Читать книгу Die gestohlene Stadt - Jürgen Matz/ Sarah Rubal - Страница 9

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1. Kapitel: Das Kleinod am Niederrhein

»Gerta? Gerta! Wo bleibst du denn?« Wilhelm Warsch strich sich das dichte, akkurat geschnittene Haar aus der Stirn und betrachtete zufrieden die Fassade ihres neuen Zuhauses, die man anlässlich ihres Einzugs in der Augustastraße 14 neu gestrichen hatte. Wilhelm hob seinen einjährigen Sohn Wolfgang hoch.

»Siehst du, Wolfi, da werden wir in Zukunft wohnen! Wie gefällt es dir?«

Gerta, die in ihrem nach der neuesten Mode an den Hüften besonders eng geschnittenem Kleid Schwierigkeiten hatte, aus dem Wagen zu steigen, den sie zu ihrer Hochzeit von Wilhelms Vater Heinrich erhalten hatten, folgte Wilhelm und Wolfgang nach drinnen.

Wilhelm setzte seinen einjährigen Sohn ab und schritt in das schattige Treppenhaus, dessen Boden mit einem schwarz-weißen Schachbrettmuster ausgelegt war. Es roch nach frischem Bohnerwachs. Er griff das gewundene Treppengeländer aus dunklem Holz und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Stufen hinauf in die großzügige Beamtenwohnung im zweiten Stock.

Die weißen Flügeltüren standen offen, am Eingang erwartete sie, in Schürze und Haube, die Hausangestellte Martha, die ihnen, wie die Wohnung, von der Stadt Uerdingen gestellt wurde. Als sie Wilhelm Warsch, den groß gewachsenen und gut aussehenden Mann mit der hervorstechenden Nase und den wachen Augen, sah, machte sie einen Knicks, doch der designierte Bürgermeister Uerdingens ergriff fröhlich ihre Hand und drückte sie.

»Herrlich, Gerta, schau doch nur, die großen Fenster, weit hinten kann man die Buss-Mühle ohne Flügel und die Häuser im Westbezirk an der Lindenstraße erkennen.«

Gerta, die am Fuße der Treppe stand, raffte ihre Röcke und folgte ihrem Mann lächelnd nach oben. Es war eben jener Überschwang, den sie an ihrem Mann so liebte. Er war Beamter, wie schon sein Vater, und hatte es in seiner Geburtsstadt Viersen in der Stadtverwaltung weit gebracht; zuletzt war er in München-Gladbach Stadtdirektor und Leiter des Wohnungsamtes gewesen.

Es war erst wenige Monate her, dass sich ihr Mann der Zentrumspartei angeschlossen und sich entschieden hatte, im 30 km weit gelegenen Uerdingen für das vakante Amt des Bürgermeisters zu kandidieren, keine leichte Aufgabe für einen Stadtfremden. Wochenlang hatte Wilhelm an seinem Programm gefeilt und es immer wieder verbessert.

Der große Krieg war nun sieben Jahre vorbei und damit auch die Monarchie, doch noch immer gab es viele, die sich nicht an die neuen demokratischen Verhältnisse gewöhnt hatten.

Für die Menschen im Rheinland war es auch nach dem Ende des großen Krieges nicht wirklich ruhiger geworden. 1922 war Deutschland mit den drastisch hohen Entschädigungszahlungen an Frankreich, den sogenannten Reparationskosten, in Rückstand geraten. Daraufhin hatten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt, da sich dort das Zentrum der wertvollen deutschen Rüstungsindustrie befand. Reichspräsident Stresemann hatte zum »passiven Widerstand« aufgerufen, der den deutschen Staat so viel Geld gekostet hatte, dass man nun mit der Inflation kämpfte. In wenigen Monaten, im Januar 1926 würden die letzten belgischen Besatzungstruppen vom linken Niederrhein abgezogen.

Nun standen alle Zeichen auf Wiederaufbau und Fortschritt. So auch in Uerdingen, in der alten Rheinstadt hatte Politik Tradition und man hatte Warschs fortschrittliches Programm, das einen Ausbau der rheinabhängigen Industrie vorsah sowie die rasche Eingemeindung einiger benachbarter Gemeinden wie etwa dem Dorf Hohenbudberg, mit Wohlwollen aufgenommen und ihn vor einer Woche mit nicht einmal 30 Lebensjahren zum jüngsten Bürgermeister Deutschlands gemacht.

Gerta betrat die Wohnung, deren sechs Zimmer durch einen langen Flur miteinander verbunden waren. Sofort bemerkte sie, wie angenehm das Licht durch die hohen, doppelt verglasten Fenster einfiel, außerdem die großzügig geschnittenen Kamine in den Wohnräumen. Von besonderer Bedeutung war das elektrische Licht, das in allen Zimmern verfügbar war.

Noch waren die Zimmer beinahe leer. Aus ihrer im Vergleich dazu kleinen Wohnung aus München-Gladbach hatten sie nur wenige Stücke mitnehmen können.

»Wir richten uns ganz neu ein«, hatte Wilhelm gesagt und Gerta war einverstanden gewesen.

»Das hier wird dein Zimmer sein«, sagte Wilhelm gerade und zeigte seinem Sohn ein ganz am Ende des Zimmers gelegenes quadratisches Zimmer mit hellblau gestrichenen Wänden, in dem sich bereits einige Spielzeuge von Wolfgang befanden.

Der kleine Junge klatschte in die Hände und stieß einige Freudenlaute aus. Wilhelm wirbelte mit ihm auf dem Arm herum und lief den Flur zurück zu Gerta, der er übermütig einen Kuss auf die Wange drückte.

»Hier werden wir sehr glücklich werden, liebste Gerta, ich kann es spüren. Und wie viele Zimmer wir haben! Das ruft doch geradezu nach einem ganzen Stall von Kindern, was meinst du?«

Gerta errötete ein wenig und senkte den Blick, doch ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Nun, wo Wilhelm sein politisches Ziel vorerst erreicht hatte, konnte man darüber nachdenken. Gerta streifte ihren Hut und die Handschuhe ab und hing ihren Mantel an die Garderobe, bevor sie Martha begrüßte.

»Martha, wollen Sie mir die Küche zeigen? Ich denke, es gibt einiges, das ich zu lernen habe. Mein Mann gibt schon in zwei Tagen einen Empfang für einige Stadtverordnete und ich habe noch keine Ahnung, was wir auftischen sollen.«

Martha wiederholte ihren Knicks und wandte sich dann nach rechts, wo sich die große Küche mit dem modernen Gasherd befand.

Wilhelm, der in den vergangenen Wochen anlässlich der Stadtverordnetenversammlungen immer wieder in Uerdingen gewesen war, setzte den kleinen Wolfgang bei seiner Mutter ab.

»Ich werde einen kleinen Spaziergang machen. Die Sonne da draußen ist so herrlich und es kann nicht schaden, den einen oder anderen Bürger gleich persönlich zu begrüßen.«

Beim Blick in den Spiegel korrigierte er den Sitz seines Hutes und des Anzuges, dann war er schon hinaus auf die staubige Augustastraße, auf der nur selten einmal ein Fahrzeug entlang fuhr.

So manchen seiner Nachbarn hatte er schon kennen gelernt, wie den Herrn Direktor Robert Seyfarth aus Haus Nr. 22, der glühender Schwimmer beim ASC Duisburg war und sofern er Zeit hatte, zum Barbarasee nach Wedau fuhr. Der Katasterangestellte Schmidt, aus Haus Nr.15 hatte sich ihm recht früh bekannt gemacht, da Wilhelm ja nun sein Amtsvorgesetzter war. Im gleichen Haus, der Studienrat Schönigh. Besonders wichtig war ihm aber seine eher zufällige Bekanntschaft mit dem Uerdinger Armenwart, Josef Herding im Haus Nr. 28, konnte dieser ihm doch aus erster Hand über Armut und das Armenwesen in der Stadt Uerdingen berichten.

Die Augustastraße kreuzte die breit gebaute Krefelder Straße und genau dieser folgte Wilhelm an diesem heißen Spätsommertag um die Mittagsstunde.

Wer genau hinsah – und hinhörte – konnte verfolgen, wie er hin und wieder in fast tänzerischer Leichtigkeit den einen oder anderen Hüpfer beim Gehen einbaute und dabei ein Lied pfiff.

Die Krefelder Straße, die ihren Namen erhalten hatte, weil sie nach Krefeld führt, jenem ungeliebten Nachbarort, der in einer rasenden Entwicklung des letzten Jahrhunderts durch seine Samt- und Seidenproduktion zur Großstadt und 1890 sogar zur reichsten Stadt des Kaiserreiches erklärt wurde.

Krefeld fand daher in mittelalterlichen Aufzeichnungen nur wenig Erwähnung, Uerdingen hingegen, mit seiner langen Rheinfront, den Handwerksgilden, dem blühenden Handel und seinen Traditionen, wurde bereits 1255 von dem Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden zur Stadt erhoben. Jenem Erzbischof, der 1248 den Grundstein zum Kölner Dom legte. Grund genug, um auf das inzwischen weit größere Krefeld herabzublicken und es in zahlreichen Spottreden, vor allem während des Karnevals, dem Oeding‘sche Fastelovend zu verhöhnen. All das hatte Wilhelm bereits aus Gesprächen mit den Einheimischen erfahren. Die Feindschaft mit Krefeld gehörte zum Uerdinger Lokalkolorit, soviel stand fest.

Krieewelsche Wengkbühel nannte man die Nachbarn und rühmte sich zugleich der zahlreichen Verdienste und Besonderheiten Uerdingens. Dennoch hatte Uerdingen ein geografisch bedingtes Problem: Im Osten durch den Rhein begrenzt, im Norden durch die wachsenden Industriegebiete und die große Landgemeinde Rheinhausen, im Westen und Süden durch die vielen benachbarten Ortschaften, allen voran Krefeld, gab es für die Stadt Uerdingen kaum noch Möglichkeiten, zu wachsen und sich weiter auszudehnen. Im Stadtkern waren die Straßen historisch bedingt, so schmal, dass hin und wieder die Automobile gar nicht hindurch kamen. Daran änderte auch der Abriss des letzten beengenden Stadttores 1877 nichts. Wollte Uerdingen nicht abgehängt werden, hieß es wachsen und dafür war Warsch durchaus bereit, auch ungewöhnliche Wege zu gehen.

Wilhelm spazierte auf eben jener Krefelder Straße in Richtung der Uerdinger St. Peter Kirche mit dem mächtigen romanischen Turm und ihren vier auffälligen, barocken Ecktürmchen.

Am Brempter Hof, einer bröckelnden, mittelalterlichen Anlage, mit einem kleinen verwunschenen Garten, legte er eine kurze Pause ein. Nicht weit von ihm dösten zwei Bettler in der Sonne. Das Elend war auch in Uerdingen gegenwärtig, hervorgerufen durch den Krieg und die seit Jahren grassierende Inflation. Die Armenküchen der Städte wurden Tag für Tag von Bedürftigen geflutet, das war in München-Gladbach nicht anders gewesen.

Seit etwa 15 Jahren verkehrte entlang der Ober- und Niederstraße mit Halt am Rathaus, die elektrische M-Bahn von Düsseldorf nach Moers. Am Ende der Niederstraße musste die M-Bahn die Eisenbahngleise von Krefeld nach Duisburg mittels einer »der Berg« genannten Stahlkonstruktion überqueren. Dabei stieg der Stromverbrauch so hoch, dass dies gelegentlich zum Spannungsabfall im gesamten Netz führte. Das war nur eines von vielen Problemen, mit denen sich die Stadtverordneten und zuvorderst der neu gewählte Bürgermeister beschäftigen mussten. Vor kurzem war die offizielle Einführung in sein Amt, es gab eine Menge zu tun. 19 Stadtverordnete und mehr als 10.000 Einwohner erwarteten von ihm, dass er Entscheidungen traf, Streitigkeiten schlichtete, und vor allem Neuerungen anstieß.

Zu diesem Zweck hatte er auch den sehr beliebten und bereits seit 1911 amtierenden Bürgermeister Krefelds Johannes Johansen zu einem Empfang, in zwei Tagen bei sich nach Hause eingeladen. Es konnte nie schaden, Verbündete über die Stadtgrenzen hinaus zu haben, auch wenn Johansen den Nationalliberalen und den Freikonservativen näherstand als seiner Zentrumspartei.

Doch rasch verscheuchte Wilhelm die allzu zukunftsgerichteten Gedanken wieder und auch die Politik aus seinem Kopf, heute wollte er nur in Uerdingen ankommen und den Beginn dieses neuen Lebensabschnitts gebührend feiern.

Nach der kurzen Verschnaufpause folgte er der Straße bis Am Marktplatz, an der sich unter der Nummer 1 das neue Rathaus mit »seinem« Bürgermeisterzimmer befand.

Es war das erste der drei großen, prächtigen Herberz-Häuser, die das Bild des Marktplatzes maßgeblich prägten, direkt neben der Apotheke, wo die von Wilhelm so begehrten Rheila-Hustenperlen hergestellt wurden und dem ehrwürdigen Amtsgericht Uerdingen.

Nur hin und wieder erkannte jemand den jungen Bürgermeister, der da pfeifend durch ihre Straßen schritt; wenn es aber geschah, dann lüftete Wilhelm gut gelaunt seinen Hut und grüßte freundlich.

Schon konnte man, durch ein nur wenig entferntes mittelalterliches Tor, den Rhein sehen, der als mächtiger Strom ruhig an der Stadt vorbeizog und dem die Uerdinger so viel zu verdanken hatten.

In den sorgsam beschnittenen Platanen auf dem Marktplatz zwitscherten die Vögel, an Ständen boten die Bauern aus der Umgebung ihre Ware an, es herrschte ein fröhliches und ausgelassenes Treiben. Kinder spielten mit ihren Bällen oder scheuchten ein paar entlaufene Hühner zurück in ihre Verschläge. Einige Buben saßen mit ihren kurzen Lederhosen auf den Prellsteinen, die über Generationen deswegen schon blank poliert waren. Gerade hielt hinter Wilhelm mit lauten Klingeln die M-Bahn und Fahrgäste stiegen aus und ein.

Wilhelms Blick streifte den alten Gasthof »Zur Krone«, der sich unmittelbar vor dem Rheintor befand, dann beschritt er die gut gepflegte Rheinpromenade.

Im Uerdinger Norden, von den Einheimischen »Braunschweig« genannt, wo die Industriekamine rauchten, machte der Fluss einen sanften Bogen, im Süden aber schlängelte er sich durch die flache Landschaft, die Rheinauen. Direkt vor Wilhelm legte die Ponte, ein rheinischer Begriff für Fähre, an. Es war die einzige Möglichkeit, den Rhein an dieser Stelle zu überqueren. Der Bau einer Brücke wurde seit Jahrzehnten diskutiert, doch es fehlte an Mitteln.

Einem Impuls folgend schritt Wilhelm zu der Ponte und fragte den Fährmann, ob er ihn hinüberbringen könnte.

Es war Mittag, so dass sich der Verkehr in Grenzen hielt. Unter der Woche nutzten die Bauern und Handwerker die Ponte, um ihre Waren rüber zu bringen, an den Sonntagen aber fuhren die Uerdinger und auch viele Ausflügler damit gern über den Fluss, um sich an einem Picknick in den Rheinwiesen oder einem Umtrunk in der nahe gelegenen Mündelheimer Dorfkneipe zu erfreuen.

»Komm ens erop«, sagte der Fährmann auf Uerdinger Platt freundlich und man sah seine vom Priemen dunkelbraunen Zähne. Wilhelm entging nicht, dass der Mann humpelte, vermutlich eine Kriegsverletzung. Er stieg auf die Ponte und stellte sich neben den stattlichen und gewiss wohl auch stolzen Fährmann. Der Rhein floss nur träge, als sei es sogar ihm an diesem Septembertag schlicht zu heiß, um sich zu bewegen. Langsam quälte sich ein tuckernder Dieselschlepper an der Fähre vorbei. Junge Burschen hängten sich an die schweren Lastkähne, um sich rheinaufwärts ziehen zu lassen. Kaum noch zu sehen, ließen sie dann los und trieben jubilierend bis zur anfänglichen Uferstelle.

Indes wies Wilhelm auf das steife Bein des Fährmanns.

»Eine Kriegsverletzung?«

Der Mann verzog das Gesicht.

»Granatsplitter. Die Schlacht von Verdun. Das Höllenloch.«

Sein Blick flackerte, dann lächelte er wieder.

»Aber wer will an einem Tag wie diesem schon darüber nachdenken? Haben Sie auch gedient, mein Herr?«

Wilhelm senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

»Nicht im Feld«, erwiderte er.

Wilhelm war als »garnisonstauglich« gemustert worden und studierte nach seinem Abitur bis 1920 meist vom Dienst befreit, die Fächer Nationalökonomie und Rechtswissenschaften. Während er als Pennäler für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn lernen konnte, zogen die meisten anderen seiner Altersgenossen an die Front und in das unvorstellbar grausame Gemetzel des Stellungskrieges.

Hin und wieder betrübte Wilhelm, dass er nicht an der Front war, immerhin gab es kaum einen Mann in seinem Alter, der nicht durch eine Kriegsnarbe geadelt worden war oder zumindest Geschichten aus dem großen Krieg zu erzählen hatte.

»Seien Sie froh«, sagte der Fährmann gleichmütig und stieß einen Pfiff aus, der wie ein Echo von den Gleisgeräuschen der weit hinter ihnen anfahrenden M-Bahn wiederholt wurde.

»Da gibt es eine lustige Geschichte zu«, sagte der Fährmann. »Wussten Sie, dass, als der Bau der elektrischen Bahn schon beschlossen war, der alten Dampfbahn kurz vor Uerdingen das Wasser ausging? Der Maschinenführer brachte die Lok noch bis an den Stadtrand, wo er die Kinder anfuhr, dass sie ihm Wasser bringen sollten. Die sind vielleicht gerannt, dass ihnen die Beine flogen. Doch als sie die Eimer auf den Kessel schütteten, da ging das ganze Ding in die Luft. Eine riesige Explosion, bei der glücklicherweise niemand zu Schaden kam.«

Der Mann lachte schallend. »Das Gesicht von dem Maschinenführer hätte ich nur zu gerne gesehen. Aber jetzt ist ja alles neu, Elektrizität und so. Naja, wozu es gut ist. Immerhin hat man nicht in den Straßen den Qualm und den Dreck von den Kohlen, wie es ja bei der Eisenbahn noch immer üblich ist.«

Wilhelm nickte freundlich und freute sich über den unerwartet redseligen Mann, der offenbar noch keine Ahnung hatte, wen er hier über den Rhein transportierte.

Lautes Krakeelen am Ufer erweckte ihre Aufmerksamkeit. Einige »Rhienkadetten«, manche von ihnen in verlumpten, feldgrauen Uniformen, stritten sich lautstark an dem unteren Rheinwerft, schon am frühen Nachmittag erkennbar angetrunken.

»Das sind wilde Kerle«, sagte der Fährmann, als habe er Wilhelms Gedanken erraten. »Einige von ihnen haben nach dem Krieg einfach nicht mehr ins normale Leben gefunden und schleppen sich irgendwie durchs Leben. Sie leben als Tagelöhner vom Löschen der Schiffe. Kisten und Säcke tragen, Kies und Kohle schaufeln - eine harte Arbeit. Bei jedem Wetter stehen sie in Ihren Unterständen und warten auf Tonnage. Manche ertragen das nur mit `ner billigen Flasche Brandewein«.

Das Leid der Kriegsversehrten war im Nachkriegsdeutschland alltäglich. Zerschossene Gesichter, fehlende Gliedmaßen, die medizinische Versorgung der Invaliden verdiente diese Bezeichnung nicht. Und so lebten viele seit Jahren mit den furchtbaren Spuren, die der Krieg an ihren Körpern und an ihren Gesichtern hinterlassen hatte.

Der Anblick der Kriegsveteranen erweckte in Wilhelm unangenehme Erinnerungen. Etwa zwei Jahre war es her, dass Separatisten gewaltsam versucht hatten, die Unabhängigkeit der Rheinprovinz von Deutschland zu erreichen.

Im September 1923 war die Lage eskaliert, es kam zu Angriffen auf Verwaltungs- und Regierungsgebäude. Wilhelm selbst hatte den bewaffneten Angreifern gegenübergestanden, die in das Rathaus von München-Gladbach eingedrungen waren.

Später hatte er seiner Frau Gerta erzählt: »Unter Einsatz meines Lebens in vorderster Linie, habe ich brav und unerschrocken als deutscher Mann und Beamter meine vaterländische Pflicht erfüllt.«

Gerta hatte ihn angesehen, mit jenem nüchternen Blick, in dem hin und wieder etwas aufblitzte, das sowohl Leidenschaft als auch Schalk sein mochte und er hatte einmal mehr gewusst, wie sehr er sie liebte und ihr verbunden war.

Sein Vater Heinrich, ursprünglich Drechsler, später dann kaufmännischer Bezirksrevisor, hatte stets von ihm erwartet, dass er eine Beamtenlaufbahn einschlug, doch das Wälzen von Akten war Wilhelm nie genug gewesen.

Es zog ihn in die Politik, dorthin, wo sich etwas verändern und bewirken ließ. Sein entschlossenes Auftreten und seine eloquente Ausdrucksweise ließen ihn schnell in der Politik Fuß fassen, was auch daran liegen mochte, dass man nach Männern wie ihm suchte, nach dem Entsetzen des Krieges, dem Abdanken des Kaisers; nach Männern, die sich in dieser neuen, aufregenden Welt zurechtfanden, zwar gottesfürchtig waren, aber keine Angst hatten, sich die Hemdsärmel schmutzig zu machen. Als eben so ein Mann verstand sich Warsch. Sein Glaube war ihm mindestens ebenso wichtig wie seine Liebe zum Vaterland.

Zweifellos hätte er seinen Weg wohl auch noch unter dem alten Kaiser gemacht, doch so, wie die Dinge nun lagen, war ihm das um einiges lieber, galt es doch nun, selbst etwas zu erreichen. Hinfort mit den alten, verstaubten Institutionen, der preußischen Starre, Neues musste her und Warsch fand, dass sich ihre Republik durchaus sehen lassen konnte. Immerhin hatten sie sogar das Frauenwahlrecht geschaffen, wenn auch Frauen nicht in Ämter gewählt werden konnten, doch gab es verrückte Anführerinnen, die genau das forderten.

Frauen mochten wählen dürfen, doch ihr Platz war das Heim und die Familie, wo sie in Sicherheit waren und den Zauber ihrer Sanftheit in voller Wirkung entfalten konnten. so sah es Warsch; so und mit dieser Meinung war er nicht alleine. Mit der zunehmenden Berufstätigkeit junger Frauen war er nicht einverstanden, ebenso wenig mit der Not, die die halbe Million Kriegswitwen in Deutschland zum Arbeiten zwang.

Die Ponte erreichte das andere Rheinufer. Der Fährmann wandte sich der Stadtfront Uerdingens zu, die im hohen Licht des Spätsommertages leuchtete und strahlte wie frisch gewaschen.

Die markante Silhouette der Rheinstadt mit ihren drei Kirchtürmen, den rauchenden Schornsteinen, den Mühlen und den vielen alten Gebäuden war schon beeindruckend.

»Os Oeding es on blivt de Perl an de Rhien, och wenn et van lenks on reits in de Tang jenomme weed«, sagte er laut.

Wilhelm verabschiedete sich und verließ die Ponte, um einen ausgedehnten Spaziergang in den Rheinauen zu machen, während dem er sich Gedanken über die Themen des bei ihm anstehenden Hausempfangs und seine Begrüßungsrede machen wollte.

»Ich hörte, Warsch, dass Sie sich ebenfalls mutig den Separatisten entgegengestellt haben, drüben in München-Gladbach«, sagte Johannes Johansen, von seinen Ratsherren gern »doppelter Johann« genannt, während er einen vorsichtigen Schluck aus seinem Weinglas nahm.

Gerta hatte für den besonderen Anlass extra die teuren Kristallgläser aus dem Schrank geholt. Wie durch ein Wunder war es ihr und Martha mit vereinten Kräften gelungen, alle Spuren des Umzugs verschwinden zu lassen, so dass die Gäste heute in einem perfekt hergerichteten Salon speisen konnten. Immer wieder hob einer der Männer zu einem Loblied auf Gertas Künste als Hausfrau und Köchin an, die sie vor Freude erröten ließen. Noch bevor sie beim Hauptgang angekommen waren, wusste Wilhelm, dass der Abend ein voller Erfolg war.

»So war es«, bestätigte Wilhelm, der am Kopf der Tafel saß. »Ich sah mich verpflichtet, mein Vaterland vor diesen marodierenden Horden zu beschützen.«

»Es ist mehr als 100 Jahre her, dass in Wien die linksrheinischen Gebiete zu Preußen gekommen sind, das ist nun nicht mehr rückgängig zu machen. Wie groß waren doch die Rufe danach, dass wir eine Nation sein sollten, ein geeintes Reich von Deutschen. Und nun ist es diesen Ewiggestrigen wieder nicht recht. Die Zeit der Partikularstaaten ist endgültig vorbei, schaut doch nur, was die Bolschewiken gerade in Russland tun. Sie gründen ein gewaltiges, russisches Reich, das von den Toren Europas bis nach China reicht. Und wir streiten hier um das Rheinland?«, meldete sich Konrad Beck zu Wort, ein weiterer Krefelder Stadtverordneter. Er war ein hagerer Mann, dessen Antlitz unwillkürlich an einen Vogel erinnerte.

»Machen wir uns doch nichts vor, es geht ihnen einzig um die Industrieanlagen, um den schnöden Mammon. Die ganze Heimatliebe ist doch nur vorgeschoben«, tönte Walter Kaufmann, ebenfalls ein Stadtverordneter, ein untersetzter Mann mit Glatze und Zwicker über der Nase.

»Nun, meine Herren, ich denke, wir haben es hier mit ganz grundsätzlichen Fragestellungen zu tun«, sagte Johansen, dessen auffälligstes Merkmal sein stets wohlgeformter, dunkelblonder Victor-Emanuel-Bart war. Er stellte sein Glas auf den Tisch und drehte den Stiel zwischen seinen Fingern.

»Die Zeichen stehen auf Wachstum, nachdem die schrecklichen, mageren Nachkriegsjahre endlich ihrem Ende zu gehen. In Berlin tanzt und feiert man ganze Nächte hindurch, nebenbei werden große Geschäfte gemacht. Fast jeden Tag gibt es eine bahnbrechende neue Erfindung, gerade findet in Paris eine weitere Weltausstellung statt. Die Frage ist, wie sich unser schönes Deutschland in diesen Reigen einfinden wird, doch das sind wohl Fragen, die eher im großen Berlin entschieden werden.«

»Berlin ist weit weg«, brummte Gerold Meintker, ein ansonsten besonders schweigsamer Stadtverordneter, der seine Ansichten sonst hinter seinen buschigen Augenbrauen verbarg.

»Das ist richtig, Kollege Meintker, und das sogar, obwohl ihr SPD Mitglied seid«, erwiderte Johansen.

Verhaltenes Gelächter war zu hören.

Es gehörte zu den für die SPD traurigen Tatsachen, dass Reichspräsident Friedrich Ebert, Mitglied der SPD, sein Amt auch in Folge des Ruhrkonflikts verloren hatte, was innerhalb der Republik für eine gewisse Verunsicherung sorgte. Hinzu kamen Streitigkeiten um Bayern und Sachsen und schließlich zerbrach die Koalition der SPD mit der Zentrumspartei. Es gab Neuwahlen und anschließend war der Zentrumspolitiker Wilhelm Marx Reichskanzler geworden. Auch wenn Wilhelm mit der SPD als Vertretern der Arbeiter und ihrer Nähe zu den dezidiert republikfeindlichen Kommunisten nicht viel anfangen konnte, so wusste er sehr wohl um die Verdienste von Friedrich Ebert, der immerhin die Währungskrise und damit eine der größten Herausforderungen der jungen, neuen Republik gemeistert hatte.

Dass der wohlverdiente Politiker nach einem schmählichen Prozess, in dem man ihm im Zusammenhang mit dem vergangenen Weltkrieg »Verrat« seitens von Journalisten und des Gerichts unterstellte, kurz darauf an einem unbehandelten Blinddarm starb, hatte nicht nur in den Reihen der SPD für Empörung gesorgt. Seither gingen die Streitigkeiten in den Parlamenten weiter, erbitterter als je zuvor, dennoch wirkte es, als hätte die Ablösung der SPD eine gewisse Stabilität herbeigeführt.

»Was schwebt euch vor, Johansen?«, fragte Warsch, dem nicht entging, dass der Krefelder Bürgermeister offenbar angestrengt über etwas nachdachte.

»Nun«, sagte Johansen. »Wachstum und Zentralisierung, das dürften für euch keine Fremdwörter sein. Warum sprechen wir also nicht über die wohl absehbare Neugliederung der Städte an Rhein und Ruhr? Die Gemeinden Bockum, Verberg und Oppum sind ja bereits seit 1907 Teil von Krefeld. Eine klare Einstellung zur kommunalen Expansionspolitik war vor 14 Jahren ausschlaggebend für meine Wahl zum Oberbürgermeister, als Nachfolger von Prof. Dr. Oehler. Immerhin konnte Krefeld bisher auf diese Weise sein Stadtgebiet in beachtlichem Umfang ausdehnen. Wie steht es denn um Uerdingen? Viele Möglichkeiten gibt es dazu wohl nicht.«

Wilhelm hielt kurz inne. Alle Blicke richteten sich auf ihn.

»Wir planen, schon in den nächsten Jahren einen Teil aus der Gemeinde Hohenbudberg-Kaldenhausen einzugemeinden«, sagte er und erntete zustimmendes Nicken.

»Darüber hinaus…« – alle Gespräche bei Tisch verstummten und er konnte sich der Aufmerksamkeit aller Zuhörer sicher sein, immerhin waren keine weiteren Eingemeindungen für Uerdingen geplant. Auch mangelte es schlicht an Orten, wenn man von der Dorfgemeinde Traar einmal absah, die sich überhaupt noch zu einer Eingemeindung anboten.

»Wir in Uerdingen verfügen über rund dreieinhalb Kilometer Rheinfront, ein Aspekt, der aufgrund der Rheinschifffahrt in den kommenden Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnen wird. Der angrenzende Uerdinger Vorbahnhof, heute Hohenbudberger Verschiebebahnhof, ist einer der größten Deutschlands.

Unsere Industrie floriert, Unternehmen entstehen und wir haben eine immer bessere Finanzlage.

» Meine Herren,- Uerdingen braucht Krefeld sicher nicht. Die Rheinstadt könnte als selbständige Stadtgemeinde etwa im Kreis Moers eine Zukunft haben. Andererseits können wir uns der Entwicklung wohl nicht verschließen, dass die Städte im Zuge weiterer kommunaler Neugliederungen immer größer werden und Strukturen ob gewollt oder nicht, einfach durchgesetzt werden. Die Städte Krefeld und Uerdingen am Rhein arbeiten in vielen Punkten bereits zusammen und die Achse zwischen den beiden Städten gehört heute zu einer der meistbefahrenen Straßen in der Rheinprovinz. Warum also legen wir nicht die Geschicke unserer beider Städte zusammen und formen so ein besonders goldenes Schicksal für alle beide?«

Im Raum herrschte Totenstille. Einige der Stadtverordneten sahen Wilhelm mit offenen Mündern an, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Keiner von ihnen konnte fassen, was er da gerade gehört hatte.

Wovon sprach Warsch da? Auf so eine Idee konnte auch nur einer kommen, der kein gebürtiger Uerdinger war!

Es war Johansen, der als erster seine Sprache wiederfand.

»Führt ihn aus, diesen Gedanken, Warsch. Was meint ihr?«

Als hätte er nur darauf gewartet, beugte sich Warsch nach vorne und stützte seine Arme auf den Tisch.

»Eine Art Kooperation unserer altehrwürdigen Städte, die beide schon seit 1856 in die Gesetzlichkeit der Städteordnung für die Rheinprovinz fielen. Wir vereinen die Stadtgebiete, treten quasi als Zweckverband gemeinsam auf. Unsere Stadtverordneten tagen gemeinsam, Sie und ich bleiben Bürgermeister, es bleibt offen, ob wir einen gemeinsamen Oberbürgermeister für die neue Stadt Krefeld-Uerdingen am Rhein wählen.«

Er machte eine Pause und ließ seine Worte eine Weile auf die Anwesenden wirken.

»Krefeld-Uerdingen am Rhein«, wiederholte Johansen und es war deutlich, dass ihm der Klang dieses Namens gefiel.

Die gestohlene Stadt

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