Читать книгу Die gestohlene Stadt - Jürgen Matz/ Sarah Rubal - Страница 8
ОглавлениеProlog
Rolf Weckmann parkte den Wagen, den er von der Redaktion der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung« gestellt bekam, vor dem unscheinbaren Haus, nahe dem Kölner Melatenfriedhof.
Mit den schulterlangen, dunklen Haaren und in seiner Lederjacke und der Hose mit den ausgestellten Beinen setzte Weckmann betont auf die Lässigkeit der Hippies, was ihm in der Redaktion nicht nur Freunde einbrachte.
Weckmann kontrollierte, ob er sein Notizbuch, den Bleistift und das Aufnahmegerät in seiner Jacke hatte, dann stieg er aus.
Es war kurz vor Ostern, die ersten Frühlingsboten zeigten sich in den spärlichen Grünstreifen zwischen den grauen Häuserfassaden.
Er klingelte bei Warsch, es dauerte eine Weile, bis jemand öffnete. Die Wohnung des ehemaligen Kölner Regierungspräsidenten Dr. Wilhelm Warsch lag im 2. Stock, das Treppenhaus war eng und es roch nach Rotkohl. Kein wirklich bürgerliches Umfeld für einen ehemaligen Zentrumspolitiker und ein Gründungsmitglied der CDU, schoss es Weckmann durch den Kopf und er beschloss, diesen Widerspruch in jedem Fall zu notieren.
Ein solcher Hinweis könnte nützlich sein, wenn es darum ging, Warschs tragische Rolle bei den Ereignissen zwischen 1940 und 1946 aufzuklären. Anfangs hatte sich Weckmann bei der Redaktionssitzung nicht gerade darum gerissen, ausgerechnet diese Reportage über einen pensionierten Politiker ohne nennenswertes Vermächtnis zu machen, doch je tiefer er in die Fakten zum Verschwinden der Stadt Uerdingen am Rhein unter den Nazis eingetaucht war, umso größer war sein Interesse geworden, bis sich Weckmann schließlich sicher war, einer größeren Sache auf der Spur zu sein. Tatsächlich waren es die Ereignisse jenseits von Uerdingen, die mit der Gründung der CDU in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu tun hatten, die ihn brennend interessierten.
Eine kleine Frau mit sorgfältig frisiertem grauem Haar öffnete Weckmann.
»Rolf Weckmann, von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung«, stellte sich Weckmann vor. »Ich hatte angerufen, das Interview mit Dr. Warsch.«
Die Frau nickte, trat beiseite und ließ ihn hereinkommen. Weckmann streifte seine Schuhe an der sorgfältig gereinigten Fußmatte ab und schritt nach drinnen. In dem engen und schlecht beleuchteten Flur hingen zahllose Fotos an den Wänden, einige von ihnen schon auf den ersten Blick von historischem Interesse. Weckmann erkannte gerahmte Urkunden und Fotos mit politischen Prominenten, allen voran Konrad Adenauer.
Wilhelm Warsch erwartete ihn in dem lichtdurchfluteten Wohnzimmer, umgeben von deckenhohen Bücherregalen, in denen sich zahllose Bände stapelten.
»Dr. Warsch?«
Der ehemalige Bürgermeister von Uerdingen saß in einem Lehnstuhl, das Gesicht eingefallen, die Haare schlohweiß. Über seinen schmalen Knien lag trotz der Wärme im Raum eine Decke. Vor ihm, auf einem kleinen Tischchen, stand ein Strauß weißer Lilien, die einen schon fast luxuriösen Geruch verströmten.
»Ich bin Rolf Weckmann…«
»Ich weiß, wer Sie sind.« Warsch winkte ihn heran und lächelte freundlich. »Ich habe Sie schon erwartet.«
Weckmann kam näher und zog sich einen Stuhl heran.
»Wie kommt es, dass sich ein Reporter der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung für mich altes Eisen interessiert?«
»Ich bin Journalist, kein Reporter«, korrigierte ihn Weckmann, der seinen Notizblock zückte.
Warsch lächelte weiter freundlich. Weckmann bemerkte seine klaren, dunkelbraunen Augen, die ihn unter halb geschlossenen Lidern interessiert zu mustern schienen, auch wenn er von Warschs starker Kurzsichtigkeit wusste. Aus seinen Recherchen wusste er auch, dass der alte Mann vor knapp 14 Jahren einen Schlaganfall gehabt hatte und seither teilweise gelähmt war. Sein Kopf aber, das konnte er auf einen Blick erkennen, war hellwach.
»Dr. Warsch, Anlass meiner Recherche ist die geplante Gebietsreform. Sind Sie darüber informiert?«
Statt einer Antwort wies Warsch mit dem Kinn zu einem kleinen Stapel Zeitungen, die vor ihm auf dem Boden lagen.
»Meine Augen sind zwar schlecht, doch noch habe ich meine Gewohnheit, jeden Morgen die Zeitung zu lesen, nicht aufzugeben. Es war mein Vater, der mir sagte, dass das die wichtigste Voraussetzung ist, um eines Tages ein guter Politiker zu sein.«
»Dr. Warsch… «
»Oh, bitte, lassen Sie den Doktor weg. Dann fühle ich mich, als sei ich wieder an der Universität.«
»In Ordnung, Herr Warsch, Sie stammen ursprünglich aus Viersen, kamen aber in den 1920er Jahren in die damalige Stadt Uerdingen am Rhein und wurden alsbald Bürgermeister.
Der Zusammenschluss der Städte Krefeld und Uerdingen ab 1929 war vorrangig Ihr Werk, wenn ich die alten Zeitungsberichte richtig interpretiere.«
Warsch nickte langsam, sagte aber nichts, so dass Weckmann fortfuhr.
»Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wurden Sie aus Ihrem Amt vertrieben und kamen nach Köln. Allerdings kehrten Sie schon im Frühjahr 1945, kurz nach der Kapitulation zurück und setzten sich mit viel Engagement dafür ein, dass Uerdingen kein Teil von Krefeld blieb. 1949, zwei Jahre nach Ihrem Abschied aus der Stadt, mussten Sie einsehen, dass der Kampf gescheitert war, Uerdingen als Stadt verschwand von der Landkarte und ist nunmehr nur noch ein Stadtteil von Krefeld.«
Ein Zug von Bitterkeit zeigte sich um Wilhelm Warschs Mund und Weckmann entging nicht, dass seine Mundwinkel zuckten. Offensichtlich wühlte die bloße Erwähnung der Ereignisse in dem alten Mann einiges auf.
»Bis 1946 setzten Sie sich, auch in Ihrem Amt als Krefelder Oberbürgermeister, dafür ein, dass Uerdingen gewisse Privilegien behalten konnte. Doch jetzt steht wieder eine Gebietsreform an und damit werden wohl alle noch verbliebenen Sonderrechte Uerdingens abgeschafft.«
Warschs Hände an den Lehnen des Stuhls verkrampften sich so sehr, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Was damals geschah, war Unrecht«, presste er hervor und stemmte sich umständlich in dem Stuhl nach oben. Dann plötzlich verließ die Anspannung seinen Körper, seine Gesichtszüge wurden wieder weich, die verkrampften Hände lösten sich. Er ließ sich in seinen Sessel zurücksinken.
»Ich habe meinen Frieden mit Uerdingen gemacht. Ich hoffe nur, dass die Uerdinger auch mit mir irgendwann ihren Frieden machen können«, sagte Wilhelm Warsch. »Wenn man eine Geschichte erzählen möchte, dann sollte man ganz am Anfang beginnen, immerhin nehmen Dinge so ihren Verlauf und das sollten wir Ihren Lesern nicht vorenthalten. Und diese Geschichte beginnt 1925.«