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Neustift, Sonntag, 14.03.2010
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Bruno hat doch noch ein paar Stunden geschlafen und fühlt sich eigentlich gut. Der Traum ging verloren. Er hat nur ein vages Gefühl, so als ob ihm etwas unangenehmes widerfahren ist. Es ist Sonntag, das heißt, keine Rasur. Diese Angewohnheit pflegt er seit Jahrzehnten und obwohl er keinen starken Bartwuchs hat, empfindet er sie als zusätzliche Freiheit. Er hat frisch geduscht, neue Sachen angezogen und fühlt eine gewisse Spannung ob der Ereignisse, die vor ihm liegen. Als er den Frühstücksraum betritt, ist es genau 8:00 Uhr und er ist der einzige. Es sind auch keine weiteren Tische eingedeckt, offenbar sind alle Gäste schon unterwegs.
Anna stellt, gutgelaunt und strahlend, den Tee auf seinen Tisch. Sie trägt ein Dirndl, in blau und rot, mit einer weißen Bluse und hat das Haar hochgesteckt. Sie wirkt frisch und munter, keine Spuren einer zu kurzen Nacht. Er kann kaum den Blick abwenden, besonders als er im Vorbeigehen ihren Duft wahrnimmt.
"Na, wie war euer Frauenabend? Bist du mir treu geblieben?"
"Ich bin die treueste Frau der Welt, was glaubst' denn. Ich weiß nur nicht, ob dir das etwas nützt."
Danke, das hat gesessen. Ich glaube, ich muss mich wirklich etwas bremsen.
"Entschuldige bitte, ich wollte nicht unverschämt werden. Es geht mich auch nichts an. Ich hoffe nur, ihr hattet einen schönen Abend. Wir Männer hatten jedenfalls einen."
"Komm Bruno, nicht so zimperlich. Ich verstehe ja deinen Humor. Keine Sorge, dass ich dich zu ernst nehme."
Helles Lachen, Bruno ist beeindruckt und wechselt schnell das Thema.
"Ich gehe nachher zur Bergwacht, um die Adresse des Busfahrers rauszukriegen. Mal sehen, was daraus wird."
"Bruno, nicht eingeschnappt sein. Ich habe es nicht böse gemeint und unser Frauenabend war sehr lustig. Es gab keinerlei Stress, auch nicht mit einem Mann. – Ich hoffe, dass du in der Sache weiter kommst. Geht Carla mit?"
„Ne, ich denke nicht.“
Bruno ist mit dem Frühstück fertig und geht auf sein Zimmer, um sich fertig anzuziehen. Dann wirft er einen Blick auf sein Handy.
Scheiße, wieder ist der Akku leer. Immer, wenn man das Ding mal braucht.
Er klettert in sein Auto und fährt in den Ort. Direkt an der Zufahrtstraße zur Elfergondel befindet sich das Gebäude der Bergwacht. Es ist 9:15 Uhr und er betritt das Haus. Er befindet sich in einem langen, quer liegenden Flur. Auf beiden Seiten befinden sich Türen. Er geht willkürlich auf die erste beste zu und versucht das Namensschild neben der Tür zu entziffern.
DI Hermann Gleyer
Leitung
Oh, ein Berufskollege, das muss ja gut gehen.
Er klopft moderat aber deutlich hörbar an und will die Klinke drücken. Die Tür ist zu. Er schaut sich um, keiner zu sehen. Ein vertrautes Geräusch bringt ihn zum lächeln, eine Klospülung. Dann hört er noch einen Händetrockner, einen von diesen Turbotrocknern, die zwar laut aber auch sehr schnell sind, 10 Sekunden und die Hände sind trocken. Und so lange dauert es bis Diplom-Ingenieur Hermann Gleyer mit dynamischen Schritten auf ihn zukommt.
Der Leiter der Bergwacht bietet ihm den Platz vor seinem Schreibtisch an, hinter dem er selber Platz nimmt. Einen Kaffee lehnt Bruno dankend ab. Nun sitzen sie sich gegenüber. Hermann Gleyer sieht sehr sympathisch aus, hat dieses typische Alpinistengesicht, von der Sonne gebräunt aber eben auch markante Falten um Augen und Mund. Deshalb tut sich Bruno auch mit der Alterseinschätzung schwer, sein Gegenüber könnte unter 50 aber auch über 60 sein. Er schaut Bruno aus dunklen Augen interessiert an.
"Du bist also der Bruno aus Berlin. Habe schon viel von dir gehört, bist ja sozusagen schon fast ein Stubaier. Was darf ich für dich tun, wie kann ich helfen?"
Bruno ist etwas verunsichert, weiß nicht ob er jetzt auch du sagen soll und versucht die direkte Anrede zu vermeiden.
"Nun es geht um die Vermissten, Herr und Frau Weißensee. Das sind die Eltern meiner Lebensgefährtin. Wir sind extra aus Berlin hierher gekommen, weil es hieß, die beiden wären am Gletscher verunglückt. Aber nun hat man sie noch nicht gefunden und ich wollte Sie fragen..."
"Also jetzt hörst du mir erst einmal zu. Erstens heiße ich Hermann, auch für dich. Schließlich bist du ein Freund von Hans und Anna und die sind auch meine Freunde. Und nun zu den beiden Verschollenen. Wir haben unmittelbar nach der ersten Vermisstenmeldung, am Freitagabend um ca. 21:00 Uhr mit der Suche begonnen. Wir hatten 32 Männer im Einsatz mit Lampen und Ortungsgeräten. 5 Kollegen waren mit ihren Hunden dabei. Wir haben bis nach Mitternacht mit Unterstützung der noch anwesenden Mitarbeiter der Gletscherbahn und einigen Leuten von der Dresdner Hütte gesucht, ohne auch nur eine Spur zu finden. Dann mussten wir abbrechen, die Leute waren erschöpft und es gab auch keinen einzigen Hinweis, wo wir noch hätten suchen sollen. In höhere Regionen zu steigen, wäre in der Dunkelheit zu gefährlich gewesen. Gestern morgen haben wir um 6:00 Uhr weiter gemacht. Ab 7:00 Uhr war der Hubschrauber im Einsatz, mit allem technischen Equipment, einschließlich Wärmebildkamera. Die Leute sind wirklich sehr professionell. Sie haben auch den ganzen Umkreis Richtung Ötztal mit einbezogen. Keine einzige Spur, einfach nichts. Wir müssen dabei beachten, dass es sich ja um ältere Leute handelt, die zudem ohne Skier, sondern zu Fuß unterwegs waren. Das schränkt ja die Möglichkeiten am Gletscher zu dieser Jahreszeit erheblich ein."
Bruno hört aufmerksam zu.
"Hast du jetzt doch einen Kaffee?"
Hermann Gleyer steht auf und geht zum Fensterbrett, auf dem eine rote Kaffeemaschine steht. Er legt ein Pad ein und stellt eine Tasse unter den Auslass. Nach ein paar Sekunden bereitet er einen zweiten für sich. Bruno möchte ihn schwarz und er selber nimmt Zucker und Milch.
"Also mir kam erstmals gestern Mittag der Verdacht, dass wir eventuell an der falschen Stelle suchen. Es ist noch nie vorgekommen, ich betone, noch nie, dass wir völlig ohne Ergebnis gesucht haben. Wir kommen nicht immer und überall gleich da hin, wo wir hin wollen. Aber dass wir nicht mal mehr eine Idee haben, wo man noch suchen könnte..."
"Und dann habt Ihr den Busfahrer getroffen, einfach so?"
"Nein, das kann ich erklären. Der Busfahrer ist ein Cousin von mir, auch ein Gleyer, Roman mit Vornamen. Unsere Väter sind Brüder. Ich habe auf dem Weg von der Talstation zu meinem Auto nur gesehen, dass ein Gendarm, also ein Polizist bei seinem Bus stand und mit ihm sprach. Roman fährt seit Jahren die Strecke Mutterberg bis Innsbruck und zurück. Insofern war es kein so großer Zufall, dass ich ihn dort gesehen habe. Irgendwie war ich aber neugierig und wartete bis der Polizist wieder ging. Dann bin ich zu Roman hin und wollte wissen, was denn der Gendarm wichtiges zu fragen hatte. Er hat mir erklärt, dass der ihm ein Foto von einem älteren Ehepaar gezeigt hat und wissen wollte, ob er sich an die erinnern kann. Er hat denen dann geantwortet, dass er zwei ältere Leute mit hinunter nach Neustift genommen hat. Er konnte aber nicht bestätigen, dass es sich um die beiden auf dem Foto handelt."
"Versteh mich nicht falsch, aber ich würde gerne mit deinem Cousin selber reden, kannst du mir da helfen?"
Es ist kein Problem für Hermann Gleyer. Er ruft noch in Brunos Gegenwart seinen Cousin auf dem Handy an. Von ihm erfährt er, dass der gerade mit dem Linienbus auf dem Weg nach Neustift ist. Dort würde er in ca. 10 Minuten ankommen, müsste den Bus in die Garage fahren und den entgegenkommenden Bus übernehmen. Da bleibt etwas Zeit.
"Das passt doch, die Busgarage ist gleich um die Ecke, direkt neben der Tankstelle."
Er steht auf und reicht Bruno die Hand. Bruno fühlt einen kräftigen aber angenehmen Händedruck.
"Vielen Dank, ich hoffe wir sehen uns mal, dann gebe ich einen aus."
"Ist schon recht, so unter Diplom-Ingenieuren hilft man sich doch gern – oder?"
Woher weiß der denn meinen Beruf? Hier kennt wohl jeder jeden und jeder weiß alles über den anderen...
12
Bruno lässt den Wagen stehen und geht das kurze Stück zu Fuß. Als er die Bushaltestelle erreicht hat blickt er kurz zur Kirchturmuhr rüber, es ist kurz nach 10:00 Uhr. Aus der Entfernung hört er einen Hubschrauber.
Ein paar Minuten muss er sich gedulden, dann sieht er aus Richtung der Kirche den weißen MAN-Bus der IVB kommen. Der Fahrer parkt den Bus an der Haltestelle. Um die Zeit steigt niemand aus. Der Fahrer hat den Bus auf seiner Seite verlassen und macht sich daran eine der Garagentüren zu öffnen. Dann setzt er sich wieder an seinen Arbeitsplatz und setzt den Bus im rechten Winkel zurück. Bruno beobachtet die Szene genau und stellt für sich fest, dass die Breite der Garage kaum größer als die des Busses ist. Roman Gleyer schafft es aber im ersten Ansatz. Dabei pendelt sein Blick immerzu zwischen den beiden Außenspiegeln hin und her. Langsam aber zügig verschwindet der Bus wie in einem großen Rachen. Es dauert noch ein paar Minuten, dann schließt der Fahrer das Garagentor ab, hält kurz Ausschau, entdeckt Bruno und kommt auf ihn zu.
Bruno streckt ihm die Hand entgegen.
"Grüß Gott, Mein Name ist Bruno Hallstein. Sie sind Roman Gleyer?"
"Grüß Dich, ich weiß schon Bescheid. Wollen wir da drüben einen Kaffee trinken? Ich habe etwa eine halbe Stunde, dann muss ich den nächsten Bus übernehmen."
Sie gehen schräg über die Straße, es fängt leicht an zu schneien. Im Café bestellt Bruno für beide einen Kleinen Braunen.
"Geht auf meine Rechnung, können wir uns duzen? Ich bin Bruno."
Man, ich staune über mich selber, das wäre mir vor ein paar Monaten, als ich noch mein Ingenieurbüro hatte, nicht so leicht über die Lippen gekommen. Aber hier und jetzt ist alles irgendwie anders.
Roman erzählt ihm noch einmal die ganze Geschichte. Es war am Freitagvormittag, als er seinen Bus gemäß Fahrplan um 10:44 Uhr Richtung Innsbruck Hauptbahnhof startete und eigentlich gar nicht damit rechnete, dass ein Fahrgast um die Zeit an der Haltestelle warten würde. Deshalb erinnere er sich auch so genau. Er hielt also an und ließ die beiden älteren Leute einsteigen. Nein, er verlangte kein Fahrschein, weil die Skifahrer und Wanderer ohnehin entweder mit dem Skipass oder der Gästekarte freie Fahrt mit den Bussen im Tal hätten. Und die Beiden wollten nur bis zur Haltestelle "Tankstelle", da wo sie sich jetzt auch getroffen hätten. Nein, genauer beschreiben könne er sie nicht. Beide trugen Mützen, so dass er keine Haarfarbe erkennen konnte und das Alter schätzt er auf 50 bis 70, vielleicht älter. Die Frau auf jeden Fall jünger als der Mann. Nein, Besonderes sei ihm nicht aufgefallen. Die Frau hätte mehrere Ringe an der Hand, so wie es heute viele Frauen trügen. Seine Frau hätte ebenfalls an jedem Finger einen, manchmal sogar zwei Ringe. Seit Jahren wünsche sie sich immer neue dazu, zu Weihnachten und zum Geburtstag. Als Busfahrer verdiene man nicht soviel, und dann, was mache sie mit den alten Ringen? Irgendwann müssten die Hände ja voll sein. Bruno muss ihn zurück in die Spur bringen. Ja, der Mann trug eine italienische Designer-Brille, glaube er. Er hätte das Label am Bügel erkannt, das gleiche würde die neuen Jeans seiner Tochter zieren. Und dann der Preis einer solchen Jeans... aber gut sähe sie aus. Doch, jetzt fiele ihm ein, dass der Mann die Brille kurz abnehmen musste, weil sie im Bus beschlagen sei. Dabei hat er, glaube er, erkannt, dass dem Mann an der linken Hand der kleine Finger fehlte oder genauer gesagt er hätte nur einen halben. Ja, die beiden wurden von einem älteren Herrn an der Haltestelle begrüßt. So, als würde man sich länger kennen, mit Umarmung und so. Nein, in welche Richtung die Drei gegangen seien, wisse er nicht, er musste ja weiter, den Fahrplan einhalten.
"Ich danke dir Roman, du hast mir vielleicht sehr geholfen. Alles Gute für
dich und deine Frauen."
"Passt schon, wenn ich helfen kann. Danke für den Kaffee."
"Kannst du mir noch deine Handynummer geben, falls ich noch eine Frage habe?"
Roman kramt aus seinem Portmonee eine Visitenkarte heraus.
"Da steht alles drauf, Servus."
Bruno dreht die Karte in seiner Hand. "Roman und die Kuhmelker", offensichtlich eine Musiktruppe der harten Sorte. Auf der Vorderseite ein Farbbild mit drei Männern und einer sehr blonden Frau in einem weit ausgeschnittenen Dirndl.
Warum muss ich jetzt eigentlich an Anna denken?.
Bruno steckt die Karte ein und geht zu seinem Auto. Da sein Handy auf seinem Zimmer am Tropf hängt, beschließt er, direkt zu Carla ins Hotel zu fahren.
Er trifft sie im Foyer, wo sie sich gerade mit dem Hotelangestellten hinterm Tresen unterhält. Er stellt sich direkt neben sie, ohne bemerkt zu werden.
"Hallo Carla, wie geht es dir?"
Sie reagiert nicht sofort, spricht weiter mit dem jungen Mann, der ihr schließlich ein Schlüsselbund übergibt.
"Hallo Bruno, schön, dass du da bist. Wir können gleich los, ich habe jetzt die Schlüssel von Papas Auto."
Sie scheint ein wenig besser drauf zu sein, sieht auch nicht mehr so krank und erschöpft aus. Ihre dunklen Augen hat sie mit ihrem Make-up noch betont und sie trägt einen dunklen Lippenstift, sehr, sehr ungewöhnlich. Wäre es nicht Vormittag und ein anderer Anlass, würde er auf einen spannenden Abend hoffen.
"Wohin soll es denn gehen? Hast du einen Plan? – Ich dachte, wir gehen zusammen etwas essen und ich erzähle dir von meinen Erkundungen."
Sie schaut ihn mit einer Mischung aus Fragezeichen und Vorwurf an, wobei sie ihre rechte Augenbraue etwas hochzieht. Schön ist sie allemal, gerade wenn sie wütend ist, aber Bruno ist irritiert, weiß nicht was sie will.
"Ich will jetzt nicht essen, ich habe eine Verabredung mit Inspektor Werner Deininger. Der will mir alle Fakten des derzeitigen Standes der Ermittlungen geben und dann wollen wir gemeinsam überlegen, wie es weitergehen soll. Das haben wir noch gestern Abend besprochen. Er war sehr entgegenkommend."
Na tolle Wurst. Er war sehr entgegenkommend. Wie dicht war er denn dran?
"Also, ich würde mich mehr auf die Einheimischen verlassen, die kennen sich besser aus, als dein Kommissar Werner... wie heißt der Vogel? Es kann doch wohl nicht sein, dass ein Kriminalpolizist mit einem betroffenen Verwandten der vermeintlichen Opfer die weitere Vorgehensweise bespricht. Weiß er selber nicht weiter?"
Die zweite Augenbraue zieht sich nach oben. Diavolo!
"Kannst du nicht mal in so einer Situation deine Eifersucht beherrschen? Hier geht es nicht um dich oder um Einheimische oder Nichteinheimische, hier geht es um das Leben meiner Eltern! Und mein Kommissar, wie du so schön sagst, hilft mir wenigstens und tut etwas. Der geht nicht laufend essen und Wein trinken!"
Bruno spürt seine Galle, das ist ein ganz schlechtes Zeichen.
"Gut Carla, tu was du tun musst aber eine Frage hätte ich noch: hat dein Vater eine Auffälligkeit an der linken Hand, irgendein besonderes Kennzeichen?"
"Nein. Mein Vater hat ein besonderes Kennzeichen an der rechten Hand, ihm fehlen am kleinen Finger die letzten beiden Glieder. Das habe ich der Polizei auch mitgeteilt!"
Sie dreht sich abrupt um und verlässt das Hotel durch den Ausgang zu den Parkplätzen.
13
Es ist inzwischen nach 12:00 Uhr und Bruno ist der Appetit vergangen. Trotzdem setzt er sich in den "Alten Jager" und bestellt sich ein Bier und ein Wiener Schnitzel. Einmal im Urlaub muss er Wiener Schnitzel haben, möglichst mit Kartoffelsalat und nicht diesen langweiligen Pommes. Der Kellner bringt ihm das Bier und Bruno nimmt einen kräftigen Schluck. Dann lässt er sich alles nochmals durch den Kopf gehen.
Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass mein neuer Freund, Diplom-Bergretter Hermann, Recht hat. Carlas Eltern waren nicht auf dem Gletscher und sind somit auch nicht dort verunglückt. Da kann der Hauptmann oder Kommissar, wie auch immer, so entgegenkommend sein wie er will. Nie werdet Ihr dort oben jemanden finden! Aber das mit dem halben Finger, das ist doch endlich mal ein Hinweis. Rechts oder links, ist doch scheißegal. Dann hat sich der Busfahrer eben geirrt - oder? Da kommt mir ein sehr detektivischer Gedanke. Der Roman Gleyer hat die Fahrgäste bestimmt im Rückspiegel beobachtet, deshalb seitenverkehrt. Mist, dass ich mein Handy nicht dabei habe, sonst könnte ich ihn gleich fragen.
Das Schnitzel ist ein Gedicht. Es ist eindeutig in der Pfanne gebraten, in sehr viel Fett und deshalb so schön goldgelb und kross. Da braucht er noch ein Bier, ein kleines. Auch der Kartoffelsalat schafft den Spagat zwischen zu viel und zu wenig Säure und die Kartoffeln selber schmecken hier sowieso immer besser als zu Hause in Berlin. Er genehmigt sich zum Abschluss noch einen Großen Braunen. Dann zahlt er, gibt ein großzügiges Trinkgeld und verlässt gegen 13:30 Uhr den "Alten Jager." Er überlegt, wie er den Nachmittag sinnvoll verbringen könnte.
Vielleicht solltest du mal auf 's Zimmer und dein Handy holen.
Er setzt sich in seinen Subaru und stellt fest, dass er tanken muss. Nun gut, er kommt ja direkt an der Tankstelle vorbei. Vor ihm steht nur ein Wagen, ein alter Allrad-Toyota. Der Fahrer ist scheinbar gerade zum Bezahlen. Bruno überlegt, ob er sich auf der anderen Seite anstellen soll, da erscheint der Toyotafahrer. Er hat ihn gleich erkannt, Hermann Gleyer.
"Hallo Bruno, so schnell sieht man sich wieder. Wir haben übrigens die Suche da oben eingestellt. Hast du meinen Cousin getroffen?"
"Ja, er hat mich überzeugt mit dem, was er gesehen hat. Ich glaube auch nicht mehr, dass die Beiden auf dem Gletscher sind. Die Frage ist nur, wo sind sie dann?"
"Hast du schon gegessen? Ich habe jetzt Pause und könnte etwas vertragen. Da könnten wir uns weiter unterhalten"
Bruno ist einverstanden und sie verabreden sich im "Alten Jager", gleich gegenüber. Nach ein paar Minuten und 54 Litern Superbenzin sitzt Bruno wieder am gleichen Platz, wie vorhin. Hermann hat inzwischen bestellt, für Bruno nur ein Mineralwasser, wie besprochen. Hermann beginnt die Unterhaltung.
"Gehen wir einmal davon aus, dass das Ehepaar Weißensee wandern wollte. Also, zumindest sind sie ja in Richtung Gletscher gestartet und waren laut Leni, vom Monte Cristallo, auch entsprechend ausgestattet, sowohl Kleidung als auch Rucksack. Das Wetter war ideal und sie waren früh oben an der Talstation. Was hat sie nun bewogen, den Plan zu ändern? Es muss etwas Wichtiges und Verlockendes gewesen sein, etwas was beide mehr reizte, als eine Wanderung am Gletscher bei Kaiserwetter."
Bruno nippte lustlos an seinem Wasser.
"Also wenn das mit dem anderen unbekannten Typen stimmt, wovon ich mal ausgehe, dann muss er sie ja irgendwie erreicht haben, nachdem sie schon unterwegs waren. Bleibt eigentlich nur ein Mobiltelefon. Ich weiß von Carla, dass ihr Vater immer sein Handy dabei hat, schon aus Sicherheitsgründen. Das wiederum bedeutet, dass der große Unbekannte die Handynummer kannte, bzw. sie sich besorgt haben muss. Aber woher?"
"Denk nur laut weiter, ich esse inzwischen mein Schnitzel."
"Naja, ich müsste Carla fragen, ob sie sich erklären kann, wie ein Fremder an diese Nummer gekommen ist. Außerdem spricht einiges dafür, dass die Drei sich kannten oder besser gesagt kennen. Noch gehe ich davon aus, dass sie am Leben sind. Denke nur an die vertraute Begrüßung, die dein Cousin Roman beobachtet hat. Vielleicht kennen die sich ja wirklich schon lange und gut, so dass jeder auch von dem anderen die Kontaktdaten hatte. "
Hermann legt Messer und Gabel kurz zur Seite und nimmt einen kleinen Schluck von seiner Cola.
"Vergiss nicht, dass der andere auch mit Wanderkleidung und Rucksack ausgestattet war. Vielleicht waren sie auch von Anfang an woanders verabredet und die beiden haben das nur verschwitzt. Meistens sind die Busse zum Gletscher am Morgen so voll, dass sie vielleicht nicht rechtzeitig aussteigen konnten oder sie kannten sich mit dem Fahrplan aus und wussten ganz genau, dass es keinen Sinn macht, vorher auszusteigen. So saßen sie wenigstens warm und würden bequem den Rückbus an der Endhalte erreichen."
"Wie auch immer, Hermann, wir werden es vielleicht nie genau erfahren, aber Fakt ist für mich, dass wir woanders suchen müssen. Und da stellt sich die Frage, wo? Ich mache es mal ganz einfach, die Bushaltestelle an der Tankstelle ist die, wo auch alle aussteigen, die zur Elfergondel wollen. Also besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie dort hochgefahren sind. Dann müsste sie jemand gesehen haben. Ich werde es auf jeden Fall versuchen, mir fällt sonst nichts Besseres ein."
"OK, das ist immerhin eine Chance. Ich habe nachher noch eine Lagebesprechung und werde die neuesten Erkenntnisse einbringen. Auf keinen Fall können wir mit so hohem Aufwand an Ressourcen weitersuchen, wenn wir keinen konkreten Hinweis haben. Das kann ich nicht verantworten. Den Hubschrauber haben die Innsbrucker vorhin auch wieder abgezogen. Bruno, wir hören von einander."
Bruno steckt die Karte von Hermann Gleyer in sein Portmonee und gibt ihm dafür eine etwas verbogene Karte seines ehemaligen Ingenieurbüros.
"Nur die Handynummer stimmt. Alles andere kannst du vergessen."
Er steigt in seinen Wagen und fährt den kurzen Weg zurück, an der Bergwacht vorbei, bis zum Parkplatz an der Elfer Talstation. Es ist inzwischen nach 14:30 Uhr und von daher kein Problem einen Platz für sein Auto zu finden. Er geht zur Kasse und befragt den jungen Mann hinter der Scheibe. Dann kauft er ein Ticket Berg- und Talfahrt. Beim Einstieg stehen zwei Angestellte der Gondelbahn, die er auch anspricht. Keiner von denen hat auch nur eine Ahnung von drei älteren Wanderern, von denen ein Mann an einer Hand einen verkürzten kleinen Finger hat. Auf der Fahrt nach oben versucht er, auf andere Gedanken zu kommen. Er versucht, sich eine zärtliche Situation mit Carla vorzustellen, es misslingt.
So kenne ich sie überhaupt nicht. Gut, es ist nicht leicht für sie. Immerhin kann es sein, dass ihre Eltern nicht mehr leben. Ich weiß nicht, wie ich mich in dieser Lage verhalten würde. Mein Vater ist lange tot und richtig intensiv getrauert habe ich nicht, wenn ich ehrlich bin. Obwohl ich meinen Vater sehr geliebt habe, bestand doch seit vielen Jahren ein gewisser Abstand. Anette hat viel länger gelitten, als der Vater starb. Vielleicht ist das ja auch geschlechtsspezifisch. Auf jeden Fall werde ich um Carla kämpfen, wenn die Zeiten wieder normal sind.
Die Gondel hat die Bergstation erreicht. Er hätte sich die Fahrt jedoch schenken können. Weder das Gondelpersonal, noch die Angestellten im anliegenden Bergrestaurant können sich an Menschen nach seiner kargen Beschreibung erinnern. Bruno ist frustriert. Wo soll man denn hier anfangen zu suchen? Hoffnungslos. Und Hermann hat ja auch völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass er keine großangelegte Aktion starten kann, wenn es nicht wenigstens einen konkreten Hinweis gibt. 20 Minuten später ist er auf seinem Zimmer. Das aufgeladene Handy motiviert ihn, zwei wichtige Anrufe zu tätigen. Erst ist es Roman Gleyer, den er zu Hause erwischt und zum Glück nicht während einer Busfahrt.
Es ist genauso, wie Bruno es dachte. Roman muss nur kurz überlegen und bestätigt dann, dass er die beiden Fahrgäste tatsächlich im Rückspiegel seines Busses beobachtet hat. Also wird aus der linken Hand die rechte und der halbe Finger wandert mit! Bruno hat nun einen zusätzlichen Grund, Carla anzurufen. Erstaunlicherweise geht sie sofort ran und scheint sogar recht gut gelaunt zu sein, gemessen an ihrem letzten Zusammentreffen.
"Hallo Bruno, das ist aber lieb, dass du mich anrufst. Stell dir vor, sie haben die Suche eingestellt, diese Idioten. Aber Werner will sich darum kümmern. Er hat schon in der Landeszentrale der Tiroler Bergwacht angerufen und..."
Werner, welcher Werner?
"Halt mal Carla, wer ist Werner?"
"Na der Inspektor oder besser Bezirksinspektor Deininger, ein wirklich kompetenter Mann!"
Und so entgegenkommend...
"Carla ich habe heute mit dem Leiter der hiesigen Bergwacht gesprochen. Sie haben überhaupt keinen Grund, noch weiter zu suchen, jedenfalls nicht auf dem Gletscher. Wir haben aber gemeinsam erörtert, wie es gewesen sein könnte und da ergeben sich..."
"Sag mal, auf welcher Seite stehst du? Die haben die Suche abgebrochen und du redest mit denen über Dinge, die sich ergeben haben könnten. Wie soll ich das verstehen?"
"Wir haben herausgefunden, dass deine Eltern offensichtlich nicht am Gletscher oben waren, jedenfalls nicht geblieben sind, sondern mit dem Bus ins Tal zurück und dann eventuell auf den Elfer hoch, mit der Gondel. Da war noch ein dritter Mann dabei..."
"Aha, der dritte Mann sozusagen. Sag mal wie viel hast du getrunken?"
Sie beendet das Gespräch. Es ist so zu Ende, wie es nur sein kann.
* * *
Donnerstag, 21. April 1955
Gestern war das Treffen mit Herrn Dr. Rohrmann. Er war sehr nett und hat mich zum Essen eingeladen. In diesem Teil von Innsbruck bin ich noch nie gewesen. Ganz in der Nähe fährt eine Bahn die Nordkette hinauf. Sie fährt auf Gleisen, wird aber von einem dicken Stahlseil gezogen. An einem der nächsten Wochenenden muß ich dort einmal hochfahren, vielleicht mit Claudia?
Meine Hoffnung, daß ich durch die Hilfe von Dr. Rohrmann vielleicht schneller zum Ziel komme, hat neue Nahrung erhalten. Ich habe direkt bei ihm meinen Beitritt zum ÖAV beantragt. Er ist Vorstandsmitglied und als solches für die Mitgliederförderung zuständig. Als Student (was ich ja streng genommen nicht bin) brauche ich auch nicht den vollen Beitrag bezahlen. Der Leiter des Geologischen Instituts, ein gewisser Professor Dr. Blasicz, ist ebenfalls im Verein. Wenn ich den überzeugt habe, steht meiner Immatrikulation nichts im Wege, sagt Dr. Rohrmann. Er will bei der nächsten Vorstandssitzung schon mal ein Gespräch mit Blasicz führen.
Heute ist mit der Post eine Ansichtskarte von Claudia gekommen. Sie zeigt eine Luftaufnahme vom Kalterer See. Dort muß es sehr schön sein. Sie schreibt, sie haben schon sommerliche Temperaturen. Zu Pfingsten soll ich sie besuchen kommen, ihre Eltern wollen mich kennen lernen. Oh Gott, wieso hat sie über mich gesprochen?
* * *
14
Bruno Hallstein hat die Nase voll, ist genervt und verspürt den Wunsch, sich etwas zurückziehen. Er schnappt sich den angefangenen Krimi, die unvermeidliche Lesebrille und macht sich auf den Weg in den Aufenthaltsraum. Der ist um die Zeit fast immer leer. Er setzt sich in seine Lieblingsecke. Von da hat er einen schönen Blick durch die Fenster auf das Elfermassiv und den Einstieg zum Pinnistal. Dann steht er nochmal auf und geht zu der kleinen Küchenzeile in der gegenüberliegenden Ecke. Er greift sich aus dem Regal ein Glas und eine kleine Karaffe und schenkt sich ein Viertel Rotwein ein. Die angefangene Flasche steht noch von gestern Abend dort. Dann schaltet er das Radio ein, dreht es aber so leise, dass die Musik gerade noch zu hören ist aber nicht beim Lesen stört. Als er wieder Platz genommen hat, nimmt er einen kräftigen Schluck, lehnt den Kopf nach hinten, bis er die holzvertäfelte Wand berührt und schließt die Augen für einen Moment, um diesen Augenblick der Ruhe in sich aufzunehmen und zu genießen.
Nach ein paar Seiten Krimi seines sizilianischen Lieblingsautors, lässt ihn ein schleifendes Geräusch aufblicken. Jemand hat die Tür der Durchreiche von der Küche aus kurz geöffnet und gleich wieder verschlossen.
Da war wohl einer neugierig und wollte sehen, wer hier sitzt.
Er trinkt einen kleinen Schluck und will weiterlesen, aber wie das nun so oft geht, passiert etwas Aufregendes.
"Hallo Bruno, bist du ganz alleine hier?"
Es ist Anna.
"Magst du einen Kaffee oder lieber einen Schnaps?"
"Hallo Anna, grüß' Dich. Also wenn schon, dann trinken wir einen Schnaps, ich habe schon mit Wein vorgelegt, ist doch auch nach vier."
Das ist schon eine runde Sache, wie sie so den Raum betritt. Manche Frauen treffen immer seinen Geschmack. Enge dunkelblaue, fast schwarze Jeans, ein breiter brauner Ledergürtel schaut unter einer weißen Bluse hervor, darüber trägt sie einen schwarzen Pulli mit kurzen Armen und einen lässig gebundenen Seidenschal, in der Farbe ihrer Jeans. Sie ist nur leicht geschminkt und ihr rötliches Haar etwas zerzaust. Ihre grünen Augen lächeln wie immer.
"Darf ich mich zu dir setzen oder willst du lesen?"
Sie stellt die beiden Schnapsgläser auf den Tisch, ihr Glas ist nur halb voll.
"Ich würde mich freuen, wenn du dich zu mir setzt, lesen kann ich später."
Wenn ich jetzt lieber lesen würde, müsste ich ja bekloppt sein.
"Hattest du einen schönen Tag?"
Ihr Parfum hat seine Nase erreicht. Alarm!
"Na, was man so schön nennt. Ich war ja in Sachen Busfahrer unterwegs. Der Hermann Gleyer von der Bergwacht hat mich mit seinem Cousin in Kontakt gebracht."
"Ach der Roman war derjenige, der die Vermissten mitgenommen hat? Stimmt überhaupt, der ist Busfahrer und auf den kannst du dich auch verlassen. Was der sagt, stimmt. Ich kenne ihn gut."
Sie greift zu ihrem Glas.
"Aber jetzt erst mal Prost. Ich bin heute den ganzen Tag unterwegs gewesen und ganz kaputt auf den Beinen."
Sie strahlt ihn an. Er spürt ein Kribbeln, ganz leicht nur, aber es ist da.
Mädchen, warum siehst du mich immer nur so an? Du machst mich ganz irre.
"Prost Anna, vielen Dank, auf dein Wohl."
Er versucht zurückzustrahlen, ohne Ahnung, ob es gelingt. Der Schnaps brennt das Kribbeln etwas weg, aber es kommt gleich wieder.
"Also Anna, du siehst wieder so was von fesch aus, fast wie heute morgen."
Sie lacht.
"Danke, aber wieso nur fast wie heut morgen?"
"Ich sag nur: heute morgen Dirndl. Da konnte ich mich gar nicht auf 's Frühstück konzentrieren. Das steht dir wie... also wie soll ich sagen..."
"Danke, vielen Dank. Wenigstens einer, der mich anschaut."
Wenn du wüsstest, wie oft ich dich anschaue.
"Du willst mir doch nicht erzählen, dass dich Hans nicht ansieht – oder?"
Das Strahlen in ihrem Gesicht reduziert sich auf ein leichtes Lächeln.
"Du, ich bin eine Frau und freue mich über Komplimente – aber Hans schaut mich natürlich auch an, er hat einen guten Geschmack. Nur mit den Kommentaren ist er recht sparsam, vielleicht muss ich mir für ihn mal etwas Besonderes überlegen."
Sie lacht wieder, steht auf und füllt, diesmal ohne zu fragen, die Gläser ein zweites Mal, jetzt aber beide voll, zweiter Alarm.
"Prost Bruno, das müssen wir ausnutzen, dass wir beide solo sind."
Was wird 'n das jetzt hier?
Der zweite Schnaps scheint das Kribbeln eher zu verstärken.
"Warum schaust' eigentlich so ernst und nachdenklich drein? Du wirkst irgendwie traurig, so kenn ich dich ja gar nicht. Geht es dir nicht gut?"
Mist, was hat sie denn? Soll ich ihr jetzt meine Gefühlslage erklären? Gibt doch nur Stress.
"Nee, wie kommst du darauf? Es geht mir gut, keine Sorge."
Schlagartig verschwindet ihr Lächeln und sie zeigt, dass sie auch ernst kann, will man gar nicht glauben.
"Aber irgendetwas hast du. Das sehe ich dir an."
"Nein, es ist nichts. Ganz normale Alltagsproblemchen. Muss man nicht drüber reden. Besser, wenn ich das für mich behalte, anstatt dich damit zu belasten."
Scheiße, was rede ich hier? Das ist ja geradezu eine Einladung, da einzuhaken.
Sie schaut ihm zu, wie er den letzten Schluck Wein trinkt, ein paar Sekunden lang und dann siegt ihre Neugier.
"Hat das was mit deiner Carla zu tun?"
Meine Carla, pah. Meine Carla, Deine Carla, Carla ist für alle da. Nur nicht für mich.
Schweigend steht er auf und füllt neuen Wein in die Karaffe. Als er wieder seinen Platz eingenommen hat, sieht sie ihn wieder an, immer noch steht der Schalter auf ernst. In der einsetzenden Dämmerung wandelt sich das grüne Strahlen ihrer Augen in einen eher matten Glanz undefinierbarer Farbe.
Mädchen, Mädchen, du kannst einen anschauen, da kommt der beste Dackel nicht mit. Ich werde dir jetzt was erzählen!
"Mein Gott, Anna, was soll ich sagen? Du sitzt hier mit mir, wir trinken Schnaps, du siehst zum Anbeißen aus und strahlst mich an, wie ich es sonst nur träume - ich bin doch nicht aus Holz! Auch wenn ich Dein Vater sein könnte, ich habe doch nicht alles vergraben und vergessen, was zwischen Mann und Frau so abgeht, sagen wir mal, abgehen kann."
Und Platon geht mir am Allerwertesten vorbei...
Er trinkt sein Glas mit einem Zug aus.
"Ist doch traurig genug, dass meine Gefühle für die Katz sind. Du bist so oder so für mich unerreichbar. Aber lass mich wenigstens ein wenig spinnen und wenn ich vielleicht mal einen Spruch mache, der dir zu weit geht, nimm es mir nicht übel, ich meine es ehrlich, auch wenn es sinnlos ist. Vielleicht bin ich auf eine gewisse Weise ein bisschen verknallt in dich, aber nur ein wenig und nur so für mich, das geht keinen was an. Und keine Angst, keiner wird etwas merken. Ich werde dich auch nicht belästigen und wenn ich dir auf den Senkel gehe, sage es mir. So, nun weißt du alles, mehr ist nicht. Das reicht ja nicht mal für 's Vorabendprogramm. Aber ich will dir noch eines sagen: in mir kribbelt es. Ein wunderbares Gefühl, dass ich lange nicht hatte und von dem ich gar nicht wusste, dass es noch in mir schlummert. Du hast es geweckt und dafür mache ich mich gerne zum Clown. Und Clowns sind doch immer traurig oder ?"
So, jetzt bist du dran.
Jetzt lacht er. Ob das nun vom Kribbeln kommt oder vom Wein, ist nicht zu klären und irgendwie auch egal.
"Ich hab mich also nicht getäuscht. Was soll ich sagen? Ich habe ja nicht geahnt, was in dir vorgeht. Dass du immer gerne hier bist, weiß ich natürlich. Aber ich habe das nie auf mich bezogen. Ich dachte es sei alles Mögliche, das Tal, die Berge, die Menschen, das Skifahren, was weiß ich?"
Sie macht eine kleine Pause, so als hoffe sie auf seine Antwort. Bruno schweigt.
"Und was machst du nun, wie gehst du jetzt damit um? Einfach so ertragen und hoffen, dass es vergeht?"
Wieder eine Pause, dritter Alarm.
Sie sieht ihn nicht mehr an, schaut auf ihr leeres Glas. Das Kribbeln wird für ihn unerträglich. Er steht auf, will sich einen weiteren Schoppen Wein holen, aber sie erhebt sich in diesem Moment ebenfalls, so dass sie fast zusammenstoßen. Ganz kurz stehen sie sich sehr nah gegenüber und verharren in dieser Position, sozusagen Film gerissen. Jetzt die Nähe, wieder das Parfum, grüne Augen lächeln ihn an und schon ist Alarmstufe rot. Das Herz wummert bis zum Hals, die Welt dreht sich nicht mehr.
Ist das jetzt Casablanca oder was? Ich halte es nicht aus, Anna, bitte mach was!
"Ich glaube, ich muss jetzt gehen."
Anna schiebt sich an ihm vorbei, Richtung Tür. Hier dreht sie sich noch mal lächelnd um und dann ist sie weg.
Das war knapp. Aber knapp daneben ist auch vorbei, leider...
Er stellt die Karaffe auf den Ecktisch, kein Wein mehr. Dafür öffnet er den Kühlschrank, holt die Schnapsflasche raus und gießt sich einen doppelten Obstler ein. Er muss unbedingt seinen Puls runterfahren, muss seine Emotionen unter Kontrolle bringen. Er setzt sich wieder und versucht, in seinem Krimi voranzukommen. Nach der dritten Seite stellt er interessanterweise fest, dass seine Seelenverwandtschaft mit dem Commissario Montalban um eine weitere Gemeinsamkeit ergänzt werden muss. Auch Montalban hat in seinem aktuellen Fall das Vergnügen mit einer wesentlich jüngeren, bildschönen Frau, die ihn sehr gekonnt um den Finger wickelt. Als Leser merkst du das, als Kriminalkommissar nicht, sozusagen Beruf verfehlt. Auch Montalban brodelt innerlich, hat Probleme, sich in den Griff zu kriegen, taumelt zwischen der süßen Versuchung und dem wirklichen Leben hin und her, wo er erstens eine Partnerin hat und zweitens der Vater der jungen Frau sein könnte.
Vater sein könnte, also jetzt reicht 's!
Er klappt das Buch zu.
Was habe ich nur erzählt? Habe ich mir etwa eingebildet oder gehofft, dass Anna mir um den Hals fällt? Das ist doch alles Quatsch, nur seniles Gesülze mit freundlicher Unterstützung von Bruder Alkohol. Warum konnte ich auch nicht die Klappe halten? Was sollte sie überhaupt mit mir anfangen? Ich, mit meinen mindestens 15kg Übergewicht, meinen Falten unter den Augen, meinem melancholischen Normalzustand und meinem Problem mit dem Alter. Sie dagegen, 20 Jahre jünger, mit der Ausstrahlung einer ausgeglichenen, selbstbewussten Frau. Steht mitten im Leben, topfit, schlank, sportlich, immer gut drauf, freundlich und hat dieses fesselnde, immer strahlende Lächeln im Gesicht. So sehen glückliche Frauen aus, keine Frage. Da passen wir ja prima zusammen, wirklich...
Er steht wieder auf, öffnet ein Fenster. Draußen ist es inzwischen ganz dunkel geworden. Eine leichte Brise zieht in den Raum, bringt ihm etwas Abkühlung. Er füllt die Karaffe nun doch noch einmal auf, setzt sich wieder auf seinen Platz und genießt das Kribbeln. Montalban verliert übrigens ein paar Seiten später den Kampf gegen sich selbst. Kurz vor dem Ende der Handlung kommt es doch noch zum unvermeidlichen Kurzschluss. Zu groß ist die Spannung zwischen der jungen Frau und dem Commissario, die Luft- und Kriechstrecken zu klein, um in der Fachsprache des Ingenieurs Bruno Hallstein zu bleiben. Prompt kommt es zum Überschlag. Aber es ist ja nur ein Roman, vielleicht mit einer kleinwenig autobiographischen Komponente des Autors, der auch nicht mehr der jüngste ist.
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Donnerstag, 5. Mai 1955
Habe heute mit meinem Vater telefoniert. Es hat ewig gedauert, bis meine Vermieterin mit ihrem Telefon eine Verbindung bekommen hat. Dann stand sie die ganze Zeit daneben und schaute auf die Uhr, wegen der Abrechnung (Blöde Ziege). Meine Eltern wollen, dass ich schon zu Christi Himmelfahrt nach Hause komme. Wenn ich bis Pfingsten bleibe, leiht mir mein Vater seinen Wagen, dass ich nach Kaltern fahren kann.
Jubel, Claudia ich komme!!!
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