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Berlin, Sonntag, 04.10.2015

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So locker wie heute ist Bruno lange nicht aus dem Bett hochgekommen. Vielleicht liegt es ja doch an den 300 Gramm, die er in der letzten Woche abgenommen hat, genauer gesagt 298,6. Er besitzt nämlich seit sechs Wochen eine Digital-Personenwaage mit WiFi. Die vorinstallierte Software erfasst sämtliche Daten und wertet sie aus. Es ist nur eine Frage der Einstellungen und der Konfiguration des 'Dashboards' auf seinem PC, welche Ergebnisse und welche Kurvenverläufe auf einem Blick sichtbar werden. Er hätte die dazugehörige APP auch auf seinem Smartphone installieren können, aber das geht ihm zu weit. Außerdem besteht dann natürlich die Gefahr, dass Karla mal durch Zufall…, naja, sie nimmt schon mal Brunos Handy in die Hand, wenn er gerade verhindert ist. Sicher, er weiß auch, dass eine normale Waage seine Gewichtsproblematik genauso aufzeigen würde, aber das ist viel frustrierender, so endgültig und schonungslos, so auf den Punkt gebracht, raufstellen und Paff, Übergewicht! Seine neue Waage zeigt hingegen auch den sogenannten Body-Mass-Index und den Körperfettanteil mittels bioelektrischer Impedanzanalyse. Das ist natürlich etwas ganz anderes, viel differenzierter. Übergewicht mit der Option, dass es auch von der Muskelmasse herstammen könnte. So als alter Technikfreak interessiert er sich ja auch mehr für den Funktionsumfang der Waage, nicht so sehr für die Ergebnisse. So eine stinknormale Waage kann ja noch nicht mal feststellen, ob man richtig auf ihr steht. Da könnte man ja jedes Messergebnis anzweifeln. Die neue kann das, allerdings fehlt zur vollständigen Absicherung natürlich eine Referenzmessung. Bruno hat neulich schon kurz überlegt, ob er nicht eine zweite Waage…, schließlich hat aber seine Rationalität gesiegt, auch weil ihm klar ist, dass die eigentliche Ursache für Gewichtsveränderung in seiner Lebensart liegt, und die steht in einem direkten Verhältnis zu den Messergebnissen. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn er zehn Waagen einsetzen würde. Zuviel Kilokalorien und wenig Bewegung versus wenig Kilokalorien und viel Bewegung, das Ergebnis kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen. Wie auch immer, sonntags hat Bruno sowieso wiegefrei, geht sofort in die Küche, wo sich Karla schon mit dem Frühstück abmüht.

"Ich nehme nur schnell einen Kaffee, muss noch unter die Dusche."

Karla schaut ihn mit hochgezogener Augenbraue an.

"Na, viel mehr als Kaffee gibt es in deinem Haushalt sowieso nicht. Hast du vergessen einzukaufen?"

"Ja, eigentlich schon und irgendwie auch wieder nicht. Durch diesen blöden Feiertag gestern bin ich völlig durcheinander gekommen. Alle hatten zu. Zum Schluss bin ich bei Ünal gelandet und habe dort gefrühstückt. Ans Einkaufen habe ich dann gar nicht mehr gedacht. Schon gar nicht als ich euch zusammen gesehen habe."

"Oh je, Bruno, jetzt fang nicht wieder damit an."

Eine ernstgemeinte Warnung nach dem gestrigen Abend. Bruno hatte bei Harry noch nicht einmal bestellt, da tauchte schon Karla auf. Sie schien keinen guten Tag bis dahin gehabt zu haben. Aber Bruno liebte es, wenn sie diesen strengen Blick aufsetzte. Sie erinnerte ihn dann immer an eine temperamentvolle Filmdiva mit feurigen Augen und Wut im Bauch. Da sie auch ansonsten ziemlich aufregend aussah, konnte Bruno nicht anders. Er bat sie um Verzeihung für sein Verhalten, obwohl er das nicht als besonders fehlerhaft einstufte, aber das war eben der Preis. Die Gegenwart seines Freundes Harry gab ihr den Rest. Keiner kann so entwaffnend nett zu Frauen sein wie Harry. Nach nur einem Glas Wein war die Gewitterluft verzogen, ohne auch nur den leisesten Donner erzeugt zu haben. Bruno war als erster vollständig versöhnt und das Essen, ein zart rosa gebratener Lammrücken auf pikantem Linsensalat, verschaffte ihnen für den Rest des Abends beste Laune. Erst als sie wieder auf der Straße waren, fing Karla dann doch an zu reden. Zunächst zögerlich, dann immer weiter ausholend und erklärend. Bruno vermied es sie zu unterbrechen, er weiß, dass sie dann ausflippen würde, wollte also auf keinen Fall die Stimmung wieder kippen lassen. Oben in seiner Wohnung setzten sie sich noch auf die Couch im Wohnzimmer und Bruno holte die Weißweinflasche von Ünal aus dem Kühlschrank. Der Grüne Veltliner war fantastisch und Brunos Stimmung konnte nicht besser sein, schon weil Karla nicht mehr fahren durfte. Aber auch sie war aufgekratzt, hätte ansonsten ja auch ein Taxi nehmen können. Auf jeden Fall wusste Bruno am Ende des Abends, dass Karla eine alte Freundin wiedergetroffen hatte. Eine sehr gute alte Freundin. Man könnte sagen, die beste Freundin, die sie je hatte. Warum Karla sie die ganze Zeit geheim gehalten hätte, war dann Brunos geschickt formulierte Frage, und ob sie vielleicht etwas mehr als Freundinnen wären. Und da kann man mal wieder sehen, was ein guter Wein zu leisten in der Lage ist. Karla sprang jetzt nicht auf, um ihm die Augen auszukratzen, sondern brach in schallendes Gelächter aus. Bruno hatte sie lange nicht mehr so lachen gesehen. Am Ende fühlte er sich ein wenig wie der Trottel, aber Karla erwies sich danach als lebendiger Beweis, dass er mit seiner Vermutung, oder noch schlimmer, Befürchtung, hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung völlig danebengelegen hatte. Ab und zu lohnt es sich doch, für Wein ein wenig mehr auszugeben, obwohl, in diesem Falle war es ja ein Geschenk, Wiedervereinigungsgeschenk im doppelten Sinne.

"Aber der Kaffee ist doch wohl super, oder?"

"Ja, hast ja recht. Trotzdem wäre ein komplettes Frühstück nicht schlecht, ist ja nicht mal Milch im Haus."

"Also ich kann auch mal verzichten, sieht man ja. Übrigens willst du mal meine neue Waage ausprobieren?"

Man muss nur die Augenbrauen von Karla beobachten, eindeutige Stellungnahme.

"Findest du, dass ich zu dick bin?"

"Nein, um Gottes Willen. Du hast eine Traumfigur, fang bloß nicht an …, ich liebe dich so, wie du bist."

"Willst du damit sagen, dass du der Maßstab bist?"

"Ach Mensch, Karla, jetzt hör auf. Du weißt genau, wie ich das meine."

Sie setzt sich auf seinen Schoß und Bruno wundert sich wieder einmal, wie verhältnismäßig schwer diese zierliche Frau ist. Würde ihn jetzt doch ziemlich jucken, was seine neue Waage dazu sagen würde. Er wird aber von einem Kuss abgelenkt, der auf seiner Stirn landet. Dann steht sie wieder auf, um bei dem Kaffeeautomaten noch einen Espresso in Auftrag zu geben. Bruno genießt derweil ihren Anblick. Sie ist ja nun ein ganzes Stückchen jünger als er, also schon erklärlich, dass sie über eine derartige Figur verfügt. Bruno weiß auch, dass sie dafür viel Aufwand treibt, auch bei der Auswahl ihrer Kleidung. Er ist auf dem Gebiet nun nicht gerade ein Spezialist, ihm fällt nur jedes Mal auf, dass sie es perfekt beherrscht, ihre Reize mit ihrer Kleidung …, na sagen wir mal, nicht gerade zu verstecken.

"So mein Lieber, du hast jetzt genau eine halbe Stunde Zeit, um dich fertig zu machen. Ansonsten gehe ich ohne dich frühstücken. Wo warst du gestern? In Ünals Supermarkt? Dann weißt du ja, wo du mich triffst."

"Halte mir wenigstens einen Platz frei. Halbe Stunde, das schaffe ich nie."

Bruno kennt sich gut, weiß deshalb auch ganz genau, dass er es schon lange nicht mehr schafft, sich in 30 Minuten ausgehfertig herzurichten. Allein die allmorgendliche Spiegeldiagnose dauert ja schon einige Minuten. Dann der zu ergreifende Maßnahmenkatalog, also Zähneputzen, Zähne spülen, Duschen, mit oder ohne Haarwäsche, Bodylotion, Rasieren oder nicht, Notversorgung von eventuellen Hautunreinheiten, auf gut Deutsch Pickel, Mitesser, da gibt es ja so einiges. Er ist auch nicht so treffsicher, was die Wahl seiner Kleidung betrifft, manchmal nörgelt Karla, ob er denn die dreihundert schwarzen Polohemden und Sweatshirts noch auseinanderhalten könne oder ob es immer die gleichen wären.

Na, ich bin eben nicht so gut gebaut, da ist meine Strategie nun mal das Gegenteil von deiner, ich muss meine Konturen etwas tarnen. Außerdem habe ich eine quietschblaue Jacke, nicht alles Schwarz!

Das Superfinish in Form einer Portion Aftershave vollendet die Restauration und Bruno macht sich auf den Weg. Eine Etage tiefer müht sich eine jüngere Frau mit dem Türschloss ihrer Wohnung ab, Sophia Loren 2.0. Bruno grüßt gutgelaunt und ist schon ein paar Stufen weiter hinuntergegangen, doch die Stimme der Dame bremst ihn auf der Stelle.

"Guten Morgen, gut, dass wir uns treffen. Ich wollte nur etwas ankündigen. Sie wohnen doch direkt über uns, da könnte es schon sein, dass Sie heute Abend vielleicht etwas gestört werden. Also ein wenig hört man ja dann doch vom Nachbarn, ist eben ein altes Haus, auch wenn es grunderneuert wurde."

"Was denn, Einzugsfeier? Aber doch nicht ohne mich."

"Nein, keine Fete, auch keine laute Musik, nein, wir machen sonntags immer einen Spieleabend. Meine beiden Mitbewohner und ich und dann der eine oder andere Besucher. Da wird es manchmal doch etwas lauter."

"Naja, Spieleabend hört sich nicht gerade nach Punk an. Das werde ich wohl überstehen. Trotzdem Danke für den Hinweis, ich habe noch ein Gästezimmer, das geht zum Hof raus. Zur Not ziehe ich dahin um. Viel Spaß bei Ihrem Spieleabend und viel Glück."

Die Frau verabschiedet ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln, Mona Lisa nichts dagegen. Bruno kommt aus der guten Laune gar nicht mehr heraus. Am liebsten hätte er noch gefragt, ob sie mehr Glück im Spiel oder in der Liebe hat. Aber gut, das er es nicht getan hat. Auf der Straße empfängt ihn eine Mixtur aus Sonne und Wolken, es ist relativ mild, nur der leicht böige Wind gibt eine Visitenkarte des Herbstes ab. Bei Ünal ist es für einen Sonntag überraschend voll. War Bruno wohl nicht der einzige, der den Wochenendeinkauf verpennt hat. Karla sitzt in der gleichen Ecke, in der er gestern seine Salamibrötchen genossen hat. Den zweiten Stuhl hat sie mit ihrer Handtasche und ihrem Mantel belegt. Bruno hängt den Mantel und seine Jacke an den einzigen freien Garderobenhaken an der Wand. Die Handtasche hängt er über die Stuhllehne, aber scheinbar nicht ausreichend geschickt. Sie rutscht sofort wieder runter. Karla grinst ihn kauend an, rührt aber keinen Finger. Nach einigem Fummeln hat er aber einen Dreh gefunden, dass die Tasche nicht mehr wegrutscht. Er geht zu dem kleinen Tresen und bestellt sich zwei halbe Brötchen, Putenbrust und Frischkäse, selbstverständlich fettreduziert. Dazu geht noch ein Kaffee, natürlich passend zum Sweatshirt, schwarz. Karla ist schon durch mit ihrem Frühstück und Bruno versucht anhand der Krümel auf ihrem Teller Rückschlüsse auf die Anzahl der verzehrten Brötchen zu ziehen. Blöd nur, dass er beim ersten Biss schon mehr solcher Krümel produziert hat, als bei Karla auf dem Tisch liegen, schlecht zu vergleichen.

Naja, ist ja auch egal, mit zwei Halben liege ich bestimmt nicht über dem Limit. Könnte ja mal fragen, wieviel sie sich gegönnt hat, so spaßeshalber.

"Bist du schon fertig? In der kurzen Zeit kannst du doch höchstens ein halbes Brötchen gegessen haben."

"Vier, wenn du es genau wissen willst. Aber das hält dann auch bis heute Abend, nicht so wie bei dir. Was du da hast ist doch für 'n hohlen Zahn. Ich sehe dich schon in einer Stunde wieder nervös werden."

Es würde nicht mal eine Stunde dauern, aber das wird Karla nicht mehr miterleben, da wird sie schon auf dem Weg nach Hause sein. Vorher kommt aber noch ein Anruf. Karla fingert ihr Handy zielsicher aus ihrer Handtasche und schaut zunächst auf das Display. Dann schiebt sie es unter ihr dunkelblondes Haar an ihr Ohr und schaut Bruno lächelnd an. Das Lächeln gefriert aber gleich wieder und Bruno weiß, was Sache ist.

"Du musst los."

"Tut mir leid, Bruno, habe ich ganz vergessen. Hanna steht vor der Tür. Wir sind verabredet."

"Und wer ist jetzt bitteschön Hanna?"

"Mensch, Bruno, über Hanna haben wir doch nun lang und breit gestern Abend geredet, schon vergessen?"

"Nee, wusste nur nicht, dass die Hanna heißt. Der Name ist nicht einmal gefallen."

"Ist ja schon gut, ich kann dich ja verstehen, aber es ist wichtig. Ich ruf dich nachher an, Okay?"

Bruno ist angefressen und ihm bleibt nichts anderes übrig, als Karla beim Anziehen ihres Mantels zu beobachten, was an sich nicht übel aussieht.

Muss direkt mal bei den alten Fotos nachschauen, wie lange es her ist, dass ich auch noch eine Taille hatte, also Bauchumfang geringer als Brustumfang. Geht das bei Männern überhaupt? Also schon allein wegen der Brust. Vielleicht mache ich mir ja viel zu viel Gedanken.

Bruno bekommt noch einen Abschiedskuss und dann sitzt er allein da.

Er erhebt sich und geht noch einmal zum Tresen. Drei halbe Salamibrötchen und eine Tasse Kaffee, mal sehen ob's hilft. Nun kann man natürlich drei halbe Salamibrötchen nicht mit Karlas Gegenwart vergleichen, aber eine kleine Entschädigung sind sie schon. So überwindet er halbwegs ihren plötzlichen Abschied. Auf jeden Fall hat er jetzt ausreichend gefrühstückt, da könnte er gleich noch ein wenig in Ünals Supermarkt einkaufen, sein Kühlschrank ist ja immer noch leer.

***

Eine gute Stunde später ist er dabei in seiner Küche die Einkäufe zu verstauen. Jetzt hat er für mindestens zwei Tage gut ausgesorgt, besonders der Getränkenotstand konnte abgewendet werden. Auch von dem guten Veltliner hat er Nachschub besorgt, aber erstens ist es noch zu früh am Tage und zweitens muss der Wein erst noch die richtige Trinktemperatur erreichen. Die nächsten zwei Stunden ist Bruno damit beschäftigt, die Wohnung auf Vordermann zu bringen. In dieser Jahreszeit steht die Sonne ja nicht mehr so hoch am Himmel. Dadurch fallen ihre flachen Strahlen so raffiniert durch die Fensterscheiben, dass nun auch wirklich jeder sonst unsichtbare Staubfaden ins Auge fällt. Wenn Karla die entdecken würde, hieße es gleich wieder, typisch Junggesellenhaushalt. Zum Schluss geht er noch mit einem feuchten Wischtuch, einem dieser modernen Mikrofaserlappen über den Holzfußboden im Wohnzimmer. Den hat er erst im letzten August neu verlegen lassen. Trotzdem, an einer bestimmten Stelle des Bodens hat er auch heute noch das Gefühl, man könne die Blutspuren des schweren Kampfes sehen, der vor gut einem Jahr das Ende eines Falles markierte, in dem Bruno zum ersten Mal nicht der Aufklärer, sondern das Opfer war. Er mag gar nicht daran denken. Wie aus heiterem Himmel ist er damals plötzlich Vater gewesen, aber dann auch wieder nicht. Er wusste stellenweise nicht, wo hinten und wo vorne war. Die aufgetauchte Tochter war dann auch noch so ein Früchtchen, hatte geklaut, vielleicht sogar gemordet, und dann das Finale, mitten im Wohnzimmer, egal, der alte Fußboden musste jedenfalls raus.

***

Bruno wirft einen Blick auf die Uhr, gerade mal später Nachmittag. Sonntagnachmittag, was für eine dämliche Zeit. Alle, die ihn näher kennen, wissen, dass Bruno kein Freund des Sonntags ist, noch nie war, schon allein wegen des folgenden Montags. Aber nun ist er ja schon seit Jahren im Ruhestand, könnte den Sonntag eigentlich genießen. Kann er aber nicht, er hasst diese Melancholie, diese Kurortatmosphäre, quasi Bad Berlin-Tegel.

Heute sagt man wohl Entschleunigung, diesen Begriff kannte man früher noch gar nicht und trotzdem war der Sonntag doof. Ich muss aber etwas dagegen tun, ich muss raus. Kann ich heute schon wieder zu Harry?

Bruno schreibt eine Message an Karla, fragt so etwas hintenherum, ob sie sich heute noch treffen würden, oder ob diese Hanna sie den ganzen Tag über beschäftigen würde, ziemlich geschickt ausgedrückt. Er bekommt auch keine Antwort, jedenfalls nicht gleich. So macht er sich allein auf den Weg. Er könnte ja auch ins 'da Vinci' gehen, die haben durchgehend warme Küche. Im Treppenhaus ist es auch totenstill und Bruno ist bemüht sich dieser Ruhe anzupassen. Aber wie das so ist, genau das Gegenteil tritt ein. Tritt ist überhaupt das richtige Wort, jeder Tritt ein Urknall, wobei der wahrscheinlich völlig lautlos war. Bruno hat das Gefühl, dass er diese Treppe noch nie so laut heruntergegangen ist wie gerade eben. Das ist wie neulich, als er schon aufgestanden war und eigentlich Karla noch in Ruhe schlafen lassen wollte. Aber jedes Umblättern der Zeitungsseiten ein Peitschenknall, sogar die Schluckgeräusche beim Trinken schienen unnatürlich laut durch den Raum zu dröhnen, wie Donnerhall. Endlich auf der Straße fühlt er sich erlöst, hier sind wenigstens auch noch ein paar andere Menschen unterwegs, auch Autos fahren vorbei, Leben. Auch im 'da Vinci' ist es gar nicht mal so leer, da haben wohl auch noch andere Menschen das Bedürfnis unter Menschen zu sein, oder einfach nur Hunger. Bruno wird freundlich von Laura begrüßt und in seine Lieblingsecke geleitet. Zur Erinnerung, Laura ist die Tochter von Frau Krause und Zwillingsschwester von Fabrizio. Bruno weiß auch nicht warum, aber spontan fällt ihm ein alter Schlager ein, 'Man müsste nochmal zwanzig sein'. Als könnte sie Brunos Gedanken lesen, meldet sich Karla auf seinem Handy. Er ist kurz versucht, den Anruf zu ignorieren, andererseits ist er von jeher ein Freund von Deeskalation.

"Hallo Bruno, wo bist du gerade?"

"Ach, ich schlendere ein wenig am See entlang, habe schon sehnsüchtig auf deinen Anruf gewartet."

"Quatschkopp, sag mal, hättest du Lust mit uns essen zu gehen? Also mit Hanna und mir, du kennst dich doch besser aus. Hier in Hermsdorf gibt es doch bestimmt auch das eine oder andere gute Restaurant."

"Wie, ich mit zwei Frauen? Was wollt ihr denn mit mir? Ihr habt euch doch so lange nicht gesehen, da störe ich doch nur. Außerdem habe ich schon ein Glas Wein getrunken."

"Ein ganzes? Oh je, da kann mein Bruno nicht mehr fahren? Mann, da scherst du dich doch sonst nicht drum, nicht mal bei drei Gläsern. Los, komm schon, wir sind auch ganz lieb zu dir. Du bist der Mittelpunkt, ich möchte dich gerne meiner besten Freundin vorstellen. Die wird dir gefallen."

Nun ja, diese Andeutung ist es wohl, die Bruno dann doch weich werden lässt. Laura schaut zwar etwas sparsam, als er das Lokal so schnell wieder verlässt, ist aber sofort versöhnt, nachdem Bruno von dem Überraschungsanruf berichtet. Er hat sich mit Karla und dieser Hanna vor einer Weinstube in Hermsdorf verabredet, die schon seit Jahren den besten Ruf genießt, einmal für die gute Küche und natürlich für das sehr ausgewogene Weinsortiment. Zum Glück hat er die Autoschlüssel dabei, muss also nicht noch einmal nach oben. Die Fahrt geht schnell und etwas überrascht stellt er fest, dass es genügend Parkplätze direkt vor dem Restaurant gibt, schlechtes Zeichen. Er steigt aus und sieht schon von weitem, dass der Laden zu hat. Ein Blick auf die Karte zeigt auch warum. Sonntag, Montag und Dienstag wegen Reichtum geschlossen. Karla und ihre Freundin sind noch nicht zu sehen und Bruno überlegt, was er tun könnte, warten, anrufen, wieder abhauen. Er entscheidet sich für warten. Er hat es sich gerade im Auto gemütlich gemacht, da sieht er die zwei Frauen auf sich zukommen. Jetzt muss er erst einmal schauen, ob diese Hanna ihm wirklich gefällt. Naja, was soll man sagen? Er wüsste nicht so genau, für wen er sich entscheiden würde, vorausgesetzt die Entscheidung stünde an. Wobei, an Karla perlt alles ab, die würde sogar gegen Sophia Loren Originale den Punktsieg davontragen. Aber Hanna ist schon eine auffallende Erscheinung, gar nicht mal so eine makellose Schönheit, überhaupt nicht, aber ein Typ ganz besonderer Art. Sie wirkt auf den ersten Blick etwas zurückhaltend, aber Bruno merkt sehr wohl, dass sie ihn auch genauestens taxiert. Karla übernimmt die knappe Vorstellung und beobachtet ihren Bruno dabei ganz konzentriert, sie kennt ja ihren Verlobten, Herrn Pappenheimer. Die Enttäuschung über die geplatzte kulinarische Verabredung hält sich in Grenzen, besonders als Bruno sich anbietet die beiden Frauen ins 'da Vinci' einzuladen. Mit einem kurzen Anruf reserviert er vorsichtshalber einen Tisch. Dann fahren sie los. Bruno weiß auch nicht weshalb sich Karla für den Rücksitz entschieden und ihre Freundin geradezu auf den Beifahrersitz geschoben hat. Vielleicht eine Prüfung?

Fall ich aber nicht drauf rein, liebe Karla, auch wenn der Anblick ihrer hübschen Beine schon höchste Anforderungen an meine Disziplin stellt. Aber ich konzentriere mich ganz auf den Verkehr, Straßenverkehr wohlbemerkt!

Laura strahlt als sie Bruno wieder begrüßen darf. Beim Anblick der beiden Frauen verändert sich ihr Gesichtsausdruck in Richtung Donnerwetter, obwohl sie Karla ja schon kennt, aber jetzt noch so eine bella donna …

***

Das Essen ist wie immer hervorragend und die beiden Frauen halten sich mit der Unterhaltung sehr zurück, wofür Bruno dankbar ist. Vor dem Essen ja, nach dem Essen sogar sehr gerne, aber während der Mahlzeit bitte volle Konzentration auf die Kunst des Kochs. Niemand geringerer als sein Freund Harry hat ihm das beigebracht. Nachdem Bruno bezahlt hat, verlassen sie das 'da Vinci'. Karla ist die erste, die den Vorschlag macht, noch irgendwo etwas zu trinken. Bruno hält sich bei der Ideensuche etwas zurück, will vermeiden in eine Falle zu tappen. Die könnte sich schnell zur Tretmine entwickeln. Wäre aber so oder so überflüssige Mühe, denn Hanna gibt sehr deutlich zu verstehen, dass sie dringend nach Hause müsse. Karla nimmt sie in die Arme und flüstert ihr etwas ins Ohr. Bruno ist irritiert, kommt sich blöde vor und signalisiert seine Diskretion, indem er zwei, drei Schritte zur Seite geht und in eine andere Richtung schaut. Hilft aber alles nichts, diese Hanna lässt sich nicht überreden, auch nicht von Karla. Sie möchte auch nicht gefahren werden, sondern die U-Bahn nehmen. Karla scheint etwas angefressen, während Bruno schnell noch einen Blick auf die Beine der entschwindenden Hanna wirft.

"Also tut mir jetzt leid, das war anders geplant. Eigentlich hatte sie um ein Treffen mit dir gebeten."

"Wie bitte? Wieso wollte die sich mit mir treffen? Ich kenne sie doch gar nicht. Und du? Wolltest du mich verkuppeln?"

"In gewisser Weise schon, nur nicht so, wie du nun schon wieder denkst."

"Wie denke ich denn?"

"Ach Bruno, das muss ich dir doch nicht erklären, oder? Hanna hat ein Problem, sonst hätte sie auch gar nicht den Kontakt zu mir gesucht. Wir haben uns ja eine ganze Weile nicht gesehen, nicht mal miteinander telefoniert."

Das Refugium

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