Читать книгу Verblöden unsere Kinder? - Jürgen Holtkamp - Страница 5
Оглавление„Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist groß.
Die ich rief die Geister, werd ich nun nicht los.
In die Ecke, Besen! Besen! Seid’ s gewesen.
Denn als Geister
Ruft euch nur, zu seinem Zwecke,
Erst hervor der alte Meister.“
Der Zauberlehrling von Johann Wolfgang von Goethe
Einleitung
Noch vor 25 Jahren, wenn – was selten der Fall war – im Unterricht ein Lehrfilm gezeigt wurde, war das für die meisten Schüler aufregend. Gemeinsam gingen sie in einen speziellen Vorführraum, in dem ein großer Filmprojektor stand, und unter der Anleitung des Lehrers durfte der Auserwählte den Film „einfädeln“. Wie von Geisterhand zog der Projektor die Filmrolle automatisch über mehrere Spulen durch, bis die Filmrolle am anderen Ende des Projektors herauskam und vom Schüler in die leere Filmspule eingelegt werden konnte. Dann wurde das Licht ausgeschaltet, der Projektor lief los, der Ton war zwar meistens nicht so gut und doch war die „Kinoatmosphäre“ spürbar.
Für die Medienkinder von heute gehören Filmrollen und Projektoren längst der Filmgeschichte an, sie kennen vielleicht noch die VHS-Kassette, auf jeden Fall DVD. Filme werden heute mit modernster Technik hoch auflösend und digital gedreht. Große TFT-Bildschirme und Beamer sind die neuen Fernseher. Das „Heimkino“ ist in die deutschen Wohnzimmer eingezogen.
Der Buchtitel „Verblöden unsere Kinder?“ fordert Sie, liebe Leserinnen und Leser (nur um des besseren Leseflusses verwende ich im Folgenden nur die männliche Form), zu einer Antwort auf. Vielleicht revidieren diejenigen, die die Frage mit „Ja“ beantworten, ihre Meinung am Ende dieses Buches. Diejenigen, die spontan mit „Nein“ antworten, werden – so hoffe ich – zögerlicher.
Unsere Kinder mögen in technischer Hinsicht die neuen Medien „beherrschen“ und damit der Elterngeneration überlegen sein, doch genügt dies keineswegs; was sie benötigen, sind ethische und moralische Maßstäbe. Sie benötigen ein Wertesystem, das ihnen hilft, Gutes von Schlechtem und Nützliches von Schädlichem zu unterscheiden, und sie sind auf Menschen angewiesen, die ihnen Kompetenzen und Strategien vermitteln, wie sie sich in der Mediengesellschaft kompetent zurechtfinden.
Täuscht etwa der Eindruck, dass die „Mediengeister“ analog zu denen, die der Zauberlehrling (in Goethes Ballade) rief und nicht mehr bändigen konnte, sich heute selbstständig gemacht haben? Kennen wir überhaupt die notwendigen Zaubersprüche? Bei Goethe gibt es einen Zaubermeister (Hexenmeister), der die Geister in die Schranken weist. Doch: Wer ist der Zaubermeister im 21. Jahrhundert? Sind es die Eltern oder vielleicht die Lehrer? Angesichts der technischen Kompetenzen heutiger Jugendlicher könnten dabei durchaus Zweifel angebracht sein. Oder zähmen etwa unsere Kinder schneller und effektiver die „Mediengeister“?
Wenn dem so ist, dann gibt es eine Umkehrung der Verhältnisse zwischen den Generationen. Die „Jungen“ sind die Experten und die „Alten“ die Lehrlinge! Ganz so abwegig ist der Gedanke nicht, immerhin können viele Kinder und Jugendliche schneller und effektiver mit dem Handy umgehen als ihre Eltern, kennen viel mehr Tricks am Computer und sind wahre Cracks im Internet.
Fragt sich nur, ob sie die Mediengeister, die – einmal gerufen – sich nun immer rascher verselbstständigen, in die Schranken weisen können. Zweifel sind angebracht, denn unsere Mediengesellschaft ist nicht nur viel komplexer, um mit einem Zauberspruch alles wieder ins Lot bringen zu können, sondern Kinder wie Jugendliche stehen oftmals hilflos vor den Mediengeistern.
Oder zähmen etwa Kindergarten, Schule und Politik die Mediengeister? Zu klären wäre, ob diese Institutionen über den notwendigen Überblick, die Kompetenzen, das Know-how und die richtigen „Zaubersprüche“ verfügen, um alles wieder geradebiegen zu können. Denkbar wäre ebenfalls, dass es gar keinen „Zaubermeister“ gibt. Diese Vorstellung wäre nicht nur ausgesprochen pessimistisch, sondern würde uns vor Augen halten, was in unzähligen Science-Fiction-Filmen gezeigt wurde: Medien regieren die Welt, Roboter beherrschen die Menschheit, Technik macht uns zu Sklaven.
So wie der Zauberlehrling fühlen sich viele: Grundschullehrerinnen, die am Montagmorgen die Horrorfilme von ihren Viertklässlern erzählt bekommen, die diese am Wochenende (im Fernsehen) gesehen haben. Eltern, die keine Zeit für ihre Kinder haben und ihre Kinder stundenlang vor dem Babysitter „Fernsehen“ parken. Jugendliche, die nach immer neuen Gewaltexzessen in Onlinespielen suchen und nur noch in der virtuellen Welt leben. Junge Frauen und Männer, die sich Tag und Nacht in Onlineforen verlieren, um ihre Sehnsüchte und Ängste erzählen zu können, nur: Eine Besserung ist nicht in Sicht. Nicht zu vergessen, extremistische Organisationen, die im Zeitalter des Internets mit aller Macht ihre rassistischen und ideologischen Pamphlete veröffentlichen und junge Menschen anlocken.
Es gibt sie, die hässliche Seite der Medien, in der das Individuum nichts und die Quote alles ist, in der „Deutschland sucht den Superstar“ zum Inbegriff der Fernsehkultur wird, in der die Grenze zur Pornografie immer weiter ausgedehnt wird und sich kaum jemand wundert, wenn zur Primetime um 20.15 Uhr mehrere Krimis, Liebes- und Actionfilme auf den Kanälen gleichzeitig zu sehen sind, Gewalt und nackte Haut inklusive.
Vor diesem Hintergrund sind die Stimmen, die sagen, „Medien schaden der abendländischen Kultur mehr, als dass sie ihr nützen“, ernst zu nehmen. Anscheinend bewertet jedoch nur ein (kleiner) Teil der Gesellschaft diese Phänomene als Problem: Viele Zeitgenossen nehmen die Medien als gegeben, zappen sich unreflektiert durch die Fernsehprogramme oder surfen ohne Sinn und Verstand im Internet. Eine kritische Medienrezeption sieht anders aus! Vielleicht sind deshalb die Erwartungen an die Pädagogik (respektive Medienpädagogik) von Politikern, Eltern, Wissenschaftlern und den Kirchen hoch. Müsste die Pädagogik diese Fragen nicht aufnehmen, analysieren, Konzepte entwickeln und Perspektiven für den verantwortungsvollen Umgang mit Medien aufzeigen? Meistens werden Pädagogen oder Psychologen jedoch erst dann gehört, wenn das „Kind“ sprichwörtlich in den Brunnen gefallen ist.
Wenn ein Jugendlicher ein Attentat – wie jüngst in Winnenden – in einer Schule verübt hat oder durch Bombendrohungen im Internet aufgefallen ist, wird gefragt: Wie konnte so etwas passieren? Warum hat niemand im Vorfeld etwas bemerkt? Wer hat versagt? Wo ist der Zaubermeister?
Aber gibt es nicht auch die andere Seite? Wenn ein Fünftel der Weltbevölkerung das Internet nutzen, geschätzte 1,3 Milliarden Menschen, mehr als 42 Millionen davon in Deutschland, dann ist die Globalisierung der Kommunikation in vollem Gange. Ist es da nicht fast folgerichtig, wenn Computerkenntnisse neben Lesen, Schreiben und Rechnen als vierte Kulturtechnik gesehen werden? Immerhin spielt der Computer eine bedeutende Rolle im Leben der Menschen, wirkt in fast alle Bereiche des sozialen Daseins, die Arbeitswelt, den Konsum, das Familienleben und die Kindererziehung hinein. Manche beklagen, ständig online und rund um die Uhr erreichbar zu sein, entfremde den Menschen von sich. Allerdings bietet das Internet Wirtschaftswachstum und Karrierechancen, dient als kommunikative Drehscheibe, auf der es alles gibt und die alles bietet, die besten Kochrezepte und Reiseangebote, den aktuellen Blockbuster, den preisgünstigen Fernseher, die neuesten Informationen und gigantische Zugriffsmöglichkeiten auf Wissensbestände, nicht zu vergessen die vielen Kontaktmöglichkeiten. All das klingt verlockend und fasziniert nicht nur Kinder und Jugendliche. Im Grunde geht es um folgende Fragen: Sind Fernsehen, Computer, Internet und Handy wirklich zum Vorteil des Menschen (der Kinder) und welchen Preis haben wir dafür zu zahlen? Wie verändern Medien unsere Kultur, die Gesellschaft und die Familien? Und: Wie gelingt es uns, die „Mediengeister“ unter Kontrolle zu halten?
Der amerikanische Medienwissenschaftler und Medienkritiker Neil Postman mahnte bereits in den 80er-Jahren an, dass wir Menschen uns für neue (technische) Möglichkeiten entscheiden und nicht daran denken, welche psychischen und kulturellen Verluste in der Zukunft damit einhergehen.
Die einen sehen einen Gewinn an Freiheit, während die andern den Verfall von Kultur befürchten bzw. diesen schon eingetreten sehen.
Was wir feststellen können: Die digitalen Medien sind „Miterzieher“! Neben Familie, Freundeskreis, Kindergarten und Schule beeinflussen sie die Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der Heranwachsenden. Kindheit und Medien sind eng miteinander verwoben.
Die Frage, wer instrumentalisiert eigentlich wen?, bedarf daher einer dringenden Klärung.
Für nicht wenige Eltern sind Fernsehen, Handy und Internet die „Bösen“, denen ihre Kinder schutzlos ausgeliefert sind. Nun sind die Eltern aber keine in sich homogene Masse, auch sie nutzen Medien sehr verschieden und leben in unterschiedlichen Medienwelten. So wenig wie es „die Medien“ gibt, genauso wenig gibt es „die Kinder“ und „die Eltern“. Und was für die einen passend und gut ist, ist für die anderen zu viel und schädlich.
Wie Kinder und Jugendliche aufwachsen, wie sie mit Medien umgehen, welche sie bevorzugen, wie ihre Medienausstattung ist, versuche ich im ersten Teil zu klären.
Wenn Kinder und Jugendliche täglich mit Medien umgehen, wie steht es dann mit den Medienwirkungen und wie verarbeiten Kinder die Bilder eigentlich? Diese Fragen werden im zweiten Teil diskutiert.
Telefonieren, kurze Nachrichten schreiben oder Videos aufnehmen, Handys sind Multimediawerkzeuge mit vielen verschiedenen Funktionen und Anwendungen. Doch auch die schöne Welt der Handys bekommt zunehmend Risse, wenn von Menschen Videos aufgenommen werden, die sie in peinlichen Situationen zeigen und diese ohne deren Zustimmung ins Internet gestellt werden. Das sind einige der Themen, die im dritten Teil besprochen werden.
Computer können zum Spielen oder Arbeiten eingesetzt werden. Während viele Eltern zumindest die Nutzung des Computers als Arbeitsinstrument einigermaßen überschauen können, herrscht im Bereich der Spiele und des Internets häufig große Ratlosigkeit und Unkenntnis, fehlt nicht nur den Eltern, sondern auch Lehrern und Pädagogen das notwendige Know-how. Dies ist Thema des vierten Teils.
Welche Auswirkungen haben die Anwendungen des Webs 2.0 auf unsere Kinder? Ist das alles nur eine Marketingstrategie, die mehr verspricht, als sie hält, oder sieht so die glorreiche Zukunft des Internets aus? Inwieweit die neuen Kommunikationsangebote, die uns das Web 2.0 bietet, mehr Schein als Sein sind und wie wir diese sinnvoll nutzen können, werde ich im fünften Teil darstellen.
Bei Jugendlichen sind Computerspiele und Musikdownloads besonders beliebt. Was einerseits viel Spaß bereitet, wird zum Problem, wenn Musik illegal heruntergeladen und das Urheberrecht verletzt wird. Häufig gehen Kinder und Jugendliche zu sorglos mit dem Medium Internet um, geben persönliche Daten – etwa beim Chatten oder in Foren – preis. Im Internet gibt es viele Seiten mit rassistischen oder pornografischen sowie gewaltverherrlichenden Inhalten. Kindern und Jugendlichen fehlt nicht selten der „kritische Blick“. Die „hässliche“ Seite des Internets thematisiere ich im sechsten Teil.
Ich gehöre nicht zu den Kulturpessimisten, die in der Mediennutzung primär die negativen Gefahren sehen. Verbote und Filtersoftware sind für mich nicht die Instrumente für eine erfolgreiche Medienerziehung von Kindern und Jugendlichen. Vielmehr plädiere ich für einen offenen und aufgeklärten Umgang mit den Neuen Medien. Kinder und Jugendliche müssen über die bestehenden Gefahren aufgeklärt werden, ihre berechtigen Fragen müssen beantwortet werden und sie sollten zu einem sicherheitsbewussten Verhalten motiviert werden. Diese medienpädagogischen Herausforderungen stelle ich im siebten Teil dar.
Ich möchte an dieser Stelle einigen Personen herzlich danken. Robert Henn, meinem Studienkollegen und lieben Freund, danke ich für Durchsicht, Korrektur und wichtige inhaltliche Hinweise. Meine Tochter Jana Holtkamp hat mich auf manche Ungereimtheiten hingewiesen. Meinen Töchtern Lea und Miriam habe ich – ohne dass sie es immer wahrgenommen haben – über die „Schulter“ geschaut und damit einiges über praktische Mediennutzung erfahren. Monika Holtkamp hat mir nicht nur den notwendigen zeitlichen Freiraum gewährt, der für ein solches Projekt zwingend notwendig ist, sondern das Manuskript korrigiert und mir in vielen Gesprächen Impulse und Anregungen gegeben. Dem Verlag Butzon und Bercker danke ich für die freundliche Unterstützung und Realisierung.
Jürgen Holtkamp