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ОглавлениеDonnerstag, 28. September 1989
Die beiden Männer gingen von Bord, wie sie gekommen waren. Broders tätschelte seinen Hund, der noch immer jaulte und an der Leine zerrte und sich erst allmählich unter der Hand seines Herrn beruhigte.
»Kannst du eine Weile hierbleiben und auf das Boot aufpassen?« fragte Lohmer.
»Selbstverständlich, Herr Kommissar! Stehe stets zu Ihrer Verfügung!«
Broders bemühte sich angestrengt um einen lockeren Ton.
»Vielleicht hat sich jemand beim Rasieren geschnitten?«
»Kann sein«, sagte Lohmer. »Kann auch sein, daß sich jemand sonst irgendwie verletzt hat und von Bord gegangen ist, um einen Arzt zu suchen und in der Aufregung das Boot nicht richtig festgemacht hat ... Vielleicht hat’s an Bord einen Streit mit Schlägerei gegeben. Oder einer hat sich selbst umgebracht. Kann aber auch sein, daß jemand überfallen, ausgeraubt und über Bord geworfen worden ist – dann sind dies hier die Spuren eines Mordes! Alles möglich, Professor. Jedenfalls sind seltsame Blutspuren an Bord einer herrenlosen Jacht das, was wir in meinem Job einen ›Anfangsverdacht‹ nennen. Und da muß ich leider dienstlich werden. Erstmal telefonieren jedenfalls.«
Lohmer ließ Broders und seinen Hund am Ufer zurück und ging über den Deich und über den schmalen Weg zu seinem Haus, an dem seine Frau längst die Außenbeleuchtung eingeschaltet hatte.
»Wo bleibst du denn bloß? Ich hab ein paarmal gerufen. Deine Tochter ist schon ohne dich eingeschlafen! Du hättest mir auch ausnahmsweise ein bißchen helfen können. Oder hast du vergessen, daß meine Eltern gleich zum Essen kommen?«
Natürlich hatte er das vergessen. Seine Frau war wütend. Sie stand in der Küchentür, aus der es nach Braten roch. Der Tisch in der Diele war mit dem guten Service und mit den neuen Weingläsern gedeckt. Im Kamin knackten brennende Holzscheite. Ingrid Lohmer hatte sich feingemacht, den neuen Hosenanzug angezogen, die Haare hochgesteckt und Schmuck angelegt.
Sie waren jetzt bald acht Jahre verheiratet, und Lohmer fand, daß sie sich unnötig Sorgen wegen einiger Fältchen machte. Er liebte seine Frau noch immer, ihr Äußeres ebenso wie die meisten ihrer Eigenschaften. Aber es gab auch Dinge, die trafen seine Nerven wie ein Zahnarztbohrer: zum Beispiel ihr schriller, fast schon hysterischer Tonfall, wenn sie sich stritten.
»Und wie du aussiehst! Deine Hose ist ja von oben bis unten mit Dreck bekleckert ...! Wo hast du dich bloß herumgetrieben? So kannst du doch nicht bleiben!«
»Ich kann überhaupt nicht bleiben!« sagte Lohmer kurz angebunden. »Ich muß gleich weg. Dienstlich.«
»Jetzt noch ...? Das hab ich mir doch gedacht! Immer, wenn meine Eltern kommen, kommt dir ganz plötzlich was dazwischen ... aber wenn mein Vater bei der Bank was für uns tun soll – dann spielst du den lieben Schwiegersohn ...«
Lohmer hatte keine Lust mehr, seiner Frau zu erklären, was draußen am Deich geschehen war. Er warf die Tür seines Arbeitszimmers zu und nahm sich vor, bei der nächsten Zinsfestlegung für die Haushypothek nicht mehr die Dienste seines Schwiegervaters in Anspruch zu nehmen, auch wenn die Kreissparkasse ein halbes Prozent teurer sein würde.
Er drückte die Selbstwähltaste mit der Nummer seiner Dienststelle. Es war halb acht Uhr abends. Im Kriminalkommissariat Cuxhaven war nur noch die K-Wache im Erdgeschoß des vierstöckigen Polizeigebäudes an der Kammannstraße besetzt. Hilbert hatte Dienst, ein neuer, junger Kollege, frisch von der Polizeischule. Als Lohmer den Fundort des Bootes am Ostedeich genau erklärte und sagte, er solle sofort einen Wagen der Schutzpolizei mit zwei Mann zur Bewachung des Bootes schikken und Jens Feldhusen von der Spurensicherung auftreiben, da knallte der Neue beinahe hörbar die Hacken zusammen, sagte »Jawohl, Herr Hauptkommissar!« und »Wird gemacht, Herr Hauptkommissar!« und »Einen schönen Abend noch, Herr Hauptkommissar!«
Den müssen wir noch ein bißchen lockerer machen, dachte Lohmer.
Erst als er den Hörer auflegte, merkte er, daß Bonnie, der Dackel, den Zeigefinger seiner linken Hand ableckte, mit dem er auf dem Boot über das Blut gestrichen war. Lohmer wusch sich sorgfältig die Hände. Dann ging er über den schmalen Flur in den ausgebauten Tennenteil des Bauernhauses, ins Zimmer seiner Tochter. Wie immer brannte nachts eine kleine Lampe, weil Eva Angst vor völliger Dunkelheit hatte. Sie seufzte tief und hielt ihr Lieblingstier, einen Plüsch-Pinguin, fest in der Hand. Lohmer strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
»Ich muß nach Otterndorf zu einer dringenden Vernehmung«, sagte er eine Spur zu eilig zu seiner Frau. Sie wandte den Kopf ab und sagte nichts.
Im Garten roch es nach feuchtem Herbstlaub und nach späten Heckenrosen. Lohmer ging noch einmal zu Broders, der sich auf einen Baumstumpf gesetzt hatte und rauchte.
»Hast du noch ein bißchen Zeit? Du wirst gleich von zwei richtigen Polizisten abgelöst«, sagte er. »Ich fahre noch mal schnell nach Otterndorf, zu diesem Bootsverleiher.«
Broders sagte, er könne warten, er habe sowieso nichts vor, und seine Frau sei bei einer Freundin in Hamburg.
Lohmer fuhr mit seinem alten BMW den schmalen Weg am Deich entlang. Auf der asphaltierten Kreisstraße kamen ihm kurz nacheinander zwei Fahrzeuge entgegen, ein grünweißer VW-Passat mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Sirene und ein älterer beigefarbener Mercedes. Er hoffte, daß ihn seine Schwiegereltern nicht gesehen hatten.
Nach einer Viertelstunde erreichte er Otterndorf, eine kleine idyllische Stadt mit einer Hauptstraße, übergroßer Backsteinkirche und liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern. Lohmer mußte halten, als ein paar Kinder mit bunten Laternen die Straße überquerten und »Laterne, Laterne ... Sonne, Mond und Sterne« sangen. Er fuhr aus der Stadt hinaus zum Jachthafen. Im Elbterrassenrestaurant, einem flachen, bungalowartigen Bau mit großen Fenstern zur Elbe hin, roch es wie immer nach Scholle mit Speck. Lohmer fragte nach dem Bootsverleiher Paulsen. »Vielleicht ist der noch unten am Anleger«, sagte jemand.
Der flaschenförmige Jachthafen, dessen schmaler Hals zur Elbe führt, war um diese Jahreszeit nur noch zur Hälfte belegt. Große Motor- und Segeljachten für eine halbe Million und kleine Boote mit Außenbordmotor lagen nebeneinander. Aus einigen Kajüten fiel mattes Licht. Lohmer ging über die auf dem dunklen Wasser schwankenden Holzplanken. Er mußte nicht lange suchen, dann entdeckte er eine kleine Motorjacht mit beigefarbenem Kunststoffrumpf und blauer Persenning. Derselbe Typ wie das Boot auf der Oste. Dörte I, Otterndorf Kreis Cuxhaven, stand am Heck. An Bord brannte Licht.
Durch das Kajütenfenster sah Lohmer einen schweren Mann mit grauem Haarkranz auf einem sonnenroten Schädel. Der Mann saß am Tisch, über allerlei Papiere gebeugt, griff zu einer Flasche Korn, schraubte umständlich den Verschluß ab, schenkte ein Wasserglas viertelvoll und kippte es sich in den Hals. Er trug einen blauen Seemannspullover mit geöffnetem Reißverschluß am Rollkragen. Trotz seines massigen Kopfes hatte er einen spitzen Adamsapfel, der beim Schlucken auf- und abtanzte.
Lohmer klopfte an die Bordwand. Der Mann hustete, setzte das Glas ab und zwängte sich umständlich hinter dem Tisch vor, machte die Kajütentür auf und blickte mißtrauisch zu Lohmer auf.
»Was is’n los?«
Lohmer fragte, ob er der Bootsverleiher Heinz-Hennig Paulsen sei, und als der Mann nickte, nannte er seinen Namen und Dienstrang.
»Was is’n los?«
Er brauche nur ein paar Auskünfte, sagte Lohmer.
»Wofür? Was is’n los, um diese Zeit noch?«
Paulsen hatte plötzlich eine Taschenlampe in der Hand. »Sind Se irgendwo reingefallen?«
Der Lichtkegel fiel auf Lohmers mit getrocknetem Schlickwasser bekleckerte Hose. Zu blöd. Er hatte vergessen, sich umzuziehen. Als er fragte, ob er reinkommen könne, weil man sich drinnen wohl besser unterhalten könne, schüttelte Paulsen den Kopf, sagte »mit der Dreckshose sowieso nicht«, er habe nämlich gerade erst die Sitzpolster gereinigt.
Lohmer klopfte an seiner Hose herum und unterdrückte seinen Ärger. Dann fragte er Paulsen, ob er der Eigner der Motorjacht Dörte III sei und an wen er die zur Zeit vermietet habe. Der Bootsverleiher streckte den Kopf vor und sah ihn noch mißtrauischer an.
»Ham Se mal nen Ausweis, ne Marke oder sowas?«
Umständlich erklärte er, vor einem Jahr sei schon mal »so’n Schnüffler« bei ihm gewesen, er habe sich auch als Kripomann ausgegeben und nach einem Pärchen gefragt, das ein Boot gemietet hatte – und ein paar Monate später sei er als Zeuge zu einem Scheidungsprozeß geladen worden. »Der Kerl war nämlich Privatdetektiv, wissen Se, und hinter nem Liebespaar her, und mit sowas will ich nix mehr zu tun haben.«
Lohmer kam sich immer alberner vor. Natürlich hatte er weder Dienstmarke noch Dienstausweis in seiner Freizeitkleidung. Er versuchte, das zu erklären, gab’s aber auf.
»Also gut, Herr Paulsen, wenn Sie wissen wollen, was mit der Dörte III passiert ist, dann kommen Sie morgen früh um acht zur Polizeidienststelle Cuxhafen, Kriminalkommissariat, zweiter Stock, Zimmer 220. Lohmer ist mein Name, Hauptkommissar Manfred Lohmer.« Er drehte sich um und rief noch im Gehen: »Wenn Sie nicht pünktlich da sind, laß ich Sie mit einem Streifenwagen zur Vernehmung abholen!«
Paulsen kam an Deck.
»Also, was ist mit meinem Schiff los?«
Lohmer kam zurück.
»Können wir uns jetzt unterhalten oder nicht?«
»Kommen Se rein, aber Vorsicht mit der Hose ...«
Lohmer quetschte sich auf eine der beiden Sitzbänke. Paulsen schenkte sich einen Korn ein, bot Lohmer auch einen an und deutete, als der ablehnte, mit seinem Glas in der Hand auf die Papiere. »Alles für die Steuer, alles korrekt hier.«
»Seit wann haben Sie die Dörte III vermietet, Herr Paulsen, und an wen?«
»Vor drei Tagen, an nen Ami. Warten Se. Den Vertrag hatt ich eben noch inne Finger ...« Paulsen wühlte beidhändig in seinen Papieren und hielt nach einer Weile triumphierend einen ausgefüllten Vordruck hoch. »Sehn Se, Herr Kommissar, bei mir herrscht Ordnung.«
Lohmer streckte seine Hand aus. »Kann ich mal sehen?«
»Erst sagen Se mal, wat nu eigentlich los ist.«
Lohmer erzählte, wie er die Motorjacht gefunden hatte, daß niemand an Bord sei und sie nun sicher festgemacht war. Die Blutflecken erwähnte er nicht.
»Da bin ich Sie aber sehr dankbar, Herr Kommissar«, sagte Paulsen und klemmte sich einen kalten Zigarrenstummel zwischen die Lippen.
Lohmer griff nach dem Vertragsformular, las es durch und machte sich Notizen. Die Motorjacht war laut Vertrag vor drei Tagen für eine Woche an einen gewissen »William J. Berrigan, geboren 3. 5. 1954 in Boston, wohnhaft ebenfalls in Boston, amerikanischer Staatsbürger«, verchartert worden.
»Der Mann hat als Sicherheit 3000 Mark in bar hinterlegt«, sagte Paulsen.
»Haben Sie irgendwelche Papiere mit einem Foto von ihm?«
»Klar. Seinen Paß. Laß ich mir von Ausländern immer geben.«
Der Bootsverleiher schichtete wieder seine Papiere um, fischte schließlich einen US-Paß hervor. Lohmer klappte den Ausweis auf und starrte auf die Stelle, wo das Foto gewesen sein mußte – es war herausgerissen, offenbar so heftig, daß auch die obere Seitenecke des Dokumentenpapiers fehlte.
»Hier ist kein Foto mehr, Herr Paulsen!«
Lohmer knallte den Paß auf die Tischplatte. Der Bootsverleiher zuckte zusammen, nahm das Dokument und betrachtete es ungläubig von allen Seiten.
»Ich schwöre, Herr Kommissar! Als mir der Ami den Paß gegeben hat, war da ein Bild drin ...« Paulsen beschrieb seinen Kunden. »Der hat nich wie ein Ami ausgesehen, mehr wien Student, älteres Semester. Mitte Dreißig. Mittelgroß. Mit Brille. Eine mit Goldrand, nee, ohne Rand. Der hat perfekt Deutsch gesprochen, Herr Kommissar. Der wollte mit der Dörte III ne Woche Urlaub machen, hat er gesagt, auf der Elbe und auf den Nebenflüssen rumpütschern. Nach der Ostemündung hat er noch gefragt, da wollt er wohl rein. Vorher hat er sich nach nem Lebensmittelladen erkundigt.«
Paulsen schüttete wieder Schnaps nach.
»Ach ja, Herr Kommissar, fast hätt ich dat vergessen: ich hab dann nachher zufällig gesehen, wie die Dörte III bei Hochwasser aus dem Hafen ausgelaufen ist – da war plötzlich ne Frau an Deck. Lange rote Haare hatte die und ne weiße Windjacke, sah toll aus von weitem, kam mir irgendwie bekannt vor, wien Filmstar oder so, aber ich komm nich drauf.«
Lohmer schrieb ein kleines Kalenderblatt voll, das der Bootsverleiher ihm gegeben hatte, dann verabschiedete er sich und sagte, die Dörte III werde erst einmal sichergestellt. Paulsen protestierte. Lohmer meinte, es werde nur ein paar Tage dauern.
Im Elbterrassenrestaurant ging gerade das Licht aus, als er vorüberging. Die Herbstnacht war kühl und klar geworden. Vom Außendeich aus konnte er kilometerweit über die Elbmündung blicken. Der große Schatten eines hochbeladenen Containerschiffs zog vorüber. Am anderen Ufer waren die Lichter des Industriegebietes Brunsbüttel zu sehen, weiter südlich der Atomreaktor Brokdorf. Hauptkommissar Lohmer stieg in seinen Wagen, an dessen Heckscheibe der Aufkleber Atomkraft – Nein danke! klebte. Im Autoradio sagte der Nachrichtensprecher, in Leipzig und Ostberlin seien nach Protest-Versammlungen in mehreren Kirchen und nach gewaltfreien Demonstrationen mehrere Dutzend DDR-Bürger vom Staatssicherheitsdienst und von der Volkspolizei festgenommen worden.
Schon von weitem konnte Lohmer einen hellen Widerschein hinter dem Ostedeich sehen. Kurz vor seinem Haus parkte ein Streifenwagen halb in einem Gebüsch. Ein paar Leute standen auf der Deichkrone. Er erkannte einige Nachbarn. Auch seine Frau und seine Schwiegereltern waren dabei. Sie gaben ihm frostig die Hand. »Tut mir leid, daß ich weg mußte. Ich war deswegen unterwegs«, sagte er und zeigte zum Boot hinüber.
Im weißblauen Licht von zwei Halogenscheinwerfern war an Deck der Motorjacht ein einzelner Mann bei der Arbeit zu beobachten: Jan Feldhusen von der Spurensicherung. Er schabte sorgfältig mehrere der braunroten Flecken ab und strich das getrocknete Blut in verschiedene Reagenzgläser. Er bestäubte das Ruder und andere Stellen mit grauem Graphitpuder, entdeckte einige Fingerabdrücke und machte von ihnen Abzüge auf einem Spezial-Plastikklebestreifen. Er kennzeichnete einige Kratzer mit Zahlenschildchen, machte eine Übersichtsaufnahme und fotografierte sie dann ganz aus der Nähe mit einer Pentax mit Makroobjektiv. Er fuhrwerkte mit einer Art Autostaubsauger auf dem Boden, auf Sitzen und Tischen, sogar in den Kojen herum und sammelte auf diese Weise Textilfussel, Haare, Kippen, Knöpfe und allerlei Partikelchen vor dem Spezialfilter des Staubbeutels. Schließlich trug er die Beute in seinen Dienstwagen. Es war kurz vor Mitternacht, als die Scheinwerfer erloschen.
Lohmer konnte in dieser Nacht schlecht schlafen. Sein Instinkt sagte ihm, daß die Sache mit dem Boot ein ungewöhnlicher Fall werden könnte: Wenn der Bootsverleiher nicht das Bild aus dem Paß des Amerikaners gerissen hatte, dann blieb nur eine Erklärung: dieser Mister Berrigan aus Boston hatte seinen Ausweis abgegeben und das Foto nachher bei günstiger Gelegenheit selber herausgerissen.
Warum?
Lohmer beschloß, gleich morgen früh den Polizeizeichner zu dem Bootsverleiher zu schicken. Der sollte nach dessen Personenbeschreibung ein genaues Portrait des Amerikaners malen. Vielleicht würde man es bald für ein Fahndungsplakat brauchen ...
Am nächsten Morgen, kurz vor acht, schloß Lohmer sein Büro in der zweiten Etage des vierstöckigen Polizeigebäudes in der Cuxhavener Kammannstraße auf. »Hauptkommissar Manfred Lohmer, Tötung und Brand« stand an der Tür, hinter der sich deutsches Behördenzimmer-Design verbarg: Schreibtisch, Schreibmaschinentisch, Aktenregale, abschließbarer Schrank, alles aus Kiefernholznachbildung. Ein Drehstuhl, zwei Besucherstühle aus Vierkantstahlrohr mit grünen Sitzpolstern. Blaugrauer Linoleumboden, nach Reinigungsmittel riechend. Der gerahmte Druck an der Wand »Abend im Teufelsmoor« von Otto Modersohn war Privateigentum, und natürlich auch das gerahmte Farbfoto auf der Fensterbank: Lohmer mit Frau und Tochter an einem Sommertag vorm Reetdachhaus am Ostedeich.
»Moiijn Kollege Lohmer!«
Kriminalrat Kohlschmidt, sein Chef, grüßte durch die halboffene Tür und schlurfte mit pensionsreifen Schritten in das Zimmer nebenan.
Kohlschmidt machte die Verwaltungsarbeit im Kriminalkommissariat Cuxhaven, in dem 26 unterbezahlte Kriminalbeamte in der Stadt und im nördlichen Landkreis etwa »120 000 Leute in Schach halten« mußten, wie Kohlschmidt zu sagen pflegte. Manfred Lohmer, stellvertretender Leiter des KK und Chef der Abteilung »Tötung und Brand«, war der eigentliche Kriminalist in diesem Außenposten der deutschen Gesetzeshüter an der Nordseeküste. Er leitete von Fall zu Fall die MoKo und die SoKo – die »Mordkommission« und die »Sonderkommission« –, wenn kapitale Verbrechen aufzuklären waren. »Der Kojak von der Küste« hatte ihn die Lokalzeitung genannt, als er sich vor ein paar Monaten seinen hufeisenförmigen Haarkranz abrasiert hatte. Lohmer hatte den Bildreporter des Blattes zum Teufel gejagt, der ihm für ein Foto auch noch einen Lolli in die Hand drücken wollte. Seither ließ er sich auf dem Kopf und im Gesicht durchschnittlich drei Tage altes Stoppelhaar stehen und einen gepflegten Schnauzbart wachsen. Das gab ihm, zusammen mit seiner legeren Kleidung, Jeans, Sporthemd, Sakko oder Wildlederjacke, ein asphalt-cowboyartiges Aussehen. Jedenfalls wirkte Lohmer einige Jahre jünger, als er war. Er war 43.
Lohmer hatte sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß Cuxhaven die letzte Sprosse seiner Karriereleiter sein würde. Anders als noch vor ein paar Jahren beunruhigte ihn dieser Gedanke keineswegs. Seiner Karriere in der Landeshauptstadt Hannover trauerte er nicht mehr nach. Da war er beim 14. K gewesen, beim Staatsschutz. Der größte Fall, den er aufgedeckt hatte, war eine versuchte Gefangenenbefreiung aus der Strafanstalt Celle: Bombenleger hatten ein Loch in die meterdicke Außenmauer gesprengt – ein verurteilter Terrorist, Mitglied der RAF, sollte durch das später sogenannte »Celler Loch« nach draußen klettern. Die Ladung ging hoch, aber der Häftling kam nicht rechtzeitig raus. Statt dessen schlugen die Ermittlungsergebnisse von Lohmer und seinen Kollegen wie eine Bombe ein: der Sprengsatz an der Knastmauer war nämlich vom Verfassungsschutz gelegt worden. Der wollte den Gefangenen, der dem Terrorismus längst abgeschworen hatte, auf diese Weise aus dem Knast bringen und als Informanten in die RAF einschleusen. Der Fall wurde zum politischen Skandal, und Lohmer wurde verdächtigt, einem befreundeten Journalisten ein paar Tips für eine Enthüllungsstory darüber gegeben zu haben. Das konnte ihm zwar nicht nachgewiesen werden, dennoch wurde er ein paar Monate später zum Hauptkommissar und so weit von Hannover weg befördert, wie es im Lande Niedersachsen nur geht: an die Nordseeküste nach Cuxhaven.
Inzwischen fühlte sich Lohmer längst wohl in dieser vom Wind saubergefegten Stadt, zu der auch ein paar vorgelagerte Seebäder gehören. Und beruflich hatte er wieder Erfolg. Seit Beginn seiner Dienstzeit waren alle Morde und Brandstiftungen aufgeklärt worden. Bis auf einen. Ein Urlauber hatte eines Morgens erstochen vor einem der großen Fischkühlhäuser am Hafen gelegen. Ein dubioses Verbrechen ohne erkennbares Motiv. Und eine peinliche, um nicht zu sagen geschäftsschädigende Angelegenheit, wie damals der Vorsitzende der »Vereinigung fischverarbeitender Betriebe« und der Leiter des Fremdenverkehrsvereins übereinstimmend bemerkten. Wobei letzterer noch hinzufügte, das Robbensterben an der Küste mache ihm schon genug Sorgen.
Kurz vor zehn kam Feldhusen.
»Hast du auf dem Boot was Besonderes entdeckt?« fragte Lohmer.
Der Mann von der Spurensicherung schob ein DIN-A4-Blatt über den Tisch. Darauf waren drei handbeschriebene Zettel zu einem Satzteil aneinandergeklebt. »... anderen Ausweg ... sehe ich ... nicht ...«
»Sieht nach einem Abschiedsbrief und nach Selbstmord aus Liebeskummer aus«, sagte Feldhusen.
»Wie kommst du denn darauf, Sherlock Holmes?« fragte Lohmer.
Feldhusen hielt einen durchsichtigen Plastikbeutel gegen das Fenster. »Da sind drei kupferrot gefärbte Frauenhaare drin, bis zu 58 Zentimeter lang, die reichen fast bis auf den Hintern.« Feldhusen verdrehte die Augen, als sehe er eine nur mit langen roten Haaren bekleidete Frau vor sich.
»Hier ist die vollständige Spurenliste.«
Lohmer las: »Herrenlose Jacht; Verzeichnisnummer 434/89.« Unter dieser Überschrift waren 53 einzelne Positionen aufgeführt, von »Zigarettenkippe, Lord extra mit Lippenstiftspuren« bis zu »Mittelgroßer Reisekoffer, grau, Hartschale, Marke Samsonite, zahlreiche Aufkleber«. Auch »Eine Packung Kondome, Marke Libido, nicht angebrochen«.
Feldhusen grinste, als er mit dem Finger auf diese Position deutete: »Hab ich doch gesagt: Liebeskummer ...«
Er werde diese und die anderen Fundsachen und natürlich die Fingerabdrücke und die Reagenzgläser mit den Blutproben per Kurier zum Labor des Landeskriminalamtes Hannover schicken. Bevor er ging, stellte Feldhusen die Einkaufstüte auf den Schreibtisch, die Lohmer am Abend auf der kleinen Jacht gesehen hatte. »Da sind ein paar Bücher, Schriftstücke und Tonbandkassetten drin, die solltest du dir näher angucken.«
Lohmer holte ein deutsches und zwei englische Bücher und eine Broschüre aus der Tüte. Eines hieß S.I.O.P – The Secret U.S.Plan for nuclear war. Ein anderes Nuclear Battlefields. »Das eine bedeutet Die geheimen Atomkriegs-Pläne der USA und das andere Atomare Schlachtfelder«, sagte Feldhusen wichtig, »hab ich mit einem Wörterbuch selbst übersetzt ...«
Lohmer las langsam den Aufdruck einer grünen Broschüre: Institutional Plan 1988–1993, Lawrence Livermore National Laboratory.«
Lohmer atmete hörbar aus. »Das ist allerdings eine etwas ausgefallene Lektüre für eine friedliche Bootstour auf der Oste.«
»Kommt irgendwas von Atomsprengköpfen und Laserstrahlen drin vor«, sagte Feldhusen. »Wir haben hier doch die US-Army in Bremerhaven und Radarstationen in Basdahl und Wanna ...«
»... und vermutlich ein paar Atomsprengkopflager, die es offiziell natürlich nicht gibt ...«
»Auf dem Gebiet sollst du ja Experte sein«, sagte Feldhusen.
Lohmer ging auf die Anspielung nicht ein: er hatte vor ein paar Monaten Ärger mit Kohlschmidt bekommen, weil er sich den Aufkleber Atomkraft – Nein Danke! ans Auto geklebt hatte. Ob das denn sein müsse? Das mache bei einem leitenden Kriminalbeamten keinen guten Eindruck auf die Bevölkerung, hatte der Kriminalrat gesagt. Er sei nicht nur Beamter, sondern auch freier Bürger und dürfe seine Meinung wohl noch äußern, hatte er geantwortet. Man lebe schließlich in einer Demokratie. Und er hatte auch noch erwähnt, daß er neuerdings Mitglied der Bürgerinitiative »Notaktion Fluglärm« geworden sei, weil seine kleine Tochter von den Tieffliegern der Bundeswehr und der NATO-Verbündeten zu Tode erschreckt werde. Ob Polizeibeamte etwa keine Pazifisten sein dürften? Lohmer hatte die Tür so laut hinter sich zugeknallt, daß die Kollegen ihre Köpfe auf den Flur hinausstreckten.
Er blätterte interessiert in dem dritten Buch aus der Plastiktüte, einem Bildband mit dem Titel Worpswede-Moskau / Das Werk von Heinrich Vogeler. Katalog zur Ausstellung 1989. Dann las er, was mit grünem Filzstift auf den drei Tonbandkassetten stand: Brandenburgische Konzerte von Johann Sebastian Bach, Leningrad vom US-Rocksänger Billy Idol, Regina Regenbogen, eine bei Kindern sehr beliebte Märchenkassette, wie er als Vater wußte. Da waren Leute mit vielseitigen Interessen an Bord der Dörte III, dachte Lohmer und nahm sich vor, Bücher und Kassetten mit nach Hause zu nehmen, da er tagsüber nicht dazu kommen würde, sich näher damit zu befassen.
Lohmer schrieb mit der Hand eine »Kriminaltaktische Anfrage«. Dann setzte er sich im Geschäftszimmer an den Computer, auf dessen Bildschirm die Großbuchstaben POLAS für Polizeiliches Auskunftssystem standen und tippte mit beiden Zeigefingern seinen kurzen Text ein:
»Kriminalkommissariat Cuxhaven bittet dringend um Auskunft über den amerikanischen Staatsbürger William J. Berrigan, geboren 3. 5. 1954 in Boston, US-Paß Nr. Z6175235, angeblich zuletzt wohnhaft in Boston, Kennedy Ave 1012. Berrigan wird vermißt. Ein Verbrechen ist nicht ausgeschlossen.«
Lohmer adressierte die Anfrage an das LKA, das Landeskriminalamt Hannover, an das BKA, das Bundeskriminalamt Wiesbaden und an das AZR, das Ausländer-Zentralregister in Köln.
Am frühen Nachmittag kam der Polizeizeichner aus Otterndorf zurück. Eine Stunde später hatte er aus einer ersten Skizze mit Pinsel und Spritzpistole ein Portrait des verschwundenen Amerikaners angefertigt – er arbeitete immer noch nach der alten Technik, nicht mit dem Fahndungsbild-Fotopuzzle, bei dem viele Dutzend verschiedener Gesichtsteile so lange miteinander kombiniert werden, bis das Bild den Zeugenangaben entspricht. Auf der Rückseite des Bildes stand: »Der verschwundene Amerikaner William J. Berrigan, gezeichnet nach Angaben des Bootsverleihers Heinz-Henning Paulsen, Otterndorf. Die Haare sind mittelblond, Augenfarbe grau oder blau, Alter Mitte Dreißig, besondere Kennzeichen: ein etwa fingernagelgroßes Muttermal am Hals, nach Angaben des Zeugen vermutlich links unterhalb des Kinns.«
Lohmer hielt das postkartengroße Schwarz-Weiß-Bild unter seine Schreibtischlampe. Es zeigte einen Mann mit vollem, in der Mitte gescheiteltem Haar, beide Ohren frei, hohe, glatte Stirn, schmale, ausgeprägte Nase, ovale Gesichtsform mit ein wenig hervorgehobenen Backenknochen, ausgeformte, aber schmale Lippen, markantes Kinn mit Grübchen. Brille mit dünnem Rand. Die Augenbrauen hatte der Zeichner stark betont, die Pupillen schienen ein wenig unnatürlich groß. Ein intelligentes, irgendwie ängstliches Gesicht, das dem Zeichner wie meist ein wenig puppenhaft steif geraten war.
»Der malt keine Menschen, sondern Wachsfiguren«, hatte Lohmer schon ein paarmal kritisiert. Am Hals, links, war ein dunkler Fleck eingezeichnet. Wenn der ein so großes Muttermal hatte, müßte der Mann Schwierigkeiten beim Rasieren haben, dachte Lohmer – er sah die danebenliegende Asservatenliste durch: es war an Bord kein Rasierapparat gefunden worden, auch kein Rasiermesser.
Er ließ im Fotolabor Reproduktionen des Portraits machen und schickte die Kopien mit der dazugehörigen Personenbeschreibung und einem Foto der Motorjacht Dörte III an die Lokalzeitungen in Cuxhaven, Bremerhaven und Bremen. Der letzte Satz der beiliegenden Polizeimeldung lautete: »Wer hat diese Person und dieses Boot in den vergangenen Tagen gesehen? Vermutlich wurde dieser Mann von einer Frau mit auffallend langem, rotem Haar begleitet. Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.«
Kurz nacheinander legte ihm die einzige Sekretärin des Kommissariats die Antworten auf seine Anfragen auf den Tisch. Alle drei Dienststellen meldeten: Keine Erkenntnisse über einen William J. Berrigan! Lohmer holte sich die dritte Dose Cola aus dem Automaten. Er bat das BKA, seine Anfrage über die Datenbank Inpol an Interpol Paris weiterzugeben.
Es war schon kurz vor fünf, als ihm eine Idee kam. Er rief seinen Freund Bernhard Greenberg in Bremerhaven an. Lohmer hatte Glück – Greenberg hatte Spätdienst. »Little Bernie«, ein Zweieinhalb-Zentner-Kerl mit Stiernacken und einem gewöhnlich zutraulich grinsenden Bulldoggengesicht, blickte an diesem Nachmittag traurig wie ein eingesperrter Hund aus dem Fenster der zweistöckigen Backsteinkaserne, gegen das ein steifer Nordwestwind dicke Tropfen trommelte. Die herbstlich trostlose Tiefebene dahinter sah wie eine spärlich bewachsene Unterwasserlandschaft aus. Bernie Greenberg mußte für einen erkrankten Kollegen Dienst machen, und sein geplanter Weekendausflug mit Freunden zum Bowling nach Hamburg mit anschließendem St.-Pauli-Bummel fiel deshalb aus. Der Detektiv des CID, des Criminal Investigation Department, der militärischen Kriminalpolizei der US-Army, war privat erfreut und dienstlich ungehalten über Lohmers Anruf. »Ich hoffe, ihr habt nicht schon wieder einen von unseren Jungs als Kokaindealer erwischt, wir haben hier schon genug Probleme, ausgerechnet zum Wochenende.«
Mit Greenberg hatte Lohmer oft zusammengearbeitet, wenn GI’s in irgendwelche Fälle verwickelt waren, meist in Drogendelikte. Lohmer sagte Greenberg, er brauche zwar dringend seine Hilfe, aber es werde nicht viel Umstände machen. Er solle nur mal schnell über die Spezial-Verbindung der US-Army Bremerhaven beim FBI in Washington und im Pentagon nach einem gewissen William J. Berrigan fragen. Lohmer berichtete von dem Boot und dem verschwundenen Amerikaner, der seltsamerweise sein Foto aus seinem Paß gerissen habe. Und daß ein Verbrechen nicht auszuschließen sei.
»Mehr hat der nicht ausgefressen?« fragte Greenberg gelangweilt.
»Dieser Berrigan hat ein paar Unterlagen über die geheimen Atomkriegspläne der Vereinigten Staaten von Amerika auf diesem Boot zurückgelassen, falls dich das interessiert?«
»Material über waaas ...?«
»Über eure Atomkriegspläne!«
»Aha.« Es war eine Weile still.
»Sag mal Fred, willst du mich verarschen?«
»Nicht während der Dienstzeit, das weißt du doch.«
»Und noch was, Bernie ...« Lohmer griff schnell in die Einkaufstüte, die noch immer auf seinem Tisch lag und zog die grüne Broschüre heraus. »Hast du schon mal was von einem Lawrence Livermore National Laboratory gehört?«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber im Moment fällt mir dazu nichts ein. Warum? Was ist damit?«
»Darüber waren auch Unterlagen an Bord.«
»Okay, ich hör mich um, was das für ein Laden ist.«
Greenberg ließ sich den Namen durchbuchstabieren und versprach Lohmer, er werde ihn auch spätabends oder nachts und am Wochenende anrufen, wenn er etwas über diesen Berrigan erfahren habe.
CID-Detektiv Greenberg schickte gegen 19.30 Uhr zwei chiffrierte Fernschreiben über Satelliten nach Washington. Eines an das FBI-Hauptquartier, eines an das Pentagon, an das Zentrale Personaldatenregister, in dem alle derzeit diensttuenden Gl’s, sämtliche Reservisten, alle Veteranen, also zig Millionen von lebenden und toten US-Soldaten aller Waffengattungen bis zurück zum Zweiten Weltkrieg registriert sind. Greenberg bat um Auskunft über »William J. Berrigan aus Boston«. Berrigan werde in der Bundesrepublik Deutschland dringend von der Polizei gesucht.
In Washington war es erst 14.30 Uhr, früher Nachmittag, als die Anfrage des CID Bremerhaven/West Germany eintraf. In den Parks der Hauptstadt und in den Vororten, die schon zum US-Bundesstaat Virginia gehören, hatten sich Bäume unter einem wolkenlosen Himmel prächtig gelb und braunrot gefärbt. Und die Wettermänner des beliebten Frühstücksfernsehens hatten für das bevorstehende Wochenende einen anhaltend warmen und sonnigen Indian summer vorausgesagt. Die mehr als hunderttausend Mitarbeiter der amerikanischen Regierung in den Verwaltungspalästen der Ministerien und Behörden an der Pennsylvania, der Constitution und der Independence Avenue freuten sich auf Weekend-Picknicks und Barbecues, aufs Golf- und Tennisspielen oder aufs Segeln an der nur zwei Autostunden entfernten Bay bei Baltimore. Für ein Dutzend Männer und Frauen jedoch fielen ihre Wochenendpläne ebenso ins Wasser wie für Bernie Greenberg in Bremerhaven oder wurden zumindest erheblich beeinträchtigt – weil ein deutscher Provinz-Kriminalbeamter eine Frage hatte.
Betroffen waren Mitarbeiter einer Reihe von Regierungsinstitutionen in der amerikanischen Hauptstadt und in der näheren Umgebung: in dem gewaltigen Komplex des achtstöckigen J. Edgar Hoover Building der amerikanischen Bundespolizei FBI; im Pentagon, dem fünfeckigen dunkelverglasten Gebäude des US-Verteidigungsministeriums in Arlington, auf der anderen Seite des Potomac River; im militärischen Geheimdienst DIA (Defence Intelligence Agency), der abseits, in der hermetisch abgeschlossenen Bolling Air Force Base untergebracht ist; in der Zentrale des größten und geheimnnisvollsten Geheimdienstes der USA, der NSA (National Security Agency) auf halbem Wege zwischen Washington und Baltimore; im Sitz der berühmt-berüchtigten CIA (Central Intelligence Agency) in Langley, zwölf Meilen außerhalb Washingtons, auf halbem Weg zum Dulles International Airport; im Außenministerium an der 23. Straße in Washington; im Energieministerium an der Independence Avenue; im Old Executive Office Building, dem Gebäude der Regierungsadministration, einem gewaltigen, verschachtelten grauen Komplex aus der Jahrhundertwende an der 17. Straße; und schließlich im Weißen Haus selbst. George Bush, der amerikanische Präsident, wurde von den Nachrichten aus Niedersachsen/Bundesrepublik Deutschland allerdings bis zum Montag morgen verschont, bis er von einer Angeltour vor der Küste seines Anwesens in Kennebunkport/Maine nach Washington zurückgekommen war.
Die erste, die an diesem frühen Freitagnachmittag in der US-Hauptstadt mit der Sache zu tun hatte, war Matilda Ronstet, eine dunkelhäutige Sachbearbeiterin an einem der vielen hundert Computer des FBI. Ihr neuer Freund Allan aus Alexandria hatte für den Abend einen Zweier-Tisch im feinen Portners Restaurant in der Altstadt von Alexandria, einem Washingtoner Vorort, reserviert. Matilda bekam die Anfrage »Berrigan« deshalb zu einem unpassenden Zeitpunkt auf den Tisch – und eine merkwürdige Antwort auf ihrem Bildschirm, als sie Namen und Daten so eingegeben hatte, wie sie ihr vom CID übermittelt worden waren. Der Computer gab den verwirrenden Befehl aus: »Bei Anfragen nach William J. Berrigan aus Boston antworten: Eine Person dieses Namens und mit diesen Daten ist nicht existent.« Und »Anfrage und Grund der Anfrage sofort an Außenministerium, Paßabteilung und an Energieministerium, Abteilung besondere Forschungsvorhaben weitergeben.«
An einem der Terminals des Zentralen Personaldatencomputers des Pentagon bekam etwa gleichzeitig Charles Wittlock den Vorgang »Berrigan« auf den Tisch. Auch sein Computer antwortete auf die Frage nach Berrigan mit negativ – und wies ihn ebenfalls an, sofort das Außen- und das Energieministerium zu informieren und den militärischen Geheimdienst DIA. Urgent – dringend stand auf dem Bildschirm seines Computers.
Die Nachricht »Es gibt keinen William J. Berrigan« landete am späten Abend, kurz vor zehn Uhr, auf dem Schreibtisch von Detektiv Greenberg in Bremerhaven.
Kaum zehn Minuten später klingelte sein Telefon. Am Apparat war Samuel Persh vom militärischen Geheimdienst DIA in Fort Bolling/Virginia, von der Abteilung für die in der Bundesrepublik Deutschland stationierten amerikanischen Streitkräfte. Persh wollte zu Greenbergs Erstaunen sehr dringend wissen, was es mit diesem nicht existierenden Mister Berrigan auf sich habe?
Greenberg erklärte, daß bei ihm eine Nachfrage der deutschen Kriminalpolizei vorliege. Danach sei der Mann spurlos verschwunden und habe irgendwelche militärische Unterlagen zurückgelassen und Material über das – Greenberg blickte auf seine Notizen und sprach langsam und deutlich – über das Lawrence Livermore National Laboratory.
»Können Sie mir sagen, was das für ein Betrieb ist, Sir?«
Nach einer kurzen Pause, und nachdem auf der anderen Seite des Atlantiks einige Stimmen zu hören, aber nicht zu verstehen waren, antwortete der Mann vom militärischen Geheimdienst: »Das kann ich, Sergeant Greenberg – das ist das Atomwaffenforschungslabor der USA in Kalifornien.«
Und er befahl Greenberg in einem Ton, der durch die klare Satellitenverbindung noch dringlicher klang, er solle sich unverzüglich um weitere Details dieser Sache bemühen und sobald wie möglich zurückrufen.
»Auf der abhörsicheren Leitung, natürlich!«
»Selbstverständlich, Sir«, sagte Bernhard Greenberg.
Er verkniff sich die Frage, warum dieser Aufwand und diese Eile – bei der Suche nach einem Mann, den es angeblich nicht gab.