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Berlin, Sonnabend, 13.03.2010

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Bruno braucht den Subaru nicht mal ausschalten, Carla steht mit einer Reisetasche mit den Ausmaßen eines Dixi-Klos vor der Tür und nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, wartet sie schon eine Weile. Er blickt auf seine Armbanduhr, 7:55 Uhr! Er steigt aus, öffnet den Kofferraum, der durch seine zwei Koffer fast gefüllt ist und stellt schnell fest, dass Carlas Tasche dort keinen Platz mehr findet. Also nimmt er den größeren Koffer heraus und stellt ihn auf den Rücksitz. Dann verstaut er Carlas Monstertasche und endlich können sie losfahren. Sie haben noch kein Wort gesprochen. Carla sieht so aus wie jemand aussieht, der krank ist, keine zwei Stunden am Stück geschlafen hat und von schrecklichen Gedanken geplagt wird. Sie ist eigentlich nicht wiederzuerkennen.

Wird ja Klasse werden, die Fahrt...

Sie fahren nach kurzer Zeit auf den Berliner Ring Richtung Potsdam und danach auf die A9. Es geht zügig voran. Die Autobahn ist in einem sehr guten Zustand, alles neu, dank Aufbau Ost. Kein Vergleich mit den ersten Fahrten mit den Eltern Anfang der 1960er Jahre. Sie hatten einen VW Käfer, Baujahr 1956, mit Weißwandreifen und einem Stoffverdeck. Der Wagen fuhr voll besetzt 110 km/h, erlaubt waren auf der Transitstrecke 100 km/h. Mit den Wartezeiten an den Grenzübergängen war man von West-Berlin nach Tirol ca. 12 Stunden unterwegs, manchmal länger.

"Sag mal, kannst du nicht ein wenig schneller fahren? So kommen wir ja erst im Dunkeln an."

"Also, ich fahre gerade 180. Ist das nicht schnell genug?"

Sie passieren die Abfahrt nach Halle und Leipzig, Schkeuditzer Kreuz. Der Verkehr hat etwas zugenommen aber nicht viel. Nach gut einer halben Stunde ohne Worte, befinden sie sich in Thüringen und schließlich in Bayern, in Franken, um genau zu sein. Kurz vor Nürnberg muss Bruno tanken. Er geht noch auf die Toilette und kommt dann mit zwei belegten Brötchen, einer Flasche Mineralwasser und einer Dose Energy-Drink zurück.

"Wo bleibst du denn? Du weißt doch, dass wir es eilig haben!"

Sie hat die ganze Zeit im Auto gesessen und gewartet. Immerhin redet sie mit ihm. Er reicht ihr die beiden Brötchen.

"Käse und Salami, kannst dir eins aussuchen, mir ist es egal."

"Kein Hunger."

Sie legt die beiden Brötchen in ein offenes Fach der Mittekonsole. Bruno öffnet den Energy-Drink und trinkt das süße Zeug in einem Zug aus. Die leere Dose stellt er in das Ablagefach seiner Tür. Das Mineralwasser stellt er in die Mitte, so dass beide drankommen. Dann geht es weiter. Sie fliegen über die Autobahn. Alles, was geht. Hin und wieder muss er vom Gaspedal gehen, dann erinnert ihn sein Bordcomputer, dass er noch Winterreifen montiert hat. Kurz vor 13:30 Uhr passieren sie die Grenze nach Österreich bei Kiefersfelden. Bruno hält noch einmal kurz an, um auf der Raststätte eine Vignette zu kaufen. Diesmal steigt Carla mit aus, biologischer Notstand. 14:30 Uhr überfahren sie die Europabrücke, Minuten später verlassen sie die Autobahn, entrichten die Mautgebühr von 2,50 € und sind endlich da.

"Ich habe es mir überlegt, du kannst alleine bei deiner Anna wohnen. Ich gehe in das Monte Cristallo. Da bin ich dichter dran am Geschehen und erfahre hoffentlich aus erster Hand, wenn es etwas Neues gibt. Ich habe im Moment auch keinen Nerv für uns."

Bruno spürt den virtuellen Stich, ist verletzt, aber er kennt sie inzwischen so gut, dass er weiß, im Moment kannst du nicht mit ihr reden. Sie fahren die Straße Richtung Neustift, immer nach Vorschrift. Hier stehen seine Freunde gerne und oft. Bei Temposündern kennen die kein Pardon. Sie erreichen den Ort Neder. Hier wäre Bruno eigentlich am Ziel aber er fährt weiter, um Carla zu ihrem Wunschhotel zu bringen.

5 Minuten später sind sie am Ziel. Bruno hat noch nicht den Motor ausgestellt, da hat Carla schon das Auto verlassen. Sie geht ohne auf Bruno zu achten, direkt in Richtung Rezeption.

"Carla, nun warte doch mal, deine Tasche...!"

Er öffnet die Heckklappe und zerrt das Dixi-Klo auf die Straße. Zum Glück hat das Ungetüm Rollen drunter und er kann es ohne große Anstrengung zum Hoteleingang ziehen. Auf halbem Wege kommen ihm Carla und ein Hotelangestellter entgegen.

"Darf ich Ihnen das abnehmen?"

Der junge Mann lächelt höflich, schaut etwas sparsam, als er das Dixi-Klo sieht. Er erspart sich aber jeden Kommentar und schiebt mit dem Ding ab.

"Carla, wie geht es jetzt weiter, was kann ich denn tun?"

"Bruno, lass mich erst mal sehen, wie der Stand der Dinge ist. Ich melde mich, versprochen. Und vielen Dank, dass du mich begleitet hast. Ich bin etwas durch den Wind, entschuldige bitte."

Sie gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwindet sofort.

8

Bruno setzt sich in seinen Wagen und überlegt kurz, was er jetzt tun soll. Es ist jetzt halb Vier. Die Rückkehrer vom Gletscher werden bald die Straße verstopfen, also entschließt er sich, als erstes sein Zimmer zu beziehen. In weniger als 10 Minuten hat er den Walderhof erreicht. Der liegt zweihundert Meter von der Straße entfernt, etwas erhöht, so dass man von hier einen schönen Blick über den kleinen Ort hat. Er schnappt sich beide Koffer und steigt die paar Stufen zum Eingang hoch. Im Haus ist es sehr warm, offensichtlich ist aber niemand da. Am Schlüsselbrett hängen viele Schlüssel und bei der Nummer 22 klebt noch ein gelber Zettel mit seinem Namen. Er nimmt den Schlüssel vom Haken und schleppt seine Koffer in die zweite Etage. Das Zimmer ist offen und die Vorhänge zugezogen. Martina, das Zimmermädchen, denkt wirklich an alles. Nachmittags steht die Sonne voll auf dieser Seite und es wäre im Zimmer nicht auszuhalten, wenn man die Gardinen offen ließe. So aber ist es angenehm. Er braucht nicht sehr lange, um seine Sachen zu verstauen. Die leeren Koffer stellt er oben auf den Kleiderschrank. Dann schaut er sich die Karte auf dem Tisch an. Ein Foto mit der ganzen Familie.

"Herzlichst willkommen! Erholsame Tage auf dem Walderhof wünscht Ihnen ihre Familie Brandner."

Er wirft noch einen Blick auf das Bild und glaubt zu erinnern, dass er selber dieses Foto im letzten Jahr geschossen hat. Schmunzelnd überlegt er sich, ob er nicht Honorar verlangen sollte. Er ist gerade auf dem Weg auf den Balkon, hat schon den Vorhang zur Seite gezogen, als das Handy wieder mal "in the mood" dudelt, Carla.

Sie ist sehr ernst und ihm kommt es vor, als ob sich Welten zwischen ihnen auftun. Also der Hubschrauber ist seit heute morgen 7:00 Uhr auf der Suche nach den Verschollenen. Man hat 30 Mann der Bergrettung Neustift und Fulpmes im Einsatz, einige sind mit Hunden dabei. Die Polizei hat sämtliche Personen, die in den letzten Tagen mit dem Ehepaar Weißensee Kontakt hatten, befragt. Mann hat auch andere Stellen kontaktiert, Tankstellen, Restaurants, Polizeistationen im ganzen Tal und diverse Krankenhäuser. Der Lokalsender in Innsbruck gibt seit heute Morgen in den Nachrichten entsprechende Aufrufe an die Bevölkerung heraus. Bisher nichts, Nullkommanull. Niemand hat etwas Auffälliges beobachtet und bei ca. 8 bis 10 000 Gästen pro Tag am Gletscher ist das ein hoffnungsloses Unterfangen. Bruno traut sich nicht zu fragen, ob sie heute Abend zusammen essen wollen und von Carla kommt kein Vorschlag. Sie will früh schlafen gehen. Dr. Curtius-Moser, ein alter Freund ihrer Eltern, der zufällig auch gerade im Hotel weilt, hat ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.

"Gute Nacht Carla, ich komme morgen vorbei. Wenn was ist, melde dich!"

Gute Nacht ist gut, es ist gerade mal 17:00 Uhr und noch hell. Er zieht sich Schuhe an, die warme Steppjacke über, Schal, Mütze, Portmonee und schließt hinter sich ab. Irgendetwas schönes muss er heute noch erleben und wenn es ein gutes Essen und ein edler Tropfen ist. Als er nach unten kommt, sieht er durch den Türspalt zur Küche Licht. Er klopft vorsichtig an und das erste Schöne des Tages erscheint in Person der Wirtin Anna.

"Grüß dich, Bruno, da bist du ja. Ich freue mich sehr, dich zu sehen."

"Grüß dich Anna, die Freude ist auf meiner Seite."

Er hat den Eindruck, sie ist noch hübscher als beim letzten Mal. Sie strahlt ihn an und freut sich wirklich. So kann man sich nicht verstellen. Sie umarmen sich und er genießt diese vertraute Berührung.

"Magst du etwas trinken? Komm setz dich und erzähl, wie es dir ergangen ist."

Er nimmt am Küchentisch Platz. Der ist voll mit Zeitschriften, einem Notizblock, nebst Kugelschreiber, einer leeren Kaffeetasse und ein paar Krümeln. Er liebt es, ist wie zu Hause.

"Jetzt bist du wieder allein da, deine Carla werde ich wohl nie kennen lernen."

Wer mir so alles gehört? Erst ist es meine Anna, jetzt meine Carla... in Wahrheit stehe ich mit leeren Händen da.

Er erzählt die ganze Geschichte mit den verschollenen Eltern von Carla und ihrer Angst und ihrem Wunsch, ohne ihn, Bruno, sein zu wollen.

"Das sind ihre Eltern, nach denen die suchen? Das wusste ich nicht. Es gibt seit gestern kein anderes Thema im Ort. Heute war den ganzen Tag der Hubschrauber aus Innsbruck unterwegs, aber so weit ich weiß, ohne Ergebnis. Mein Gott, das ist ja schrecklich. Ich würde an ihrer Stelle genauso reagieren. Du darfst ihr das nicht übel nehmen. Stell dir nur ihre Situation vor, es sind ihre Eltern."

Anna hat Kaffee für sich und Bruno bereitet und nimmt ebenfalls am Küchentisch Platz.

"Klar ist das schrecklich, keine Frage, aber ich kann auch nicht dafür. Und außerdem wissen wir ja gar nicht, was passiert ist. Solange man sie nicht findet, muss man die Hoffnung bewahren."

"Ja, ja, das stimmt schon. Andererseits haben wir nachts noch empfindlichen Frost und wenn sie irgendwo verunglückt sind... Sie sind ja auch nicht mehr so jung, wenn ich das richtig weiß."

Bruno fühlt sich ohnmächtig. Er würde ja gerne helfen aber wie? Was soll er denn tun? Er könnte Carla höchstens Trost spenden aber auf dem Gebiet ist er auch nicht gerade ein Meister und außerdem, so wie sich Carla ihm gegenüber verhält, auch nicht besonders motiviert.

Anna greift zum Handy.

"Ich rufe Robert an. Der darf zwar beim Einsatz noch nicht mitmachen, aber vielleicht weiß er trotzdem etwas."

Robert, Annas jüngster, ist seit zwei Jahren bei der Jugendfeuerwehr Neustift. Die sitzen im selben Haus wie die Bergwacht und zum Teil sind es auch die gleichen Leute. Der weiß eventuell mehr.

Es dauert eine ganze Weile, bis Anna ihn am Telefon hat. Jetzt redet sie wieder Tiroler Kauderwelsch. Bruno hat zwar in den vielen Jahren gelernt, den Dialekt ganz gut zu verstehen, aber wenn sie dann unter sich sind und keine Rücksicht nehmen müssen, begreift er nicht ein Wort. Nach fünf Minuten ist das Gespräch beendet.

"Also, pass auf. Die Besatzung vom Hubschrauber aus Innsbruck ist sich sehr sicher, dass oben im Gletschergebiet niemand verunfallt ist. Es gibt keine Spuren, die irgendwo im Nichts enden und es hat seit einer Woche nicht geschneit. Man hat zusammen mit der Bergwacht alle infrage kommenden Stellen sehr genau untersucht. Man hat Wärmebildkameras eingesetzt und hatte auch Hunde dabei. Auch die nochmalige Befragung des Personals oben und an der Talstation hat nichts ergeben, trotz Gegenüberstellung mit mehreren Fotos der Beiden, die man offenbar von den Hotelbesitzern, der Familie Hofer, bekommen hat. Und jetzt pass auf. Es gibt einen Busfahrer, der behauptet, dass ein älteres Paar in seinen Bus Richtung Fulpmes gestiegen sind. Ihm sind die beiden deshalb aufgefallen, weil die Busse vormittags in Richtung Tal normalerweise leer sind. Da sind die Skifahrer ja alle noch im Kommen. Er war sich nicht hundertprozentig sicher, glaubt aber, dass noch ein Dritter im Spiel war. Die Beiden sind nämlich in Neustift an der Tankstelle ausgestiegen und von einem älteren Mann begrüßt worden. Die Drei müssen sich nach Meinung des Busfahrers gekannt haben. Die Spur wird zurzeit von der Polizei aber nicht weiter verfolgt, weil der Busfahrer die beiden auf dem Foto nicht wiedererkannt hat. Der Einsatzleiter der Bergwacht ist der Gleyer Hermann, der kann uns womöglich den Namen des Busfahrers nennen, Robert wusste ihn nicht. Übrigens schöne Grüße von ihm."

"Vielen Dank Anna, du hast mir richtig geholfen. Ich werde jetzt in den Ort fahren, wollte sowieso eine Kleinigkeit essen und dann noch mal mein Glück mit Carla versuchen. Vielleicht finden wir ja den Busfahrer. Danke für den Kaffee und bis später."

* * *

Sonntag, 17. April 1955

War gestern und heute mit zwei Freunden am Obernberger See. Sehr idyllisch in einem kleinen Seitental vom Wipptal. Paul hat ein Auto und so waren wir sehr schnell da. Mussten vom Ort noch ein ganzes Ende laufen, es war aber sehr schön. Unterwegs haben wir drei Mädchen getroffen, die auch dorthin unterwegs waren. Haben uns angefreundet, meine ist erst 17, heißt Claudia und ist die hübscheste. Sie ist auch Italienerin, aus Kaltern. Die Eltern haben ein Weingut und sind so etwas wie Grafen aber verarmt, sagt sie. Ich muss sie wiedersehen! Aber Kaltern ist weit ohne Auto. Am Mittwoch bin ich mit

Dr. Rohrmann fest verabredet. Könnte meine Glückswoche werden, erst Claudia und dann der Studienplatz.

* * *

9

Bruno sitzt mit Carla im Dorfwirt. Er hätte gar nicht damit gerechnet, dass sie wirklich mit ihm zum Essen geht, nachdem er ihr schon "Gute Nacht" gewünscht hatte. Ihr Beruhigungsmittel hat wohl nicht gewirkt.

"Was hat dir denn dein Dr. Kurz-Mahler gegeben?"

"Der heißt Dr. Curtius-Moser und ist ein hervorragender Arzt, du Schandmaul. Was hast du mir denn nun Spannendes zu berichten?"

Während sie noch lustlos in ihrem Essen herumstochert, ist er längst fertig und berichtet von seinen Neuigkeiten mit dem Busfahrer. Sie hört aufmerksam zu, aber sie findet keinen Trost oder auch nur neue Hoffnung in dieser Variante.

"Wo sollen sie denn sonst hingegangen sein? Leni schwört, dass sie zum Gletscher hoch sind. Sie hat sie in den Bus steigen sehen. Und wer soll denn der geheimnisvolle dritte Mann sein? Die von der Bergwacht wollen nur von ihrer Unzulänglichkeit ablenken. Die geben sich doch gar keine Mühe, meine Eltern zu finden. Vielleicht sind beide schon längst tot. Vielleicht haben sie sie auch schon gefunden und wollen es mir nicht sagen. Die haben doch Angst, dass ihre Unfähigkeit von mir an die große Glocke gehängt wird. Aber die werden sich noch wundern, ich habe schon unseren Familienanwalt benachrichtigt!"

Mit diesen letzten Worten, die sie wie zu sich selbst spricht, sammelt sich das Wasser in ihren Augen. Carla ist echt am Ende, sie tut ihm unendlich leid und er würde sie gerne in den Arm nehmen, doch schon bei der Begrüßung hat er ihre Verkrampfung gespürt. Sie lässt keinen an sich ran, auch nicht ihn.

"Pass auf Carla, morgen früh gehe ich zur Bergwacht, um mit dem Einsatzleiter Hermann Gleyer zu reden. Der schläft jetzt, beginnt aber morgen früh um 8:00 Uhr seinen Dienst. Von dem erfahre ich, wie und wo ich den Busfahrer finde. Dann werde ich dich benachrichtigen und wir können gemeinsam mit ihm reden. Ist das nicht das Beste?"

"Morgen, morgen, immer mehr Zeit verstreicht und wir haben keine Ahnung, nicht mal eine Spur. Weißt du, wie lange man da draußen in der Kälte überleben kann? Ich rede jetzt noch einmal mit der Polizei. Der Chef von denen wohnt auch im Hotel. Eigentlich kommt er aus Hall, will aber nicht immer hin und her fahren. Du kannst ja bis morgen warten, sind ja nicht deine Eltern."

Sie steht auf und geht grußlos.

Netter Abend. Aber die Frage ist wirklich zu beantworten, wie lange kann man da draußen aushalten? Man hört ja immer wieder davon, dass Menschen durch glückliche Umstände tagelang überlebt haben. Aber was sind schon glückliche Umstände? Haben wir die?

Er bestellt sich noch einen Espresso, einen Grappa und bittet um die Rechnung. Die junge Kellnerin schaut etwas verwundert auf Carlas Teller, von dem so gut wie nichts gegessen wurde.

"War es nicht gut?"

"Doch, keine Sorge, meiner Frau geht es nur nicht so gut, sie hat ein wenig Fieber."

Meine Frau ist gut...

Auf dem Heimweg geht ihm die Geschichte mit Carla durch den Kopf.

Wenn das hier vorbei ist, muss ich mit ihr darüber reden. So geht es jedenfalls nicht. Das ist keine Beziehung, das ist schlechter als gar nichts. Bei aller Rücksicht auf ihr Schicksal, ich bin schließlich auch noch da. Aber scheinbar bedeute ich ihr nicht wirklich etwas. Das zeigt die derzeitige Stresssituation klar und deutlich. Normalerweise müsste sie sich doch freuen, dass sie jemanden an ihrer Seite hat, der ihr helfen will. Vielleicht helfe ich auch nicht genug? Sollte ich noch heute Abend versuchen, den Busfahrer...?"

Er verwirft den Gedanken sofort wieder, erstens weiß er ja nicht wie der heißt und wo er wohnt und zweitens verspürt er keinen richtigen Antrieb. Carla glaubt doch sowieso nicht, dass das eine richtige Fährte sein könnte. Er findet einen Parkplatz direkt an der Treppe, die zum Hauseingang führt. Beim Aussteigen wirft er einen Blick in Richtung Kuhstall. Da brennt Licht, also ist Hans noch bei seinen Kühen. Er hat ihn noch gar nicht gesehen, seit er hier ist. Na vielleicht trifft man sich ja heute noch, was gleichsam bedeutet, dass er sich noch in den Aufenthaltsraum setzt.

Er geht kurz nach oben in sein Zimmer, zieht Jacke und Schuhe aus, steigt in seine Latschen und verlässt den Raum wieder. Dann geht er doch noch einmal zurück, kramt in seinem Rucksack, der noch gar nicht richtig ausgepackt ist, holt eine Flasche Chianti Riserva heraus und geht nun endlich, mit der Flasche in der Hand, wieder hinunter. Im Aufenthaltsraum, der auch Frühstücksraum ist, ist es dunkel, niemand da. Irgendwer hat aber das Radio angelassen. Er knipst das Licht an, dann sucht er und findet einen Korkenzieher. Er öffnet vorsichtig die Flasche und bindet um ihren Hals eine gefaltete weiße Serviette, um Rotweinflecken auf der Tischdecke vorzubeugen. Alte Erfahrungen mit Anna. Dann füllt er sich ein Glas ein und nimmt in seiner Lieblingsecke Platz. Es ist 20:30 Uhr und jeden Augenblick müssen Nachrichten kommen. Er ist gespannt, ob sie etwas über die Weißensees bringen werden.

Die Nachrichten gehen sogar sehr ausführlich auf den Fall ein. Allerdings gibt es für ihn nichts Neues zu hören. Auf einen Hinweis mit dem Busfahrer hofft er vergebens, kein Wort darüber. Die einzig neue Information kommt durch einen gewissen Magister Ludwig Magreiter, der sich wie ein Wahlkämpfer sehr bemüht, deutlich zu machen, mit welchem "heldenhaften und unermüdlichen Einsatz" alle Rettungskräfte ihr Möglichstes tun und noch mehr..., selbstverständlich nur auf seine persönliche Intervention hin!

Da wird ja Carla froh sein, dass es dich gibt, du Magister, du.

Er lauscht dem Wetterbericht. Es bleibt tagsüber recht mild aber etwas unbeständig und über 1500 m kann es schneien, die Nacht bleibt kalt mit Temperaturen unter –5 Grad.

10

Bruno hat sich gerade noch ein Glas eingegossen, da öffnet sich vorsichtig die Tür und Hans schaut um die Ecke.

"Hallo, grüß dich Bruno, ich gehe gerade mal den Geruch abduschen, dann komme ich gleich zu dir. Wir müssen doch einen Willkommenstrunk nehmen. Ich beeile mich."

"Grüß dich Hans, lass dir Zeit, die Flasche ist noch fast voll."

Der Geruch verrät eindeutig, wo Hans gerade herkommt. Bruno stört es nicht, er weiß aber, dass Anna nicht so begeistert ist, wenn das Haus nach Kuhstall riecht. Sie scheint übrigens in der Küche zu sein, zumindest glaubt er, ihre Stimmen zu hören. Ihm kommt wieder dieser Busfahrer in den Sinn. Wie kann er durch geschicktes Fragen herausbekommen, ob der wirklich die zwei Vermissten zurück in den Ort gefahren hat. Und wer war der ominöse Begleiter? Womöglich waren es ganz andere Leute. Bruno verfügt ja nicht mal über Fotos von Carlas Eltern, er muss also anders vorgehen. Schließlich will er keinem Phantom nachjagen.

"Hans ist noch unter der Dusche, du musst derweil mit mir vorlieb nehmen."

Er hat gar nicht bemerkt, dass Anna eingetreten ist. Sie hat ein kurzes schwarzes Kleid an, hochgeschlossen aber wie eine zweite Haut, dazu passend schwarze Strümpfe und schwarze Pumps. Er kennt nicht viele Frauen, die so etwas tragen können. Alles sehr dezent, aber für Bruno, man kann sagen: Erotik pur.

Na das ist dir ja mal wieder gelungen...

"Jetzt habe ich doch tatsächlich vergessen, dass wir verabredet sind. Da muss ich mich ja noch schnell umziehen."

Sie lacht über seine Bemerkung, nimmt ein Glas aus dem Regal und setzt sich neben ihn.

"Ich weiß nicht, mit wem du verabredet bist, mit mir jedenfalls nicht. Du kannst mir aber einschenken. Bitte nur ein halbes Glas, ich muss noch fahren. Wir haben heute Frauenabend."

"Frauenabend, Samstag nacht? Wer ist denn eure Zielgruppe? Wenn die alle so aussehen wie du, bringt Ihr ja den ganzen Ort durcheinander. Kannst du mir nicht einen Tipp geben, wo ich euch finde?"

"Wir reden nur über Männer und nicht mit Männern, sonst wäre es ja kein Frauenabend."

Sie schlägt lässig die Beine übereinander. Das sieht natürlich auch nicht schlecht aus.

Nichts anmerken lassen Bruno!

"Da möchte ich mal Mäuschen sein, schon aus rein optischen Gründen, wenn die schönsten Frauen von Neustift unterwegs sind."

"Das fehlte noch. Nicht mal unsere eigenen Männer dürfen auch nur in die Nähe kommen. Du stehst doch auch mehr auf Dirndl."

Mit einem hellen Lachen steht sie auf, stellt das leere Glas auf den Platz vor der Durchreiche zur Küche. Bruno genießt den Anblick.

"Ich wünsche euch einen schönen Abend und viel Spaß, Anna. Und wenn ihr mich braucht, Anruf genügt."

Ihr Lächeln ist so ein Ding zwischen zauberhaft und ein wenig Provokation.

"Ihr könnt euch doch auch einen schönen Abend machen, so unter Männern. Hans weiß, wo der Wein steht. Ciao Bruno, bis morgen."

"Tschüss Anna, bis morgen."

Wie auf Kommando erscheint Hans. Sie haben sich seit dem Weihnachtsurlaub nicht mehr gesehen und entsprechend viel zu erzählen. Hans ist immer sehr an Brunos Fotokenntnissen interessiert. Er ist zwar wesentlich besser ausgestattet als der, hat aber nicht die Erfahrung. So haben sie ein unendliches Thema, da würden Frauen nur stören. In dieser einen Stunde leeren sie auch die Flasche Chianti Riserva.

"Warte Bruno, ich hole uns noch einen guten von drüben. Da habe ich noch einige Besonderheiten."

Nach kurzer Zeit ist Hans zurück und hat einen seiner Schätze mitgebracht. Es ist ein Sangiovese, Jahrgang 2003, den mal ein Urlauber aus der Toscana mitgebracht hat. Sie stoßen mit neuen Gläsern an und stellen übereinstimmend fest, den kann man trinken! Ein sehr feiner Tropfen, der eigentlich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Aber sie sind jetzt bei den beiden vermissten Weissensees gelandet.

"Also eines kann ich Dir sagen Bruno, wenn die Bergwacht und die Hubschrauberbesatzung aus Innsbruck Zweifel haben, dass die Gesuchten auf dem Gletscher verunglückt sind, dann wissen sie, wovon sie reden." In den letzten 30 Jahren haben die noch jeden gefunden, der als vermisst galt. Ich würde an eurer Stelle woanders suchen. Haben die Eltern von deiner Freundin nicht eine Wohnung in Innsbruck?"

"Ja schon, aber da hat Carla natürlich schon angerufen, ist niemand da. Die Nachbarin, die immer einen Schlüssel hat, ist extra noch mal rüber gegangen und hat nachgeschaut. Nichts Auffälliges. Sie haben letzten Mittwoch, also am 10. März gegen 11:00 Uhr Innsbruck mit dem Auto verlassen und sind ja auch nachweislich kurz nach dem Mittag im Hotel angekommen. Das Auto steht seitdem unberührt auf dem Parkplatz. Der Schlüssel ist an der Rezeption hinterlegt. Carlas Eltern fahren hier im Tal nicht mehr so gern mit dem Auto. Sie nehmen lieber den Bus oder gehen zu Fuß."

"Red mal mit dem Busfahrer, vielleicht hat der ja wirklich etwas gesehen."

Bruno stimmt ihm zu. Morgen soll das Wetter ja ohnehin nicht so toll werden, da kann er auf 's Skifahren gerne verzichten. Und wenn Carla nicht mit will, geht er eben allein. Hans beschreibt ihm noch genau den Leiter der Bergwacht, Hermann Gleyer.

"Ich habe mit ihm zusammen die Landwirtschaftsfachschule besucht. Er hat danach noch ein Ingenieursstudium absolviert. Er ist wirklich der beste, den wir haben. Wirst sehen, der versteht sein Fach und gibt immer alles. Verlangt seinen Leuten auch immer alles ab, kannst Robert fragen. Der hat auch schon die ersten Erfahrungen mit ihm gemacht."

Es ist inzwischen 23:30 Uhr geworden und beide sind müde. Sie stellen die Gläser weg und Hans entsorgt noch die leeren Flaschen.

"So kann keiner sehen, wieviel wir getrunken haben."

"Und Hans, machst du dir keine Gedanken wegen Anna? So, wie die sich aufgebrezelt hat..."

"Nein, da muss ich keine Sorgen haben. Sie ist eine junge Frau und macht sich gerne zurecht. Dabei bleibt es auch. Vielleicht kokettieren sie auch mal ein wenig, das gehört bei den Frauen dazu. Wir sind ja keine Hinterwäldler. Tiroler waren schon immer ein lebenslustiges Volk, es gibt sogar Lieder darüber und übrigens, ich mag auch gerne schöne Frauen."

Hans sieht ihn grinsend an.

Was meinst du denn jetzt?

"Gute Nacht Hans, vielen Dank für den schönen Abend und den vorzüglichen Wein."

"Gute Nacht Bruno, bis morgen."

Bruno schläft unruhig, träumt von Carla in einem schwarzen, hautengen Kleid. Sie steht mit dem Rücken zu ihm. Er möchte sie umarmen und greift nach ihr, kann sie aber nicht erreichen. Immer, wenn er zugreifen will, fehlt ihm die Kraft in den Armen. Endlich gelingt es ihm, aber Carla schreit auf. Sie windet sich in seinen Armen, versucht sich zu befreien, dabei dreht sie sich zu ihm um. Es ist ein schrecklicher Anblick. Carla hat kein Gesicht.

Was zu beweisen wäre

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