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Montag, 2. Oktober 1989

Der auffallend blasse junge Mann nahm sich drei Bananen aus einer der Kisten, die der Gemüsehändler schon am Morgen vor seinen kleinen Laden neben dem feinen Willard-Hotel in Washington gestellt hatte. Donald Ingham ließ sich auf einen Dollar zehn Cent herausgeben. Er hatte noch nichts gegessen, aber zuviel geraucht und zuviel Kaffee getrunken. Seine Augen waren gerötet. Sein Magen knurrte immer häufiger. Ingham hoffte, das peinliche Geräusch durch den Verzehr der Südfrüchte so lange unterdrücken zu können, bis er das Oval Office wieder verlassen würde.

Natürlich hätte er auch eines der Büromädchen zum Einkaufen schicken können, aber er hatte die Nacht durchgearbeitet und wollte noch frische Luft schnappen an diesem milden Indian-Summer-Tag, an dem sich ein blaßblauer Himmel wolkenlos über der amerikanischen Hauptstadt wölbte. Ingham ging am Schatzministerium vorüber, das er früher wegen der gewaltigen Eingangssäulen für ein neoklassizistisches Theater gehalten hatte und spazierte mit den Bananen in der Hand an dem drei Meter hohen schmiedeeisernen Zaun an der Ostseite des Weißen Hauses entlang. Eine endlose Schlange von Menschen wartete hier bereits auf Einlaß in jenen Teil des vierstöckigen Präsidentensitzes, dessen Ostflügel wochentags zur Besichtigung für das Volk freigegeben wird. Keiner der Touristen, die an diesem prächtigen Herbstmorgen durch Washington spazierten, wäre auf die Idee gekommen, daß der junge Mann, der noch mitten auf dem Hamilton Plaza in die erste Banane biß, in gut einer halben Stunde eine Verabredung mit dem amerikanischen Präsidenten haben würde.

Aus den Lautsprechern, die hinter dem Zaun unter Büschen versteckt sind, klang Marschmusik, gespielt von der Bigband der US-Navy. Im Lafayette Park sonnten sich ein paar Dutzend Jugendliche, meist politisch links engagierte Demonstranten, hinter ihren Schildern und Spruchbändern: »Hände weg von Panama« – »CIA raus aus Nicaragua!« – »Freiheit für das palästinensische Volk!«

An der Ecke Pennsylvania Avenue und Jackson Place rempelte Ingham aus Versehen eine farbige Bettlerin an, die ihre Habseligkeiten in einem blauen Müllsack hinter sich herschleifte. Die Frau schlug nach ihm und fluchte laut. Ingham murmelte eine Entschuldigung und flüchtete schnell durch das schmiedeeiserne, hohe Gittertor zum Old Executive Office Building. Er eilte die Treppen zum Eingang hinauf und warf dabei die Schale der dritten Banane in einen Papierkorb. Einer der Sicherheitsbeamten beobachtete ihn mißtrauisch, trat hinter einer der Doppelsäulen hervor und kam auf ihn zu. Die Kontrolleure wechselten aus Sicherheitsgründen häufig, so daß sich sogar die Altgedienten unter den 1600 Mitarbeitern des Hauses jedesmal ausweisen mußten. Ingham klappte sein rostfarbenes Jackett zurück. Er hatte seinen Office Pass an der Brusttasche seines Hemdes befestigt.

Der uniformierte Türwächter trat nah an ihn heran, um das Paßbild zu betrachten. Auf dem eingeschweißten Farbfoto hatte Ingham eine verblüffende Ähnlichkeit mit seinem irischen Großvater Murray Ingham aus Ballyshannon: kleingelockte, rötliche Haare, vorn schon ein wenig ausgedünnt, kantige Wangenknochen, schmaler Mund, massive Kinnpartie. Sogar die dick verglaste, rundliche Brille des gelernten Juristen (mit erstklassigem Examen von der Yale University) glich der seines Vorfahren, der sich in einem Stahlwerk in Pittsburgh zu Tode geschuftet hatte.

Nach einer Sekretärin mit dünnen Stöckelschuhen und dicken Hüften wurde Ingham in der Röntgenschranke durchleuchtet, legte Hartgeld und Schlüssel ab und ließ sich mit dem Metalldetektor abtasten. Schließlich durfte der Special Assistent des Sicherheitsberaters des amerikanischen Präsidenten über den roten Marmorflur, in dem es nach einem scharfen Fußboden-Reinigungsmittel roch, in sein winziges, altmodisch möbliertes Büro in den ersten Stock gehen. Er öffnete die durch ein Schloß mit Zahlencode gesicherte Tür. Auf seinem Schreibtisch lagen die liberale Washington Post und die konservative Washington Times. Ingham überflog die Schlagzeilen. Beide Blätter berichteten auf der ersten Seite über die dramatische Entwicklung in Deutschland: 7000 Bürger aus der Deutschen Demokratischen Republik, die in die Prager Botschaft der Bundesrepublik geflüchtet waren, durften gestern nach zähen Verhandlungen des westdeutschen Außenministers Genscher mit Sonderzügen in den Westen ausreisen. Über einem Foto von jubelnden, sich umarmenden Deutschen aus Ost und West auf einem Grenzbahnhof in der Bundesrepublik stand: »Der Zug in die Freiheit ist nicht aufzuhalten.« Ingham schob die Zeitungen zur Seite und nahm die Unterlagen, die er in einer Klarsichthülle auf seinem Schreibtisch bereitgelegt hatte. Oben links prangte ein roter Stempel: Top Secret. Darunter stand: »Peter Rosenblatt, SDI-Wissenschaftler, Lawrence Livermore National Laboratory.«

Donald Ingham hatte sich auf das Gespräch beim Präsidenten sorgfältig vorbereitet, jedenfalls so gut, wie das innerhalb eines halben Tages und einer Nacht möglich gewesen war. Sein Chef Brent Scowcroft, der Berater des Präsidenten für Fragen der nationalen Sicherheit, hatte ihn sehr kurzfristig mit diesem Fall beauftragt und ihn gebeten, die Fakten im Oval Office selbst vorzutragen. Er blickte in den Spiegel über dem kleinen Handwaschbecken in der Ecke seines Zimmers, fand, daß er schlecht aussah, kämmte sich, zog seine Krawatte hoch und tröpfelte ein paar Tropfen in die durch Übermüdung und Zigarettenqualm schon stark geröteten Augen. Die Bananen wirkten. Sein Magenknurren hatte tatsächlich aufgehört. Der Assistent des Sicherheitsberaters spürte nur noch ein leichtes Drücken, aber das konnte auch die Nervosität sein.

Es war 9.45 Uhr.

Es ging über die verwinkelten Treppen und Flure des Verwaltungsgebäudes und über den Asphaltparkplatz, der früher eine Straße zwischen den beiden Gebäuden gewesen war, zum Westflügel des Weißen Hauses. Noch immer ergriff ihn ein heimliches Staunen: er, Donald Ingham, Enkel des Stahlarbeiters Murray Ingham aus Pittsburgh, Sohn des Automechanikers Lou Ingham aus Detroit, betrat wie selbstverständlich das Machtzentrum der westlichen Welt. Wie immer führte ihn einer der Sicherheitsleute über den weichen, weinroten Velourteppich zum Büro des Sicherheitsberaters. Scowcroft, so sagte die Sekretärin, sei bereits im Oval Office. Er werde dort schon erwartet. Sie gingen eilig weiter, am Büro des Vizepräsidenten und am nebenan liegenden Eckzimmer des Stabschefs des Weißen Hauses vorüber, folgten dem Flur links herum, passierten den »Roosevelt-Konferenzraum« und die Bibliothek des Präsidenten und bogen wieder links ab. Nach vierzig Schritten blieb der Sicherheitsbeamte am Eingang zum Vorzimmer des Oval Office stehen. In der Brusttasche seines dunkelblauen Jacketts piepte ein bleistiftdünnes Funkgerät. Darunter trug der Mann seine automatische Dienstwaffe in einem Holster. Als sich die Tür öffnete, nahm er Haltung an, nickte knapp, wünschte Ingham einen guten Tag und ging zurück zum Empfang.

Zwei Minuten vor zehn stand Donald Ingham im Vorzimmer des Präsidenten. Es war ihm unangenehm, daß sein Chef vor ihm da war. Brent Scowcroft unterhielt sich bereits mit John Sununu, dem Stabschef des Weißen Hauses. Es ging offenbar um den bevorstehenden Besuch des saudischen Königs Fahd.

»Hello Don, pünktlich wie immer!« sagte Scowcroft wohlwollend und stellte ihn vor. »John, das ist Donald Ingham, mein Mann für German Affairs

»Da haben Sie ja im Moment wohl viel Arbeit«, sagte der Stabschef und klopfte ihm im Vorübergehen jovial auf die Schulter. Die Sekretärin des Präsidenten reichte ihm drucklos ihre Hand und sagte, schon wieder zu Scowcroft gewandt: »Ihr könnt gleich reingehen, Brent.«

Der 64 Jahre alte Brent Scowcroft, früher Generalleutnant der Air Force, war neben dem Stabschef der einzige Mann im Weißen Haus, der jederzeit und ohne Voranmeldung den Präsidenten sprechen konnte. Er galt als der engste Vertraute und Freund des Präsidenten. Scowcroft war einer der erfahrensten Männer in Washington: Bereits Mitte der siebziger Jahre hatte er Präsident Gerald Ford als Sicherheitsberater gedient – zur selben Zeit, als George Bush Chef der CIA war. Seither kannten und schätzten sich die beiden Männer. Unter der Regierung Nixon amtierte Scowcroft als Stellvertreter von Henry Kissinger, des prominentesten Sicherheitsberaters der jüngeren US-Geschichte. Beide gehörten zu den gemäßigteren Konservativen in der Republikanischen Partei, beide galten als konsequente Manager der Macht, nicht als Visionäre. »Er ist ein Freund. Er kennt sich im Weißen Haus aus, und er weiß, wie der Kongreß und wie die Geheimdienste arbeiten«, hatte Bush über Scowcroft gesagt, als er ihn zum Nationalen Sicherheitsberater ernannte.

Für Donald Ingham war der rundliche, stets jovial scheinende, aber im Ernstfall knallharte Scowcroft nicht nur Chef, sondern auch väterlicher Freund. Scowcroft und Ingham kannten sich seit drei Jahren, seit der ehemalige General als führendes Mitglied der sogenannten Tower-Kommission die für die Reagan-Regierung folgenschwere Iran-Contra-Affäre untersucht hatte. Ingham war damals bei der CIA und versorgte Scowcroft in monatelanger, intensiver Zusammenarbeit mit wertvollen internen Informationen und Enthüllungen über Oliver North und dessen dubiose Aktionen am Rande und außerhalb der Gesetze. Und als Scowcroft von George Bush zum Nationalen Sicherheitsberater berufen wurde, erinnerte er sich an den arbeitsamen und loyalen Ingham und machte den Yale-Absolventen zu einem seiner Assistenten. Sein Gehalt bezog Ingham nach wie vor von der CIA. Er war vom Geheimdienst an das Weiße Haus ausgeliehen, so wie zahlreiche Experten des Pentagon und anderer Behörden zum Dienst beim Präsidenten vorübergehend abgestellt werden – sogar die meisten Gemälde im Weißen Haus sind nur Leihgaben und stammen aus der »National Gallery of Art«.

»Wie ist die Stimmung da drinnen?« fragte Brent Scowcroft und deutete auf die Tür zum Oval Office.

»Nicht so besonders, er hat ausnahmsweise heute früh schon Tennis gespielt und verloren ...«, sagte die Sekretärin, ohne zu lächeln. George Bush war ein emsiger Freizeitsportler. An den Wochenenden fuhr er von seinem Sommerhaus in Kennebunkport in Maine zum Hochseefischen. Er spielte Golf und besonders ehrgeizig Tennis. Auf dem Platz des Weißen Hauses hatte er schon als Vizepräsident mit Cracks wie Pam Shriver, Chris Evert und Ivan Lendl gespielt. Seine Vorhand war gefürchtet, seine Rückhand verbesserte sich jedoch trotz gelegentlichen Trainings nicht mehr. Die Sekretärin sprach schon wieder in einen der Telefonhörer und antwortete deshalb nicht auf Scowcrofts Frage, wer es denn gewagt habe, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu schlagen?

Ein Sicherheitsbeamter öffnete die Tür zwischen dem Sekretariat und dem Oval Office. Donald Ingham betrat das Büro des Präsidenten nach seinem Chef. Rechts neben dem Eingang brannte schon am Vormittag ein Feuer in dem klassischen Marmorkamin. Die beiden Männer gingen nach links an der großen Eingangstür vorbei, durch die offizielle Staatsbesucher hereingebeten wurden, auf die gegenüberliegende Fensterfront des zwölf Meter langen und zehn Meter breiten, ovalen Raumes zu. Der Präsident saß an seinem Schreibtisch. Sein Oberkörper hob sich scharf gegen die Sprossenfenster ab, hinter denen der von Jackie Kennedy gestaltete Rosengarten liegt. Dahinter fällt ein von hohen Bäumen begrenzter Rasen, auf dem der Präsidenten-Hubschrauber landen kann, nach Süden hin ab. Im hinteren Teil des Gartens sprudelt die berühmte, haushohe Fontäne.

Sie sprudelte aus dem Kopf des Präsidenten – es sah aus, dachte Ingham, als wenn ein Heiligenschein über seinem Haupt schwebte. George Bush blickte auf, als die beiden Männer auf ihn zukamen. Er legte einige Papiere aus der Hand, setzte seine Lesebrille ab, erhob sich und kam zwei Schritte um seinen Schreibtisch herum. Er schüttelte erst Scowcroft und dann Ingham die Hand, sagte »Hello Brent« und »Good to see you Don«, noch bevor ihn der Sicherheitsberater vorstellen konnte, so, als sei Donald Ingham nicht einer der jungen Assistenten des Sicherheitsberaters, den er zum erstenmal traf, sondern ein alter Bekannter. Der Präsident hatte Inghams Namen und seine Funktion und ein paar Anmerkungen dazu auf dem Zettel gelesen, den ihm seine Sekretärin vor ein paar Minuten gegeben hatte. George Bush deutete auf eine Gruppe von Empirestühlen, die im Halbkreis vor ihm standen. Dann setzte er sich wieder hinter seinen Schreibtisch.

»Also schieß los, Brent, was gibt’s heute Neues in der Welt?«

Der Sicherheitsberater öffnete eine schmale, schwarze Ledermappe mit Zahlenschloß und holte ein Dossier hervor, das wie an jedem Tag von der CIA und der NSA, der National Security Agency, zusammengestellt und von seinem Stab überarbeitet worden war. Die Welt war im großen und ganzen in den vergangenen 24 Stunden friedlich gewesen – von den üblichen Krisenherden abgesehen. Brent Scowcroft las die Kurzberichte der Geheimdienste mit ein wenig näselnder Stimme vor, ergänzte sie durch Anmerkungen und Hinweise. Der Präsident stellte nur selten Zwischenfragen.

Der Lagebericht des Sicherheitsberaters umfaßte an diesem Vormittag 17 Punkte: Satellitenfotos belegten, daß die Sowjets entgegen ihrer Zusage eine Radarstation an der Alaska-Grenze einrichten – Erneut Regierungskrise in Israel wegen des Palästinenseraufstandes in den besetzten Gebieten – CIA-Agent in »Privatflugzeug« über Nicaragua von Truppen der Sandinisten abgeschossen – Druck der Vereinigten Staaten auf Südafrika, Nelson Mandela freizulassen, scheint bald Erfolg zu haben – Präsident Michael Gorbatschow wird anläßlich des 40. Jahrestages die Deutsche Demokratische Republik besuchen, trotz der anhaltenden Proteste gegen die Honecker-Regierung und trotz der zunehmenden Flüchtlingswelle ...

An dieser Stelle unterbrach der Präsident den Vortrag des Sicherheitsberaters zum erstenmal. »Brent, ich habe gestern und heute morgen im Fernsehen diese unglaublichen Bilder gesehen – mehr als 7000 Ostdeutsche sind allein gestern mit Sonderzügen über Prag nach Westdeutschland gekommen, mehr als 50 000 sind schon geflüchtet, seit die Ungarn die Grenze geöffnet haben – wie lange kann das so weitergehen? Was ist los in der DDR? Wie lange können die Kommunisten das noch aushalten?«

Brent Scowcroft deutete mit dem Dossier auf seinen Assistenten. »Ich habe Donald Ingham zwar hauptsächlich wegen einer anderen Sache mitgebracht, aber er ist mein Deutschland-Experte. Er weiß da sicher Genaueres ...«

Ingham zuckte ein wenig zusammen. Er hatte zwar zugehört, sich aber gleichzeitig im Oval Office umgesehen, weil er glaubte, erst am Ende von Scowcrofts Lagebericht gefragt zu werden.

Ingham war erst einmal, zur Amtszeit von Ronald Reagan, im Oval Office gewesen, aber noch nicht, seit George Bush an der Regierung war. Es war offenbar renoviert worden, die Wände und die Stuckdecke waren beigefarben gestrichen, die antiken Porzellanvasen auf dem Kaminsims waren noch da, die Sitzgarnitur vor dem Feuerplatz war neu, in dem Bücherbord, so schien es ihm zumindest, standen noch immer dieselben Prachtlederbände. Die Gemälde an den Wänden waren ausgetauscht worden. Der Schreibtisch war, so wußte Ingham, aus dem Holz des 1850 vor der amerikanischen Ostküste gesunkenen Schiffes HMS Resolute angefertigt worden – ein Geschenk der damaligen britischen Königin, weil die Amerikaner das Schiff gehoben und an die Engländer zurückgegeben hatten. Neben dem Arbeitsplatz stand die US-Flagge mit dem Adler, auf einem Bord hinter dem Schreibtisch, unter den Sprossenfenstern, hatte der Präsident eine Reihe von Privatfotos aufgestellt, eines zeigte ihn an Bord einer Hochseejacht mit einem frisch gefangenen Marlin oder einem Thunfisch, auf einem anderen Foto stand er mit seiner Frau Barbara inmitten einer Schar von lachenden Kindern und Enkelkindern. Das berühmte »Rote Telefon«, mit dem der Präsident im Ernstfall einen Atomkrieg auslösen konnte, war nicht zu sehen. Wahrscheinlich, so vermutete Ingham, war es im Schreibtisch verborgen.

Ingham kannte George Bush von einigen früheren Konferenzen in Langley, dem Hauptquartier der CIA, auf der anderen Seite des Potomac, aber er war sicher, daß der Präsident sich nicht an ihn erinnerte: Als Bush CIA-Direktor gewesen war, hatte Ingham beim größten US-Geheimdienst eine Unterabteilung der Hauptabteilung »Wissenschaft und Technik« geleitet. Später wechselte er in das sogenannte »Büro für europäische Analysen«. Und da er seit einem zweijährigen Studienaufenthalt in Frankfurt und Heidelberg gut Deutsch sprach und sich für deutsche Politik interessierte, spezialisierte er sich auf German Affairs.

Als Assistent des Sicherheitsberaters bekam er nun täglich die Informationen seiner früheren CIA-Kollegen und der anderen US-Geheimdienste aus beiden Teilen Deutschlands auf den Tisch, ebenso die wichtigsten Presseausschnitte, die Berichte der Diplomaten und Analysen von staatlichen und privaten Kommissionen und Instituten. Sein Job war es, Wichtiges und Unwichtiges zu unterscheiden, den Sicherheitsberater des Präsidenten auf dem laufenden zu halten und zu beraten. Der wiederum filterte Inghams Informationen und gab bei den täglichen Lagebesprechungen das an den Präsidenten weiter, was er für wichtig hielt.

Heute morgen hatte Brent Scowcroft wegen einer routinemäßigen Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates keine Zeit gehabt, sich von Ingham Hintergrundinformationen zu den neuesten Entwicklungen in Deutschland geben zu lassen.

Ingham räusperte sich und beugte seinen Oberkörper ein wenig vor, bevor er zu sprechen begann. Dabei spürte er zu seinem Entsetzen wieder ein leises Magenknurren.

»Seit einigen Wochen, Mister President, erhalten wir von einer neuen, erstrangigen Quelle Informationen direkt aus dem Regierungsapparat der DDR ...«, begann er und schlug seine Beine übereinander. Er blickte den Präsidenten an, dessen Gesicht im Gegenlicht kaum zu sehen war. Vor den Fenstern schien die Sonne auf den Rosengarten.

»... nach ersten Berichten dieser Quelle gibt es in dem bisher von Erich Honecker diktatorisch geführten Politbüro neuerdings Widerstände gegen den bisherigen stalinistischen Kurs des Regimes in Ostberlin. Honecker selbst sagt intern und auch öffentlich, daß die Flüchtlinge Verräter des Sozialismus seien, die man laufenlassen und denen man nicht nachtrauern müsse – dagegen meinen die Exponenten eines eher fortschrittlichen Kurses, wie das Politbüromitglied Egon Krenz, der Flüchtlingsstrom und die andauernden Proteste und Demonstrationen im Lande gegen die Regierungspolitik könnten nur durch eine liberale Politik im Sinne der Perestroika von Gorbatschow eingedämmt werden. Unseren Informationen nach werden diese grundsätzlichen Differenzen bis nach der großen 40-Jahres-Feier der DDR unter der Decke gehalten. Danach könnte es durchaus zu einem Sturz Honeckers kommen. Wie schnell das geht, hängt unter anderem auch davon ab, wie sich Gorbatschow bei seinem bevorstehenden Besuch in der DDR verhält, ob er der Opposition innerhalb des Machtapparates und den neuen Oppositionsbewegungen im Volke ein Zeichen seiner Unterstützung gibt ...«

»Worauf stützen sich diese Informationen?« fragte der Präsident. »Sie brauchen mir natürlich keine Geheimnisse zu verraten – obwohl ich selber mal bei der CIA war«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, das nur kurz aufflackerte. Seine rechte Hand fuhr mit schnellen Bewegungen über ein großes Blatt Papier. Ronald Reagan, so hatte Ingham bei seinem ersten Besuch im Oval Office beobachten können, hatte während eines Vortrages Strichmännchen gemalt. George Bush machte sich offenbar Notizen.

»Die CIA hat neuerdings einen Informanten mit direktem Zugang zum Politbüro der DDR«, sagte Ingham und ärgerte sich, weil das eine Spur zu geschwollen klang.

»Fein«, sagte der Präsident, »ihr werdet mich also künftig besser und vor allem rechtzeitiger als bisher über die Vorgänge in Ostdeutschland auf dem laufenden halten.« Dabei blickte er Scowcroft ein wenig vorwurfsvoll an, wie es Ingham schien.

»Wie immer haben wir natürlich nicht nur gute Nachrichten«, sagte Brent Scowcroft, »ich habe Don Ingham vor allem mitgebracht, damit er dich über die bisher bekannten Hintergründe einer noch etwas seltsamen Geschichte informiert, aus der sich allerdings weitreichende politische Konsequenzen ergeben könnten, vor allem im Hinblick auf dein im Dezember geplantes Treffen mit Gorbatschow ...«

»Okay, worum geht es?«

»Es geht um das Verschwinden eines jungen Amerikaners in Deutschland, in der Bundesrepublik Deutschland, Gott sei Dank«, sagte der Sicherheitsberater. Ingham nahm das Dossier von seinen Knien und reichte es seinem Chef. Scowcroft setzte seine Lesebrille auf. »Der Mann heißt Rosenblatt ..., sagte er. »Peter Rosenblatt.«

»Macht es nicht so spannend«, sagte der Präsident und blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr, die er vor sich auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Wer zum Teufel ist dieser Rosenblatt?«

Der Sicherheitsberater blätterte in dem Dossier, gab es dann jedoch wieder an Ingham zurück. »Donald Ingham wird dich genauestens informieren.«

»Leider muß ich doch ein wenig ausholen, Mister President ...«, sagte Ingham und schlug die erste Seite seiner Unterlagen auf. Er begann, frei zu sprechen, blickte zwischendurch jedoch immer wieder in seine Papiere.

»Sie erinnern sich vielleicht, Mister President, was Professor Bernhard Tabor Ihrem Vorgänger Präsident Reagan und Ihnen hier im Oval Office fast auf den Tag genau vor fünf Jahren berichtet hat: es sei ihm und seinen Leuten im Lawrence Livermore National Laboratory gelungen, ein Computerprogramm für eine atomare Laserstrahlkanone zu errechnen, und die ersten unterirdischen Tests in Nevada seien bereits positiv verlaufen. Was Tabor damals nicht mitgeteilt hat ...«

»... offenbar um seinen eigenen Ruhm nicht zu schmälern ...« warf der Sicherheitsberater ein.

»... ist die Tatsache, daß der damals erst 26 Jahre alte Peter Rosenblatt beinahe allein die neuen Laserstrahl-Formeln und das gesamte Programm entwickelt hat.«

Ingham zitierte ein paar Wissenschaftler, Physiker und Nuklearexperten, nach denen auf den Forschungen Rosenblatts die grundsätzlichen Voraussetzungen des SDI-Programms basierten, des »Schutzschirm für die USA gegen atomare Bedrohung«, den Ronald Reagan bei seiner berühmten Star-wars-Rede im März 1985 der amerikanischen Nation versprochen hatte. Aufgrund seiner Leistungen sei Rosenblatt in der Zwischenzeit zum wissenschaftlichen Leiter der SDI-Entwicklungsgruppe in Livermore aufgestiegen. Er gelte unter Fachleuten als Genie, er habe immer wieder Lösungen gefunden und Durchbrüche geschafft, wenn das sogenannte »Krieg-der-Sterne-Projekt« zu scheitern drohte.

»Gerade in letzter Zeit«, so fuhr Ingham fort, »scheint es in Livermore erhebliche Schwierigkeiten gegeben zu haben, die Zweifel an der Verwirklichung der gesamten Strategic Defense Initiative aufkommen ließen ... es scheint dabei um die Funktionsfähigkeit atomar aufgepumpter Laserstrahlwaffen zu gehen, die im Weltraum stationiert werden sollen ...«

Wenn der »Chefdenker« Rosenblatt nicht wieder aufgefunden werde, so schloß Ingham, dann sei das gesamte SDI-Programm praktisch erledigt ...

Der Präsident drehte seinen Schreibtischstuhl und blickte aus dem Fenster in den Rosengarten, in dem rote Hagebuttensträucher vor dem blauen Himmel und dem grünen Rasen leuchteten. Im Hintergrund, in mehr als hundert Metern Entfernung, waren ein paar Touristen zu erkennen, die sich vor dem schmiedeeisernen Zaun gegenseitig mit dem Weißen Haus im Hintergrund fotografierten. George Bush drehte seinen Kopf wieder zu seinem Sicherheitsberater.

»Wir wissen ja, daß es ohnehin eine Reihe von Problemen mit SDI gibt, aber was hat das für Konsequenzen, wenn das Programm in diesem Stadium scheitert? Deine Meinung, Brent?«

»Es würde das Ansehen der Regierung und der amerikanischen Technologie und Industrie schwer schädigen, sowohl zu Hause und noch mehr im Ausland – wir haben damals immerhin unsere Verbündeten, besonders die Europäer, erst mit erheblichem politischen Druck dazu gebracht, sich zumindest in Teilbereichen an dem SDI-Projekt zu beteiligen. Nicht auszudenken, wenn wir nun eingestehen müßten, daß alles ein riesiger Flop ist ...«

Scowcroft schneuzte sich die Nase. »Und was mir ebenso wichtig, vielleicht noch wichtiger erscheint, George, ist die Auswirkung auf dein Treffen mit Gorbatschow im Dezember auf Malta: Reagan hat zwar immer gesagt, über SDI lassen wir nicht mit uns reden, aber wir wollten es doch als Trumpfkarte bei den Abrüstungsverhandlungen über Interkontinentalraketen ins Spiel bringen. Wir könnten auf die weitere Entwicklung von SDI oder auf Teile davon verzichten – und den Sowjets damit möglicherweise Hunderte von ihren neuesten Superwaffen abhandeln!«

»Das sehe ich genauso, Brent!« sagte George Bush. Und nach einer Weile: »Was zum Teufel ist denn nun mit diesem Rosenblatt eigentlich passiert?«

Ingham berichtete vom bisherigen Stand der Ermittlungen.

»Gibt es Hinweise auf politische Hintergründe?«

»Leider ja, Mister President«, sagte Ingham und spürte erneut ein Magendrücken. Er konnte ein vernehmliches Magenknurren nicht verhindern und räusperte sich, um das Geräusch zu übertönen.

»Es bestehen seit einiger Zeit Anzeichen einer persönlichen Krise bei Rosenblatt. Er hat aus ethisch-moralischen Gründen am Sinn seiner Arbeit zu zweifeln begonnen. Ihm werden in diesem Dossier hier sogar Kontakte zur Friedensbewegung nachgesagt. Bei einer Kundgebung für Generalsekretär Gorbatschow während dessen letztem USA-Besuch soll er gesehen worden sein. Seine Freundin gehörte einer militanten Anti-Atom-Bewegung in Kalifornien an. Und: Kollegen gegenüber hat er zunehmend gewisse sozialistische Thesen vertreten.«

Ingham blickte von seinem Rosenblatt-Dossier auf. Er beobachtete, wie der US-Präsident zunehmend beunruhigt reagierte. Er klopfte mit dem Zeigefinger auf die Schreibtischplatte, setzte seine Brille auf und ab, schob mit den Kniekehlen seinen Stuhl nach hinten, ging quer durch das Oval Office zum Kamin und legte ein paar Holzscheite in das heruntergebrannte Feuer. Schweigend beobachteten die drei Männer, wie kleine Flammen an dem Birkenholz nach oben züngelten, immer größer wurden und schließlich fauchend nach oben schossen.

»Unsere Leute haben inzwischen die Ermittlungen in der Bundesrepublik übernommen«, fuhr Ingham auf ein Zeichen seines Chefs hin fort, »es ist ihnen gelungen, eine seltsame Tonbandaufnahme von Rosenblatt sicherzustellen, die offenbar unter Alkoholeinfluß entstanden ist. Eine psychologische Analyse habe ergeben, daß Rosenblatt sich möglicherweise in den Osten absetzen wolle.«

»Mein Gott ...«, sagte der Präsident und drehte sich um.

»Es kommt noch schlimmer, George«, sagte Brent Scowcroft. »Dieser Rosenblatt ist, wie gesagt, zunächst dienstlich in der Bundesrepublik gewesen. In geheimer Mission. Er sollte führende Militärs und Verteidigungspolitiker der NATO über das Star-wars-Programm informieren – natürlich positiv. Denn beim nächsten Manöver im Frühjahr 1991, bei dem die NATO, wie alle zwei Jahre, einen Atomkrieg in Europa, speziell auf west- und ostdeutschem Gebiet, üben wird, soll entgegen den offiziellen Erklärungen erstmalig der Einsatz atomarer Laserstrahl-Kanonen und anderer SDI-Waffen geprobt werden. Die Vorbereitungen für das Manöver haben bereits in dem unterirdischen Atomkriegs-Bunker der deutschen Bundesregierung begonnen.«

»Verstehe ich euch richtig?« fragte George Bush und blieb auf dem Rückweg vom Kamin zum Schreibtisch mitten im Raum stehen, »dieser verschwundene Mister Rosenblatt weiß nicht nur alles über SDI, von ihm ist nicht nur das Programm abhängig – er kennt auch noch die neuesten NATO-Strategien für den atomaren Verteidigungsfall ...?«

Ein unangenehmes Schweigen entstand.

»Ich fürchte, das ist richtig, Mister President«, sagte Ingham schließlich.

»Mein Gott ...! Was wird getan, um zu verhindern, daß er tatsächlich überläuft, oder daß er in den Osten geschleust wird?«

»Seit gestern werden in Europa alle Grenzübergänge zu allen Ländern des Warschauer Paktes verschärft überwacht. Auf allen Flughäfen werden Passagiere, die in ein Ostblock-Land reisen, besonders kontrolliert. Die Leute in Langley sind bis zu dieser Minute sicher, daß Rosenblatt noch in der Bundesrepublik Deutschland ist – falls er noch lebt.«

»Das ist, verdammt nochmal, ziemlich wenig! Findet ihr nicht?!«

Brent Scowcroft schaltete sich ein und sagte, er habe deswegen mit dem CIA-Direktor telefoniert. »Ben Webster sagt, daß seine Leute in der Bundesrepublik und in der DDR zur Zeit völlig überlastet seien, wegen der aktuellen Ereignisse im Ostblock und in Ostdeutschland. Er will deshalb ein Spezialteam nach Deutschland schicken, das Rosenblatt suchen soll ...«

»Das ist eine vernünftige Idee«, sagte der Präsident, »dieser Fall hat wegen der möglichen Konsequenzen absolute Priorität! Sag Ben das bitte!«

»... aber er hat Probleme, die richtigen Leute zu finden, Leute, die Deutsch sprechen und sich in West- und Ostdeutschland auskennen.«

»Ich glaube, ich höre nicht richtig?! Wir haben den teuersten Geheimdienst der Welt, und der hat keine Leute für so einen Fall?!« Der Präsident knallte seinen Kugelschreiber auf die Tischplatte. Ingham zuckte zusammen.

»Als ich in Langley war, hatten wir in der Europa-Division einen Deutschland-Experten«, sagte George Bush, der ehemalige CIA-Direktor, nach einer Weile wieder ruhig, »der selber jahrelang hinter dem Eisernen Vorhang gearbeitet hat, dann wurde er, glaube ich, Chief of Station in der Bundesrepublik, bevor er nach Langley an den Schreibtisch zurückkam. Der hieß ...« Bush überlegte. »... Dilden oder so ähnlich.«

»Dillon!« sagte Ingham. »Henrik C. Dillon! Ich war in seiner Abteilung. Er wurde der Maulwurfsjäger genannt. Unter seiner Leitung sind ein halbes Dutzend Spione und Verräter im Dienst und beim Militär enttarnt worden.«

»Richtig ... Dillon! Ich erinnere mich«, sagte der Präsident, »ein erstklassiger, erfahrener Mann. Ich will Ben Webster ja nicht in seinen Job reinreden, aber er soll ihn rüberschicken. Dillon soll diesen Rosenblatt finden, bevor der sich möglicherweise tatsächlich in den Ostblock absetzt!«

»Soviel ich weiß, Mister President«, sagte Ingham und räusperte sich erneut, weil es in seinem Magen wieder zu rumoren begann, »soviel ich weiß, hat sich Dillon vorzeitig pensionieren lassen ... nach der Iran-Contra-Geschichte.«

»Hatte er denn damit etwas zu tun?«

»Im Gegenteil. Er war darüber so empört, daß er mit dem Dienst nichts mehr zu tun haben wollte.«

Es schien Ingham, als blicke George Bush ein wenig betroffen. Dann griff er mit der rechten Hand unter die Schreibtischplatte. Seine Sekretärin trat ein. Der Präsident bat um einen offiziellen Briefbogen. George Bush nahm den Kugelschreiber, der zur Seite gerollt war und begann, das Papier mit schnellen, kurzen Handbewegungen zu beschreiben. Als er fertig war, reichte er das Papier Donald Ingham über den Tisch.

»Geben Sie das Mister Dillon.«

Als sie aufstanden und sich verabschiedeten, sagte der Präsident der Vereinigten Staaten und frühere Geheimdienst-Chef zum Assistenten seines Sicherheitsberaters: »Sie sollten ein paar Bananen essen, Don, das hilft gegen dieses lästige Magenknurren ...«

Das Gespräch hatte statt 30 mehr als 40 Minuten gedauert. Im Vorzimmer des Oval Office trafen sie den Protokollchef des Weißen Hauses. Der knetete nervös seine Hände und sagte, der Außenminister Saudi Arabiens warte seit 15 Minuten auf den Präsidenten und sei wegen der Verspätung bereits gekränkt.

Sie gingen in das Büro des Sicherheitsberaters. Während Brent Scowcroft den CIA-Chef Ben Webster telefonisch von dem Gespräch beim Präsidenten informierte und aus dessen Sorge und Verärgerung über den Rosenblatt-Fall keinen Hehl machte, überflog Donald Ingham das Schreiben, das ihm George Bush gegeben hatte. Unter dem Amtssiegel mit dem amerikanischen Adler und dem Aufdruck »White House – The President« las er:

Lieber Mister Dillon,

gerne erinnere ich mich an unsere gemeinsame Zeit in Langley. Soeben erst habe ich mit großem Bedauern gehört, daß Sie in der Zwischenzeit den Dienst dort quittiert haben. Dennoch bitte ich Sie persönlich um einen Gefallen, weil ich überzeugt bin, daß Sie der am besten geeignete Mann sind. Bitte übernehmen Sie im Interesse unseres Landes den Fall, den Ihnen Mister Donald Ingham, der Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsberaters, in meinem Auftrag erläutern wird. Ich bin Ihnen sehr dankbar.

Herzlich, Ihr George Bush

Eine Stunde später schreckte Donald Ingham in seinem Büro hoch. Er hatte die Beine hochgelegt, die Lehne seines Schreibtischstuhls in Liegeposition gestellt und war mit halboffenem Mund eingeschlafen. Als das Telefon klingelte, rutschten seine Füße von der Schreibtischplatte und stießen den gefüllten Papierkorb um. Ingham fluchte. Am Apparat war der Leiter der Hauptabteilung Special Operations (SO) der CIA in Langley.

Der teilte ihm mit, seine Abteilung habe auf Anweisung des Direktors ab sofort die Leitung der Ermittlungen »in der Sache Rosenblatt« übernommen. Und: er habe gerade mit Henrik C. Dillon telefoniert. »Er wollte mich gar nicht ausreden lassen. ›Es reicht, wenn ihr meine Pension regelmäßig überweist‹, hat er gesagt.« Doch schließlich habe er Dillon überreden können, ihn, Ingham, wenigstens zu einem Gespräch zu empfangen. »Sie waren früher doch mal in seiner Abteilung? Es scheint, als ob er sie nicht in schlechtester Erinnerung hat.«

Ingham notierte Dillons Adresse: Forest Creek No. 9 in Stratton Woods, einer kleinen Neubau-Waldsiedlung, kaum zwanzig Meilen entfernt, auf halbem Wege nach Rockville.

Er aß ein Sandwich und ließ sich starken Kaffee machen. Bevor er sein Büro verließ, steckte er den Brief des Präsidenten an Dillon in einen Umschlag und klebte ihn zu, nahm das Rosenblatt-Dossier und einen Aktenordner mit Hintergrundmaterial dazu, die ihm die CIA für seinen Vortrag beim Präsidenten zugeliefert hatte.

Donald Ingham lenkte seinen schwarzen 190er Mercedes zur nahegelegenen Theodor Roosevelt Bridge, überquerte den Potomac und nahm am anderen Ufer die Ausfahrt zum George Washington Memorial Parkway, der am Flußufer entlangführt. Von den Bäumen des Langley Forest waren die ersten Blätter gefallen. Hinter einem hohen Sicherheitszaun konnte man den modernen Gebäudekomplex der Central Intelligence Agency mit seinen von außen undurchsichtigen Rauchglasscheiben sehen. Sechs Jahre lang war Ingham tagtäglich durch das große Tor gefahren, bevor er in den Stab des Weißen Hauses berufen worden war. Jetzt nahm er den Highway 495 Richtung Norden und bog an der 39. Ausfahrt ab. Dillon, so dachte er, hatte es früher nicht weit zum Dienst gehabt.

Stratton Woods war eine dieser typischen, sauberen Vorortsiedlungen für die gehobene Angestellten-Klasse. Idyllisch mitten in einem hügligen Mischwald gelegen, in dem es jetzt herzhaft nach Herbstlaub roch. Eine Stichstraße führte zu einem großen Kreisel mit einer kleinen Kirche und einem kleinen Einkaufszentrum. Von hier aus gingen U-förmige Straßenzüge ab. Die Häuser waren nachgemachte Klassiker aus einem Fertighausprospekt: Tudorstil mit Fachwerkgiebel, weiß verputzte Fassaden, rote Backstein-Schornsteine, Sprossenfenster mit Klappläden. Das Haus No. 9 lag am oberen Ende der Straße Forest Creek. Das Grundstück war von einer welkenden Weißdornhecke umgeben. Die Klingel war abgeschaltet. Die Gartenpforte stand offen.

Ingham ging um das Haus herum. Das überraschend große Grundstück fiel zum Wald hin ab. Am unteren Ende sah er einen Mann mit grauem Vollbart und nacktem, behaartem Oberkörper, der, obwohl es schon kühl geworden war, bis zum Bauch mitten in einem Seerosenteich stand. Unbeweglich wie eine Statue. Mit einem Käscher in den Händen.

Auf den ersten Blick hätte er Henrik C. Dillon nicht wiedererkannt, den »Maulwurfsjäger«, der wie kein anderer einen Instinkt für Verräter und ihre Motive hatte, und der sich selber und seine Ideale verraten gesehen hatte, als die Machenschaften der CIA und der Reagan-Administration im Nahen Osten und in Mittelamerika aufgedeckt wurden.

Nach dem Iran-Contra-Skandal hatte Henrik C. Dillon die CIA im Zorn verlassen: Mit 52, zwei Jahre nach dem frühestmöglichen Zeitpunkt, war er in Pension gegangen und hatte beim Abschied gesagt, er wolle nie wieder etwas mit der Firma zu tun haben.

Der Mann im Teich tauchte den Käscher ganz vorsichtig ins Wasser, starrte eine Weile mit weit vorgebeugtem Oberkörper nach unten und zog das Fangnetz mit einem plötzlichen Ruck wieder hoch, so daß ein paar Seerosenblätter zur Seite schwappten. Im Netz zappelte und spritzte etwas. Dillon watete mit seiner Beute an Land. Er hatte nasse Boxershorts, Gummisandalen und Gartenhandschuhe an.

»Petri Heil!« sagte Ingham und ging über den Rasen zum Teich hinunter. »Züchten Sie jetzt Karpfen oder Forellen?«

Dillon drehte sich überrascht um.

»Nein, Schlangen«, sagte er, als er Ingham erkannte. Der halbnackte Mann im Wasser, der mit seinem Käscher aussah wie eine Karikatur des Meeresgottes Neptun, grinste breit und holte ein zappelndes, daumendickes, graugeflecktes Reptil aus dem Netz. Ingham erschrak. »Die ist ganz harmlos, jedenfalls für Menschen«, sagte Dillon, »aber sie frißt meine Jungfische auf. Ich bin schon seit ein paar Wochen hinter dem Biest her.«

Er steckte die wütend züngelnde Schlange in einen Jutesack und sagte, er werde sie ein paar Meilen entfernt im Wald wieder aussetzen.

Ingham wartete im Wohnzimmer, einem großen Raum mit hellem Teppichboden, Sitzgruppe vor dem Kamin und offener Pantryküche, bis Dillon geduscht und sich umgezogen hatte. Auf dem Glastisch lag eine farbige Broschüre mit dem Titel »Treffpunkt Gartenteich – Alles über Pflanzen und Tiere«. Aufgeschlagen war die Seite »Die Ringelnatter«.

Henrik C. Dillon genoß den harten, warmen Strahl der Massagebrause. Sein Körper war gut in Form, einen kleinen Bauchansatz hatte er mit einer Vollkorndiät und durch Gymnastik abgespeckt. Seit ein paar Tagen hatten auch die Kopfschmerzen endlich aufgehört. Die seien wohl psychosomatisch bedingt, hatten ein Neurologe und ein Psychotherapeut in Rockville nach gründlicher Untersuchung übereinstimmend gesagt – kein Wunder, wenn ein Mann nach mehr als zwanzig Ehejahren von seiner Frau verlassen würde. Und wenn er gerade seinen Beruf aufgegeben habe. Und wenn er sich nun in durchschwitzten Nächten fragte, was das Ganze denn überhaupt für einen Sinn habe ...

Freunde, richtige Freunde, hatte einer mit einer beruflichen Vergangenheit wie Dillon natürlich nicht. So hatte er zu trinken angefangen – und das Verhältnis mit Joan, der nicht mehr ganz frischen Boutiquenbesitzerin aus der eleganten Einkaufspassage in der M-Street in Georgetown. Joan kannte er noch aus den siebziger Jahren, als sie ein bekanntes Callgirl gewesen war, das der Firma hin und wieder ein paar Tips über ihre Kunden aus den Ostblock-Botschaften gegeben hatte.

Wie aus heiterem Himmel war das mit seiner Frau nicht gerade passiert: Sie hatte ihm oft genug gesagt, daß er seit seiner Pensionierung unerträglich geworden sei. Er solle sich doch endlich um eine neue Arbeit kümmern, schließlich sei er doch noch im besten Alter.

»Ich habe doch nichts Vernünftiges gelernt«, hatte er wütend gebrüllt, »ich war noch nicht mal ein richtiger Spion, bloß ein Angestellter des Geheimdienstes, ein unterbezahlter Maulwurfsjäger ...«

Ja, ja, er werde sich schon irgendwann um einen Job kümmern – vielleicht als Detektiv in einem Supermarkt, hatte er bitter hinzugefügt. Aber er war dann doch völlig überrascht gewesen, als er drei Tage nach ihrem letzten Ehekrach nach Hause zurückkam und seine Frau nicht mehr da war. Ihre Schränke waren leer, und etwa die Hälfte der Möbel fehlte. Und als er sich volllaufen ließ und dann Trost bei Joan suchen wollte, da hatte Joan gesagt, sie sei, verdammt nochmal, nicht von der Heilsarmee und ihre Wohnung sei keine Herberge für verlassene Ehemänner. Er solle wieder anrufen, wenn er besserer Laune sei.

Noch nicht einmal fünf Monate war das alles jetzt her. In der ersten Zeit hatte Dillon sich im Garten ausgetobt, hatte gegraben und gepflanzt, den verschlammten Teich in Ordnung gebracht, stunden- und tagelang am Ufer gesessen, Fische und Frösche, Libellen, Molche und Schnecken beobachtet. Und irgendwann war ihm die Erkenntnis gekommen, daß er viele Fehler gemacht hatte. Einer davon war die Kündigung in der Firma gewesen.

Als dann heute mittag das Telefon ging und Langley dran war und ihm der Besuch von Ingham angekündigt wurde, da wußte er, daß sie ihn wieder brauchten. Henrik C. Dillon stand vor dem Spiegel, sah sich ins Gesicht und erkannte, trotz des wildwachsenden Bartes, daß sich sein Spiegelbild freute. Er suchte Rasierschaum, Pinsel und Messer, seifte sich ein und schabte sorgfältig den Bart ab. Die Haut brannte höllisch, als er sie mit Aftershave einrieb. Zufrieden befand der CIA-Frührentner, daß er ohne den grauschwarzen Bart wie Mitte Vierzig aussah. Oder jünger – wenn die Falten um die hellbraunen Augen und um die Mundwinkel nicht gewesen wären. Er suchte ein Paar khakifarbene Designer-Jeans, Größe 50, die er lange nicht getragen hatte – tatsächlich, sie paßten wieder! –, und zog ein Polohemd an. Dann ging Henrik C. Dillon mit federndem Schritt ins Wohnzimmer hinunter.

Ingham war verunsichert, weil Dillon schon so lange auf sich warten ließ. Jetzt hätte er ihn beinahe zum zweitenmal nicht wiedererkannt.

»Verdammt, Henrik, Sie sehen ja ohne Bart zehn Jahre jünger aus«, sagte er. Dillon grinste, fast ein bißchen verlegen, wie es Ingham schien, machte zwei Martini, hatte aber keine Oliven im Haus. Er fragte, wie es in der Firma in Langley gehe und erkundigte sich nach diesem und jenem Kollegen. Als er hörte, daß Ingham seit Beginn der Amtszeit von George Bush für das Weiße Haus arbeite, gratulierte er herzlich und meinte, er habe schon damals, als sie noch gemeinsam in der Deutschland-Abteilung gewesen seien, geglaubt, daß dieser Donald Ingham einmal Karriere machen werde. Ob er sich noch an den verrückten Fall des Überläufers aus dem Ostberliner Staatssicherheitsdienst erinnere, der nach drei Wochen wieder zurück in die DDR geflüchtet sei? Und was er von der aktuellen Entwicklung in der DDR halte? Wie lange könne das Honecker-Regime wohl noch durchhalten, bei dieser Flüchtlingswelle und bei den wachsenden Protesten im Lande? Und wie das überhaupt mit Deutschland und in Europa weitergehen solle?

»Warum sind Sie in Langley eingestiegen?« fragte der Ältere.

»Weil mich einer dieser CIA-Anwerber dazu überredet hat, als ich mein Jurastudium in Stanford beendet und keine Lust hatte, mich ein Leben lang mit Paragraphen herumzuschlagen. Es war das Übliche: ein bißchen Abenteuerlust, ein bißchen Patriotismus, überwiegend Neugier.«

Dillon schien mit der Antwort unzufrieden. Er begann, über sich zu reden.

»Ich war ein glühender Patriot, einer von diesen Idioten, die ihrem Land unbedingt dienen wollen. Erinnern Sie sich an den Satz von John F. Kennedy ›Fragt nicht immer, was euer Land für euch tun kann – fragt euch, was ihr für euer Land tun könnt‹? Ich wollte etwas für mein Land tun, und der Geheimdienst, der Kampf gegen die unsichtbaren Feinde unserer Gesellschaft entsprach meinen Ideen und Neigungen ... Ja, ich habe tatsächlich geglaubt, daß wir die Fahne der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte in die Welt tragen müßten, daß wir Amerikaner das auserwählte Volk seien, daß wir als Weltpolizisten das Recht haben, uns überall einzumischen. Wir von der CIA – kämpften wir nicht an vorderster, dunkler Front? War die Drecksarbeit, die wir machten, nicht ganz im Sinne einer höheren Gerechtigkeit, um nicht zu sagen: Des lieben Gottes ...« Dillon redete sich in Rage.

Ingham sah beunruhigt, daß er wieder zur Flasche greifen wollte, um nachzuschenken, aber Dillon brach die Bewegung ab und redete weiter.

»Und dann kam Vietnam und unser Versagen im Iran und der schmutzige Krieg gegen die Sandinistas in Nicaragua und der Bombenangriff auf Libyen und schließlich die Iran-Contra-Affäre ... Mein Patriotismus wurde immer dünner, bis er sich ganz aufzulösen schien.«

Dillon machte eine Pause, holte tief Luft und sagte: »Weiß der liebe Gott oder der Teufel warum, manchmal glaube ich aber noch immer an unsere alten amerikanischen Freiheitsideale: an unsere Geschichte, an unser Land, an unser ›Vaterland‹, wie die Deutschen sagen ...«

Draußen ging die Sonne hinter den hohen Kiefern unter, und der Sensor an der Hauswand schaltete automatisch das Außenlicht ein. Im Halbdunkel konnten sie ihre Gesichter kaum noch sehen. Schließlich unterbrach Ingham Dillons Monolog und fragte, ob man ihm bereits am Telefon gesagt habe, was er eigentlich von ihm wolle.

»Keine Ahnung«, sagte Dillon, »vielleicht sollen Sie mir mitteilen, daß meine Rente erhöht wird.«

»Das könnte möglich sein«, sagte Ingham, »aber vielleicht könnten Sie den alten Ärger verdrängen und vorher Ihrem Land wieder mal einen Dienst erweisen ...«

»Nein«, sagte Dillon abrupt, »ich arbeite nie wieder für die CIA! Und dabei bleibt es!«

»Nicht für die Firma«, sagte Ingham schnell, »sondern direkt für das Weiße Haus – für den Präsidenten persönlich, wenn Sie so wollen.«

Er holte den Umschlag aus seinem Pilotenköfferchen und reichte ihn über den Tisch. Ingham schaltete eine Lampe ein und blinzelte erstaunt, als er das Siegel sah. Er holte einen Dosenöffner vom Tresen der Pantryküche und schlitzte damit den Umschlag umständlich auf. Er las den kurzen Brief. Ingham beobachtete, wie sich ein ungläubiger Ausdruck auf seinem Gesicht abzeichnete, der schließlich in ein Grinsen überging, das an den Mundwinkeln begann und an den Augenwinkeln auslief.

»Gute Arbeit von der Dokumentenabteilung«, sagte Dillon, »macht einen ziemlich echten Eindruck!«

»Der Brief ist echt! Ich war dabei, als der Präsident ihn heute morgen geschrieben hat. Der Sicherheitsberater auch!«

Dillon grinste noch ein bißchen breiter.

Ingham fragte, ob er mal telefonieren könne. Er schaltete den Lautsprecher des Telefons ein, wählte die Nummer des Weißen Hauses und ließ sich von der Zentrale mit der Sekretärin von Brent Scowcroft verbinden. Erst als er es dringend machte, stellte sie zum Chef durch, der gerade eine Besprechung hatte.

Ingham erklärte, er sei gerade bei Henrik C. Dillon zu Hause, und es gebe gewisse Probleme wegen des Präsidenten-Briefes. Schließlich sprach Scowcroft selber mit Dillon und erklärte ihm, daß alles seine Richtigkeit habe. Dillon war verblüfft. So etwas sei ihm noch nicht passiert, sagte er. »Ein Brief vom Präsidenten ...«

Er faltete das Schreiben und legte es in die Gartenteich-Broschüre zwischen die Seiten über die Ringelnatter und machte zum zweitenmal zwei Martinis ohne Oliven. Nach einer längeren Pause stieß er unvermittelt mit Ingham an. »Dann erzähl mal, was ihr für Sorgen habt, Don ...«

Donald Ingham berichtete von dem verschwundenen SDI-Wissenschaftler Peter Rosenblatt, sprach von dem Verdacht, der Mann könne in den Osten überlaufen oder sogar ein vom Osten eingesetzter Agent sein. Er breitete Fotos von Rosenblatt auf dem Glastisch aus. Die Bilder zeigten den Forscher als Studenten in einem Labor des Massachusetts Institute of Technology in Boston, an einem Computer und vor einer Maschine, die wie ein gigantischer Schiffsdiesel aussah. Rosenblatt vor der Nova-Laser-Versuchsanlage in Livermore stand auf der Rückseite. Das letzte Foto zeigte den jungen Mann auf dem unterirdischen Atomwaffen-Versuchsgelände in der Wüste von Nevada, wo sich armdicke Meßkabel wie Riesenspaghetti auf einem Teller schlängelten. Er hielt irgendein Meßinstrument in der Hand und blickte ernst, wie auf den anderen Bildern auch.

Dillon betrachtete ihn mit dem Interesse eines Schmetterlingssammlers, der ein besonderes Exemplar vor sich hat.

»Sieht sympathisch aus, der junge Mann«, sagte er, »scheint einer dieser introvertierten Wissenschaftler-Typen zu sein.«

Ingham nickte und berichtete von den ersten Ermittlungen der westdeutschen Kriminalpolizei und der CIA-Residenten in der Bundesrepublik: von der leeren Motorjacht mit den Blutspuren in Niedersachsen, von der Vernehmung seiner neuen Freundin, einer Fernsehjournalistin.

»Ist die Dame überprüft worden, ob die möglicherweise für die andere Seite arbeitet?« warf Dillon ein.

Dafür gebe es nach den ihm vorliegenden Berichten bisher keine Anhaltspunkte, antwortete Ingham. Er erzählte von der merkwürdigen Tonbandaufnahme mit Rosenblatts Stimme. Das Band sei inzwischen von CIA-Experten in Frankfurt ausgewertet und von Psychologen begutachtet worden. »Rosenblatt«, so zitierte Ingham aus den Berichten, »ist möglicherweise psychisch erkrankt. Es scheint, als ob seine moralisch-geistigen Koordinaten durcheinander geraten sind. Besonders beunruhige eine etwas wirre Sequenz auf dem Tonband: wo die Guten einen Krieg anfangen, um das Böse auf der Welt endgültig zu besiegen und dadurch selbst zu den Bösen würden.

Ingham überschlug einen Teil und kam zum Resümee der Analyse: »Auf dem Tonband ist offenbar unter dem Einfluß von Alkohol und in einer besonderen Atmosphäre Rosenblatts Seelenlage deutlich geworden. Er hat unterdrückte Gedanken ausgesprochen, wenn auch in einer verschwommenen, bildnishaften Form ...«

»Psychologen-Quatsch«, warf Dillon ein.

»... falls der Vermißte noch lebt und nicht Suizid begangen hat oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, sondern, was naheliegender sei, an Bord des Boots durch Blutspuren und andere ausgelegte Hinweise einen Selbstmord beziehungsweise ein Gewaltverbrechen vorgetäuscht hat, um seine Flucht zu tarnen«, fuhr Ingham fort, »so spricht manches dafür, daß er sich in den Osten absetzen wolle.«

Ingham zitierte den Schlußsatz des Berichtes: »Es wird von hier aus dringend empfohlen, zu überprüfen, ob Rosenblatt möglicherweise nicht schon längere Zeit für den Gegner gearbeitet hat, ob er ein Maulwurf gewesen ist.«

Dillon stellte sein Glas hart auf den Tisch.

Er stand auf und ging zu seiner Bücherwand, die von gebundenen Bänden, von ungeordneten Aktenordnern und gehefteten Papieren überquoll. Nach einer Weile fand er, was er suchte.

»Es gab«, sagte er, ohne aufzublicken, »Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre in Los Alamos einen Nuklearwissenschaftler, der bei der Entwicklung der H-Bombe mit Oppenheimer und Teller zusammengearbeitet hat. Der Mann hat das gesamte Entwicklungsprogramm an die Sowjetunion verraten. Er wurde überführt, verurteilt und später, wie üblich, ausgetauscht. Er soll heute in Ostdeutschland leben. Der Mann heißt Klaus Fuchs. Klaus Fuchs, der Atomspion.«

»Ich sehe, Mister Dillon, Sie haben bereits mit der Arbeit begonnen«, sagte Ingham erleichtert. »Sie sollten so schnell wie möglich in die Bundesrepublik fliegen. Morgen vormittag geht eine Direktmaschine der Lufthansa von Washington nach Frankfurt.«

Dillon schüttelte den Kopf. »Nicht so hastig, junger Kollege. Möglicherweise bin ich bereit, diesen Job zu übernehmen, vorausgesetzt, ich leite den Fall. Ich bin verantwortlich, und die Leute in Langley und unsere ehemaligen CIA-Kollegen in Bonn und Hamburg tun, was ich sage. Und noch etwas: ich halte, was ich bei meinem Abschied in Langley gesagt habe: ich arbeite nie wieder für die CIA. Ich lege Wert darauf, daß meine Ermittlungen direkt an den Sicherheitsberater und damit an den Präsidenten gegeben werden. Sie können als Mitarbeiter des Sicherheitsberaters mein Partner sein.«

Ingham überlegte kurz und sagte, das gehe in Ordnung.

»Und ich bekomme ein Honorar«, sagte Dillon. »Schließlich bin ich als Pensionär eine Art freier Mitarbeiter der Regierung und muß demnächst eine teure Scheidung finanzieren.«

»Das muß ich klären, aber es wird kaum Schwierigkeiten geben«, sagte Ingham und fügte etwas von »üblichen Spesen« hinzu.

»Okay, wenn das alles klar ist, fliege ich morgen früh mit der ersten Maschine nach Kalifornien und dann von San Francisco aus nach Frankfurt und Hamburg«, sagte Dillon. »Ich möchte erstmal herauskriegen, was dieser Rosenblatt für ein Kerl ist und was er da in Livermore eigentlich gemacht hat.«

Herbst der Amateure

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