürlich. Andere wiederum versuchten mit ihm eine reale Beziehung einzugehen, aktuell Karla, immerhin verlobt mit ihm. Man sollte eigentlich meinen, dass ein Mann wie Bruno irgendwann mal seinen Hafen gefunden hat, um das mal poetisch auszudrücken. Gerade mit Karla hatte er ja einen Hauptgewinn gezogen. Aber das zu erkennen ist genau Brunos Schwäche. Nun ist die Frau, die ihm da im Hausflur begegnet auch nicht Frau Krause, die wäre ja an sich überhaupt kein Problem. Das Problem ist diese Frau mit ihrem kastanienbraunen Haar und ihrem Sophia-Loren-Gesicht. Da würde wohl jeder Mann, na sagen wir mal, zumindest tief durchatmen. Wobei Bruno natürlich schon rein generationsmäßig einen Vorteil hat. Jüngere Männer haben Sophia Loren womöglich noch nie gesehen, kennen sie gar nicht. Bruno versucht es mit einem freundlichen Guten Tag. Die Frau grüßt zurück, auch freundlich, das muss man schon sagen, aber eben auch nicht mehr. Die macht ja jetzt nicht den Mantel auf und zeigt, dass sie auch sonst mit Sophia Loren mithalten kann. Also könnte Bruno eigentlich weitergehen und das war's. Aber genau das ist eben die Situation und jetzt doch der Vergleich mit einem Alkoholiker. Wenn der trocken ist, viele Monate, vielleicht Jahre, dann reicht der kleinste Schluck und er ist wieder in dem Dilemma. Bruno kann es sich also nicht verkneifen.
"Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Wollen Sie vielleicht zu mir?"
"Ne, wie kommen Sie darauf?"
"Naja, ich habe Sie noch nie hier gesehen, leider. Und ich kenne alle Leute im Haus. Wir sind ja seit Jahren die gleichen Bewohner."
"Na, scheinbar kennen Sie doch noch nicht alle."
So richtig freundlich hört sich das nicht an. Bruno versteht und entschuldigt sich. Er wollte nicht aufdringlich sein und so weiter. Draußen auf der Straße ärgert er sich über sich selbst.
Mein Gott, wie plump, da habe ich mich ja wieder mal selbst übertroffen. Ich hätte mich ja auch mal vorstellen können, obwohl, wäre sie da nicht in der Pflicht gewesen? Früher hat man sich als neuer Mieter oder Mitbewohner, Nachbar, was weiß ich, den anderen Mitmenschen vorgestellt. Naja, wenn ich sie richtig verstanden habe, dann scheint sie ja jetzt in unserem Haus zu wohnen. Dann werde ich sie ja noch öfter treffen, vielleicht stehen die Sterne dann etwas günstiger, wäre doch gelacht.
Und da sieht man mal wieder, er denkt in dem Augenblick nicht eine Sekunde darüber nach, dass er seit zwei Jahren einen Ring am Finger trägt. Er meint es gar nicht böse, ist einfach nur beeindruckt. Karla versus Sophia Loren, da kommt ja was auf ihn zu.
Er versucht mit Unterstützung von viel Scheibenwaschwasser etwas Klarsicht zu erzeugen. Doch allein das schleifende Geräusch der sich quälenden Scheibenwischer signalisiert schon: keine Chance, eher noch schlechter der Durchblick. Aber Bruno hat ja sowieso nie den vollen Durchblick, insofern Gewohnheit. Er fährt bis zur nächsten Tankstelle in der Berliner Straße und will sich beim Autowasch anstellen, sieht dann aber, dass das Rolltor zur Waschstraße verschlossen ist. So langsam stinkt ihm die Deutsche Einheit. Naja, zumindest kann er hier volltanken, der Spritpreis ist gerade relativ günstig. Während der Zapfhahn vor sich hin gurgelt nimmt sich Bruno einen herumstehenden Eimer mit Schwamm und Wischer und putzt die Frontscheibe. Diesmal wird es wesentlich besser, wobei das Dreckwasser, das er von der Glasfläche abzieht, seinen Weg über die seitliche Karosserie wählt und schöne Spuren hinterlässt. Bruno würde sich gerne die Hände waschen.
Der Tankwart hat rotgeränderte Augäpfel und nuschelt etwas von Waschanlage defekt, Kundendienst erst am Montag und reicht Bruno dabei einen kleinen Schlüssel, mit einem Plastikanhänger, auf dem 'WC' eingraviert ist. Die Tür ist gleich neben einem großen Kühlregal mit verschiedenen Getränkedosen und Plastikflaschen. Die Toilette ist winzig aber erstaunlich sauber und am Handwaschbecken gibt es einen Seifenspender und Papierhandtücher, was will man mehr.
***
Bruno hat sich in den Verkehr eingereiht, der auf dem Weg zur Autobahn Richtung Norden schleicht. Offensichtlich wollen viele Berliner am heutigen Tag ins ehemalige DDR-Umland, vielleicht ein bisschen Wiedervereinigung spüren, immerhin schon 25 Jahre her. Er fährt aber nicht auf die A 111, sondern verlässt die Auffahrt gleich wieder und biegt in den Hermsdorfer Damm ein, geradezu Richtung Karla. Seine Freisprechanlage funktioniert mal wieder nicht und so ist er zur Verkehrsordnungswidrigkeit gezwungen, wobei gezwungen nicht so ganz stimmt, er könnte ja auch mal kurz anhalten, aber an diesem Feiertag wird wohl keine Gefahr bestehen. Die Ordnungshüter sind bestimmt alle gebunden durch die ganzen Veranstaltungen zur Wiedervereinigung. Karla geht nicht an ihr Telefon, was gleichbedeutend ist, dass er überraschend vor der Tür stehen wird und das wiederum mag sie überhaupt nicht. Er ärgert sich im Nachhinein, dass sie sich gestern Abend nicht fest verabredet haben.
Und überhaupt, was soll das eigentlich, dass ich meine Besuche immer vorher anmelden muss? Wenn wir ein Paar wären und eine gemeinsame Wohnung hätten, dann würde ich doch auch nicht jedes Mal anrufen, bevor ich nach Hause käme. Als ob sie ein Geheimnis hütet. Vielleicht hat sie ja einen Lover.
Bruno hat den Hermsdorfer Damm verlassen und kurvt durch die kleinen Straßen dieser idyllischen Wohngegend direkt am Waldrand. Karlas Auto steht in der Einfahrt zur Garage, deren Tor aber geschlossen ist. Bruno passt gerade noch so dahinter und stellt seinen Wagen ganz dicht an den kleinen Fiat heran. Er steigt aus und geht die paar Meter zum Hauseingang über den Rasen. Auf dem Klingelbrett sind zwei Knöpfe, der untere für Dankert, der obere für Zinke, für Insider Karla Zinke. Bruno drückt einmal kurz und wartet etwas angespannt. Keine Reaktion, also noch einmal drücken, diesmal etwas länger. Bruno macht zwei, drei Schritte zurück, um nach oben zu sehen. Soweit er erkennen kann, sind alle Fenster zu, bis auf eines, das Küchenfenster steht auf Kipp. Bei Dankert braucht er es erst gar nicht zu versuchen. Die Hausbesitzer und Vermieter sind mal wieder unterwegs. Bruno erinnert sich, dass ihm Karla letzte Woche eine Ansichtskarte vom Gardasee gezeigt hat. Die beiden Alten sind ewig mit ihrem Wohnmobil auf Achse und wenn nicht das, dann sind sie oft auf Fernreisen mit dem Flieger unterwegs oder auf Kreuzfahrt. Dann haben sie auch noch Kinder weltweit verstreut, USA und Australien. Die muss man auch ab und zu besuchen. Früher hat sich Bruno auch immer vorgestellt, dass er im Ruhestand die ganze Welt bereisen würde, aber je länger er den Ruhestand real erlebt, desto mehr lässt dieser Drang nach, das pure Gegenteil von Blasendruck. Eigentlich ist er mit seinem jetzigen Leben ganz zufrieden, hat nicht so ein Unruhegefühl, unbedingt noch irgendetwas nachholen zu müssen. Nachdem er sein Ingenieurbüro vor ein paar Jahren an seinen Nachfolger verkauft hat, hat er sich diese Wohnung in Tegel leisten können und macht eigentlich nur noch das, was ihm Spaß macht. Er ist zwar kein Millionär, aber in seinem Rahmen kann er sich vieles leisten und mehr als gut essen und trinken kann der Mensch ohnehin nicht, also das ist jetzt das offizielle Glaubensbekenntnis von Bruno Hallstein, wohlbemerkt.
Er geht noch kurz bis zum Bürgersteig und schaut links und rechts die Straße hinunter, kein Mensch zu sehen. Überhaupt scheinen hier alle in ihren Häusern zu stecken oder irgendwo unterwegs zu sein. Das schöne Wetter hat die Menschen wohl noch einmal herausgelockt. Die Badesaison ist zwar lange vorbei aber man kann bestimmt noch gut draußen sitzen. Bruno ist das im Prinzip egal, er geht ohnehin nicht mehr baden, aber draußen sitzen ist eine gute Alternative. Ihm fällt auch schon ein lohnendes Ziel ein, Harry. Wieder im Auto versucht er noch einmal Karla telefonisch zu erreichen. Nix. Bruno setzt den Wagen zurück, dreht rückwärts in die schmale Straße hinein und fährt dann etwas schneller als es die 30-Zone Schilder vorschreiben Richtung Heimat. Genau an der Kreuzung Hermsdorfer Damm sieht er dann auf der gegenüberliegenden Straßenseite doch noch Menschen. Normalerweise würde ihn das nicht beunruhigen. Jetzt weiß er nicht, was er davon halten soll. Das nebeneinander spazierende Pärchen nimmt ihn gar nicht wahr, ist scheinbar sehr in ein Gespräch vertieft. Die dunkelhaarige Frau hat Bruno noch nie gesehen aber die andere sieht aus wie Karla, und er muss nicht genauer hinsehen, um zu wissen, es ist Karla. Obwohl der Querverkehr große Lücken bietet, in die er sich einordnen könnte, bleibt er immer noch stehen. Es wartet auch kein Auto hinter ihm, so dass er ohne Probleme abwarten kann, bis die zwei in seinem Rückspiegel auftauchen.
Na viel fehlt nicht und ich würde sagen, sehr vertraut. Sollte Karla etwa…? Quatsch! Vielleicht ist es ja auch ganz harmlos. Frauen gehen doch auch immer zusammen aufs Klo. Aber wieso hat sie mir nichts davon erzählt? Weshalb rennt die hier mit dieser Lady rum, während ich die ganze Zeit verzweifelt versuche sie zu erreichen. Dann war das wohl auch der Grund, weshalb sie gestern nicht bei mir geblieben ist. Na dann soll sie mich jetzt mal gerne haben. Ich schicke ihr noch eine Nachricht, dass ich sie nicht erreicht habe, mehrmals nicht erreicht habe, und dass ich zu Harry gehe. Dann kann sie ja nachkommen, wenn sie will…
Bruno schießt in die nächste Lücke, jetzt ziemlich riskant, wäre eigentlich nicht nötig gewesen. Er kann im Rückspiegel auch erkennen, dass der Fahrer irgendeine bezeichnende Geste macht. Eigentlich hat Bruno in seinem Leben ausreichend Gelegenheit gehabt, um mit solchen Situationen gelassen umgehen zu können. Trotzdem, allein der Fahrstil, mit dem er jetzt die Straße entlangfegt, zeigt, dass er alles andere als cool reagiert. Zum Glück verfügt sein schon etwas älteres Automobil nicht über die technischen Daten, um Brunos angeheizte Stimmung auch auf die Straße zu bringen. Es hat eigentlich eher einen defensiven Charakter, sehr solide und abwartend. Insofern passen sie im täglichen Leben ideal zueinander, zumindest wenn alles normal läuft, wenn Karla ihn nicht versetzt, um mit einer ihm fremden Frau spazieren zu gehen, wobei spazieren gehen und spazieren gehen, also da gibt es feine Abstufungen. Er kommt unfallfrei zu Hause an und entschließt sich, den Wagen auf seinem Platz abzustellen und den Rest des Weges zu Fuß zu gehen. Es ist inzwischen Nachmittag geworden und Bruno spürt auch einen leichten Appetit, aber blöde Zeit, zum Essen zu spät oder zu früh, wie man's nimmt und Kaffee und Kuchen ist so gar nicht geeignet unseren Bruno zu retten. Er überlegt kurz, ob er noch einmal nach oben in seine Wohnung gehen soll, um die Zeit etwas zu überbrücken aber sein Smartphone meldet sich, 'In The Mood', Karla.
"Sag mal wieso bist du denn vorhin so einfach an uns vorbeigefahren. Hast du uns nicht gesehen?"
"Dir auch einen schönen guten Tag. Wann bin ich wo vorbeigefahren?"
"Ach, jetzt bist du auch noch beleidigt, prima."
"Bin ich nicht, aber ich habe mindestens dreimal versucht dich zu erreichen. Dann bin ich zu dir gefahren und da warst du auch nicht. Was sollte ich denn tun? Da bin ich wieder nach Hause gefahren. Ich hab dich nicht gesehen, wirklich nicht. Dann hätte ich doch angehalten."
"Hast du ja auch, hast uns wohl im Rückspiegel beobachtet."
"Du redest immer von uns. Mit wem warst du denn zusammen?"
"Das kann ich dir jetzt am Telefon nicht sagen. Sehen wir uns heute noch?"