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2 Beratung als Ordnungsfunktion – eine historische Skizze

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In den 1920 er Jahren stellten politische Umbrüche, revolutionäre Bewegungen und wirtschaftlich-soziale Spannungen die bürgerlich-konservative Ausrichtung der jungen Republik infrage. In der Frage, wie sie sich organisieren sollte, spielte auch das Schulwesen eine bedeutende Rolle. Es musste auf Öffnungs- und Gerechtigkeitsforderungen reagieren. Es kam in einigen Regionen Deutschlands vereinzelt zu „Bildungsoffensiven”. Die Schulpflicht war gerade eingeführt worden, in Mannheim entstand 1921 ein neues Schulsystem, das auch den ersten Schulpsychologen Deutschlands hervorbrachte. In Hamburg wurde die „Schülerkontrolle“ eingerichtet.

Schulpflicht

An dieser Stelle ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die vollständige Schulpflicht im Jahr 1920 mit dem Reichsschulgesetz eingeführt worden war, und zwar in Gestalt des Schulzwangs. (Zuvor hatte es eine mehr oder weniger genau kontrollierte Unterrichtspflicht gegeben, der auf unterschiedlichem Weg nachgekommen werden konnte.) Dem Staat erwuchs daraus die Verpflichtung, ein schulisches Angebot vorzuhalten, in welcher Quantität und Qualität auch immer. Die Schulen und ihr Personal erhielten die Aufgabe der Kontrolle, die Eltern wurden darin eingespannt. Das heißt, sie mussten ein Stück ihrer Freiheit und ihrer Rechte am Kind aufgeben.

Die im Schulgebäude und unter den Bedingungen des Staates zu erfüllende Schulpflicht, eine gemeinsame Schule für einige Jahrgänge und die Verpflichtung zum Schulbesuch boten sicher Lerngelegenheiten für die minderbemittelten Klassen, wie sie damals genannt wurden. Aber diese Teilhabe war auch eine Teilhabe an den Sozialisations- und Unterwerfungsprozeduren des Staates – zumal die Rechtsgrundlagen des Kaiserreichs zur Verwunderung der SPD und der DDP (Deutsche demokratische Partei) im Schulwesen fortbestanden. In wesentlichen Strukturen und schulischen Selbstverständnissen bis in die Gegenwart hinein. Bemühungen, die Schulpflicht in ein Bildungsrecht umzuwandeln oder in eine Unterrichtspflicht, wie sie in fast allen europäischen Ländern existiert, sind daher nur allzu verständlich. (Mehr dazu in Teil II)

Das Mannheimer Schulmodell

Hans Lämmermann, Schulpsychologe, entwickelte ein System der Zuordnung von Schülern zu gestuften Lernleistungsgruppen. Er erarbeitete mit seinen Gruppenuntersuchungen beeindruckende testdiagnostische Fortschritte. Er beförderte damit ein naturwissenschaftlich experimentalpsychologisches Denken in der Psychologie. Nicht selten wird dieses Konzept auch heute als vorbildlich angesehen und nicht selten in (falschen) Gegensatz zu verstehenden, hermeneutischen Ansätzen gebracht. So kam es, dass man Hans Lämmermann als Groß- oder Urgroßvater der Schulpsychologie und Schulberatung in Anspruch nehmen möchte[Fußnote 5]. Das Mannheimer Schulsystem vergrößerte vermutlich tatsächlich für eine Reihe von Schülerinnen die Aussicht auf Bildung im Rahmen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Was man jedoch übersah, und teilweise auch heute übersieht, war, dass Lämmermann „seine” Psychologie rein funktional im Sinne des staatlichen und wirtschaftsorientierten Interesses einsetzte; die subjektiven Interessen und Lebenswirklichkeiten der Schüler wurden als identisch mit dem Schulsystem gedacht. Der Gedankengang dürfte etwa folgender gewesen sein: Der schulische Erfolg im bestehenden Schulsystem ist die beste Voraussetzung für Lern- und wirtschaftlichen Erfolg und für die Integration in die Gesellschaft.

Spezielle Lebenslagen, biografische Erfahrungen schienen Hans Lämmermann plausiblerweise als bedeutsam für das Lernverhalten, jedoch bezog er das nicht in seine Untersuchungen ein. Der Mensch war nicht als Autor und Mitgestalter seines Lebens vorgesehen. Von Kontrakten, Arbeitsbündnissen, Ebenbürtigkeit war nicht Rede. Was ebenfalls fehlte, war eine ethisch-normative Grundlage Lämmermanns Psychologie.

Zu einer Psychologie und Beratung vom Subjektstandpunkt des Betroffenen aus (Kind, Eltern, Lehrer) mochte sich niemand entschließen. Tasächlich gab es solche Ansätze, unter anderem bei den Psychologen, die wenige Jahre später die Flucht aus Deutschland ergreifen mussten, um ihr Leben zu retten. Die Folgen der Fixiertheit auf „objektive Daten” zeigten sich in aller Krassheit. Die bittere Pointe war, dass Hans Lämmermann die Nationalsozialisten gut 10 Jahre später nach Beginn seiner Arbeiten drängte, die Ergebnisse seiner perfekten Selektionsmethoden und Forschungen für die Umsetzung der Gesetze zur Erbhygiene zu nutzen (a.a.O.).

Schülerkontrolle und Schülerhilfe in Hamburg

Schul- und schulaufsichtsnah war auch die Keimzelle der Hamburger Schülerhilfe, die später zu Rebus und zu den Beratungsabteilungen im ReBBz[Fußnote 6] weiterentwickelt wurde. Sie trug die Bezeichnung »Dienststelle Schülerkontrolle«, gegründet 1920 und war nach Jahren mit der »Schulfürsorge« vereinigt worden. Sie hatte die Aufgabe, den Schulbesuch der Berufsschüler zu überwachen. Sie war ein erster Ausfluss der Schulpflicht. Sie war weder bei Schülern, Eltern noch Arbeitgebern durchgängig beliebt. Schülern leuchtete häufig nicht ein, weshalb sie ihre Zeit in einer Einrichtung wie Schule verbringen sollten. Ihnen und ihren Familien kostete das in wirtschaftlich schlechten Zeiten bares Geld, Arbeitgeber stellten sie oft gar nicht erst ein, wenn sie eine Berufsschule besuchen wollten. Sie waren an billigen Arbeitskräften interessiert.

Neben der Abteilung der »Dienststelle Schülerkontrolle« gab es noch eine Abteilung »Schulfürsorge«. Sie beruhte schon seit den 1880 er Jahren im Wesentlichen auf freiwilliger Arbeit engagierter Lehrer/innen und auf der Spendenbereitschaft reicher Bürger. Die Behörde stellte einige Lehrerstellen zur Verfügung, um dieses Engagement zu unterstützen und zu koordinieren. Beide Abteilungen hatten Berührungspunkte mit der Jugendhilfe und dem Jugendamt.

In der nationalsozialistischen Zeit hatten Schülerkontrolle und Schulfürsorge eine hohe strategische Bedeutung für die „Volksgesundheit”, für die „Wehrkraft” und für die Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Ordnung. Die Schülerkontrolle war eine wichtige Schnittstelle zwischen Jugendamt, Schulbehörde und der Parteiorganisation der NSV[Fußnote 7]-Jugendhilfe.

Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 machten Schülerkontrolle und Schulfürsorge da weiter, wo sie aufgehört hatten: Kontrolle des Schulbesuchs und fürsorgerische Aufgaben waren dringlich. Sie verschoben sich im Laufe der Jahre hin zu pädagogischen Verständnissen[Fußnote 8].

Die Ausrichtung war sozial und pflegerisch, untrennbar damit verbunden war eine ordnungspolitische Funktion: Die Frage der Schulpflicht war immer wichtiger Inhalt der Schülerkontrolle und ihrer Nachfolgeorganisationen. 1948 wurde dann der Bezeichnung »Abteilung Schulpolizei«, die Teil der Schülerkontrolle war, abgeschafft.

Anfang der 1951 er Jahre stand aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung eine Zusammenlegung von Schülerkontrolle und Schulfürsorge an. Sie mündete in eine Organisation, die ab 1953 Schülerhilfe hieß. Die erfassenden, ermittelnden, zuführenden, tw. auch die strafenden Aufgaben blieben ihr erhalten.

Sicherstellung des Schulbesuchs, auch mit sogenannten »schulpflegerischen« Mitteln, war eine der Hauptaufgaben der neuen Organisation. Die allgemein miserable Lage der Nachkriegszeit bestimmte die Tätigkeit der Ermittler (so die gängige Bezeichnung). Die Hauptaufgabe bestand in der Eingliederung der Jugendlichen in ein einigermaßen geordnetes Leben.

Der Leiter der neuen Organisation Dr. Helmut Wiese plädierte für eine Stärkung von Beratung durch Lehrer, eine Ausrichtung, die von der Behörde unterstützt wurde. Jede Schule sollte einen Beratungslehrer haben. Sie wurden von der Schülerhilfe angeleitet und unterstützt; ebenso vom Lehrerfortbildungsinstitut. Das Konzept war, »die Lehrer sozialpädagogisch zu aktivieren« (Dr. Wiese). Man darf sich das vermutlich nicht als einen über einen längeren Zeitraum andauernden Prozess vorstellen, wenn man in Berichten die niedrige Zahl der Beschäftigen und die hohen Zahlen von Begutachtungen sieht.

So sehr Helmut Wiese auch für Beratung plädierte, so offen muss doch bleiben, welchen Charakter sie haben mochte. Das mögen einige Zahlen veranschaulichen. 1953 zählte er 543 schulpsychologische Untersuchungen, 1958 1171. 1958 befasste sich die Schülerhilfe mit 1255 straffällig gewordenen Schülern[Fußnote 9]. Zuständig waren zwei Psychologen (Lehrer).

Die Aufgaben der Schülerhilfe waren stark auf die Bedürfnisse der Schulaufsicht ausgerichtet, unter anderem in gutachtlicher Hinsicht. Zudem hatte sie beratende Aufgaben für Schüler und Lehrer. In den Vorschlägen zur Neuorganisation hatte Wiese selbst in Aussicht gestellt

»Die Schulfürsorge kann auch den Schulräten zeitraubende Untersuchungen abnehmen und durch gutachtliche Äußerung ihre Entscheidung vereinfachen.« (StA HH 361-2 VI 430-60)

Die Beratung war im Wesentlichen behördennah und erfolgt(e) aus schulinstitutionell-funktionaler Sicht; sie war eine Dienstleisterin. Der Vorschlag der Schulbehörde für die neue Organisation beinhaltete für Abteilung 1 (Schulpsychologische Beratungs- und Betreuungsstelle folgende Aufgaben:

• Klärung von Schulversagen

• Gutachten für die Schulbehörde

• vorübergehend Einzelunterricht Ausgeschulter

• Beratung unter Hinzuziehung der Schulärzte und Psychiatrischen Dienste

• Beratung der Lehrer in besonders schwierigen Fällen

Zur Abteilung 1 gehörten weiter die Schülerkontrolle und die berufspädagogische Dienststelle.

Die Schülerhilfe beteiligte sich ebenfalls bei schwierigen Fällen mit testpsychologischen Untersuchungen an der Schülerauswahl. In einer Konferenz wurden dem Oberschulrat ... die »Prüfungsunterlagen vorgelegt, und es wurden einzelne Fälle nochmals durchgesprochen«[Fußnote 10].

Dieses Beratungskonzept steht in der Tradition, dass »gestandene Schulleute« auf dem Terrain der Schule, in Einklang mit den behördlichen Selbstverständnissen, agieren sollten. Man wollte »unnötigen Bürokratismus« vermeiden. Das war verbunden mit der Überzeugung, dass gestandene Schulleute einer Jugend in Not, in der Gefahr des »Absinkens«, mit einer Mischung aus Strenge und Milde den Weg weisen könnten[Fußnote 11]. Die Jahrzehnte praktizierte Aufgabe der Verfolgung von Schulversäumnissen, die »Ermittlungen« von Schulpflegern, das »Durchkämmen« von Wohngebieten bis mindestens in die 1960 er Jahre, die Bemühungen des Leiters Dr. Wiese um Personalaufstockungen dürften die Schülerhilfe kaum als Stelle mit freier, unabhängiger Beratung im Bewusstsein der Menschen innerhalb und außerhalb der Behörde verankert haben. Dass es beratende Hilfe für Lehrer und Schüler, sowie schul- und jugendpflegerische Aktivitäten gab, soll nicht bestritten werden. Ebenso wenig jedoch lässt sich übersehen, dass es Staat, Institutionen und Schulen waren, die die geltenden Muster vorgaben. Die Schülerhilfe war selbstverständlich in die steuernden Funktionen des Staates einbezogen.

Mit den Bemühungen um eine Erneuerung der Schule in den 1960 er und 70 er Jahre (Stichwort: Deutscher Bildungsrat, Bildungskommission, Bildungskatastrophe) konnten bundesweit neue Vorstellungen von Beratung, des Verhältnisses von Individuum/Bürger und Staat/Schule Raum gewinnen. Bis dahin hatte ein „besonderes Gewaltverhältnis” zwischen Staat und Schüler gegolten, wie es zwischen Staat und Gefängnisinsassen bestand. Demokratische und bürgerrechtliche Vorstellungen konnten Bestandteil von Schul- und Beratungsentwicklung werden. Diese „Lockerungsübungen“ konnten und sollten nicht die in den 1920 er Jahren verpasste Demokratisierung nachholen, sie verschafften jedoch Spielräume, in denen Neues geübt werden und sich professionelle Beratung gründen und mancherorts eine Tradition bilden konnte.

In mehreren Bundesländern kam es zu Neugründungen von schulpsychologischen Diensten und Schulberatungsstellen. Teilweise orientierte man sich am „bewährten” Hamburger Modell, teilweise nahm man Erfahrungswerte anderer Beratungsstellen (Erziehungsberatung, Therapie) auf. Mit einiger Ambivalenz gab es auch in Hamburg ähnliche Bewegungen einer Neuorientierung der Beratung und der Schulpsychologie. Diese „Unabhängigkeitsbestrebungen” stießen jedoch über die Jahre auf Misstrauen, wurden vermutlich als Subversivität eingestuft – vor dem Hintergrund der langjährigen Geschichte von Schülerkontrolle und Schülerhilfe erschiene das plausibel. Zudem dürften Widersprüchlichkeiten und Doppelbotschaften über die Aufgaben der Schülerhilfe bei Lehrkräften für Verwirrung und Enttäuschung gesorgt haben.

Mit der Gründung der ReBuS und später der ReBBz wurde den Bemühungen und Auseinandersetzungen um die Etablierung eines explizit subjektorientierten Ansatzes in Abgrenzung zum schulzweckorientierten Ansatz ein Ende gesetzt. »Gestandene Schulleute« wurden in der neuen Organisation den mehr an beratungsprofessionellen Grundsätzen orientierten Schulpsychologen an die Seite gestellt. Der schulsozialpflegerische und betreuerische Aspekt, dess Bedeutung nicht infrage gestellt sein soll, nahm an Bedeutung zu, die Schulpflichtfrage wurde wieder eine zentrale Aufgabe der Beratungsorganisation. Die Inanspruchnahme für behördliche Aufgaben mit Gutachten und Stellungnahmen (im Namen der Inklusion und für die Zuweisung von Schulbegleitungen) nimmt breiten Raum ein.

Zwischen Unabhängigkeit und Ordnungsfunktion

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