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ОглавлениеFreitag, 29. September 1989
Hauptkommissar Manfred Lohmer packte kurz nach 19 Uhr in der Polizeidienststelle Cuxhaven seine Aktenmappe und klemmte sich die Tüte mit den Büchern und Kassetten von der Dörte III unter den Arm, als Kriminalrat Kohlschmidt in sein Zimmer kam und fragte, was mit der »Leichensache Wachsmuth« sei, mit dem Sohn des bekannten Arztes, der sich erhängt hatte? Die habe er an einen Kollegen abgegeben, sagte Lohmer. Er habe seit gestern abend einen anderen Fall übernommen.
»Deswegen frage ich auch, wenn Sie gestatten, Herr Kollege. Ich habe gerade Ihre Fernschreiben in alle Welt gelesen. Da Sie mir ja sonst nichts mitteilen – darf ich erfahren, ob das nicht ein etwas übertriebener Aufwand ist? Wie ich höre, gibt es bisher nichts außer ein paar Blutflecken auf einem Boot?«
Lohmer murmelte etwas von »äußerst merkwürdigen Umständen, die auf ein Verbrechen mit internationalem Hintergrund hindeuten«. Selbstverständlich werde er morgen ausführlich berichten, wenn er mehr wisse. Er verabschiedete sich eilig.
Auf der Heimfahrt fragte er sich, ob ihn dieser Fall auch so beschäftigen würde, wenn das menschenleere Boot nicht durch irgendeinen Zufall praktisch vor seiner Haustür gestrandet wäre? Oder durch eine Fügung? Es gab Fälle, da wollte Hauptkommissar Manfred Lohmer nicht an Zufälle glauben. Er hatte seinen BMW gerade in dem von Efeu überwachsenen Carport vor seinem Haus abgestellt, als seine Frau durch das Fenster seines Arbeitszimmers rief: »Komm schnell, da ist ein Amerikaner am Telefon, ich hab den Namen nicht verstanden!«
Am Apparat war Greenberg.
»Ich hab deine Anfrage nach Washington weitergegeben, Fred. Und ich habe auch schon Antwort bekommen, genauer gesagt: drei Antworten. Die vom Pentagon und vom FBI lauten: es gibt keinen William J. Berrigan. Und unser militärischer Geheimdienst rief eben extra aus Washington an, was schon mal verdammt ungewöhnlich ist und will alles über diesen nicht existierenden Mister Berrigan wissen. Ist doch irgendwie ganz logisch, nicht ...?«
Lohmer wehrte seinen kleinen Hund ab, der auf seinen Schoß springen wollte.
»Es scheint so, als ob Berrigan nicht der richtige Name von dem Mann auf dem Boot ist.«
»... aber da sich die Jungs von der DIA kurz vorm Wochenende so brennend für den Fall interessieren, muß mehr dahinterstecken als eine verdammte Vermißtensache«, sagte Bernie Greenberg. »Ich glaube, Manfred, du bist da an ein ziemlich heißes Ding geraten.«
»Du wolltest dich erkundigen, was es mit diesem Laboratorium auf sich hat, von dem diese Unterlagen auf dem Boot stammen?«
»Allright, das kommt noch dazu: soweit ich bis jetzt gehört habe, liegt das irgendwo in Kalifornien, da werden neue Atomwaffen erfunden – das ist ein modernes Los Alamos, falls dir das was sagt. Alles, was da passiert, ist natürlich strengstens geheim. Jedenfalls werden da von Wissenschaftlern an Computern irgendwelche Höllenmaschinen für den nächsten oder schon für den übernächsten Krieg ausgebrütet. Sogar für den Krieg im Weltraum.«
»Du meinst, die Sache könnte mit Spionage zu tun haben?«
»Ich sehe, du kannst mir folgen. Die Frage ist, ob der Mann aus dem Boot ein Spion oder ein Agent war oder ist? Falls du den Unterschied nicht kennst: ein Spion ist ein Böser, einer von der anderen Seite, ein Agent ist ein Guter, also einer von uns.«
»Danke für den Nachhilfeunterricht, darauf wäre ich nie gekommen.«
»Wenn der Mann auf deinem Boot aber einer von uns ist oder war – dann muß irgend etwas ziemlich schiefgelaufen sein, sonst wären die in Washington nicht so nervös.«
Greenberg fragte Lohmer nach allen Einzelheiten seiner bisherigen Ermittlungen, weil er so schnell wie möglich Washington informieren müsse. Erst nach zwanzig Minuten legte Lohmer den Hörer wieder auf.
Ingrid Lohmer hatte »Gegrilltes Kräuterhähnchen provenzalischer Art« gemacht, sein Lieblingsessen, eine Geste der Versöhnung nach dem Streit gestern. Nun waren die Kräuter auf der Hähnchenhaut schon fast schwarz gebrannt. Trotzdem duftete und schmeckte es köstlich. Lohmer machte eine Flasche Chardonay auf und erzählte, was er sonst selten tat, seiner Frau von seiner Arbeit, von dem Boot und von dem verschwundenen Mann.
»Ist Eva schon im Bett?« fragte er.
»Die hat schon vorher gegessen, weil du so spät gekommen bist. Jetzt hört sie vor dem Einschlafen noch die Kassette, die du ihr mitgebracht hast.«
»Ich habe ihr keine Kassette mitgebracht.«
»Aber sie hat eine Kinderkassette aus dieser Einkaufstüte da genommen ...«
Lohmer stand hastig auf und sagte, daß dies kein Geschenk, sondern ein sichergestelltes Beweisstück sei. Er ging zum Kinderzimmer und drückte vorsichtig die Türklinke herunter. Die Nachtlampe brannte. Eva hatte die Bettdecke bis über die Nasenspitze gezogen und die Augen fest zusammengekniffen. Sie stellte sich schlafend. Als er ihr einen Kuß auf die Stirn gab, schlang sie ihre kleinen Arme um seinen Hals und drückte ihn.
»Ich hab dich reingelegt, ich bin noch wach, Papi!«
»Du hast mir eine Kassette gemopst.«
»Wieso? War Regina Regenbogen nicht für mich?«
»Nein, diesmal nicht. Wo hast du sie denn?«
»Im Kassettenrecorder. Du kannst sie wiederhaben, die ist sowieso nicht ganz richtig. Da reden ein Mann und eine Frau immer dazwischen.«
»Was?«
Lohmer ging schnell zum Regal, in dem der Kassettenrecorder zwischen Dutzenden von Stofftieren stand, spulte die eingelegte Kassette zurück und drückte auf »Play«.
Musik ertönte. Klarinetten- und Gitarrenklänge. Ein Kinderchor sang. Eine Frauenstimme sagte im Märchentantenton: »Das Regenbogenland war grau und düster, bevor Regina Regenbogen kam ...« Und erzählte vor den Hintergrundgeräuschen eines Gewitters von den »bösen Monstern« und »guten Sternwichten« im bunten »Regenbogenland«, dann wurde das Band mit lautem Knacken gestoppt und wieder in Gang gesetzt. Ein Junge sagte: »Deine Geschichte vom Sternenkrieg ist viel spannender, erzähl mir noch eine!«
Dann war eine Männerstimme zu hören. Der Mann war offenbar etwas angetrunken. Seine Stimme war schleppend. Er hatte einen leichten, aber deutlich hörbaren amerikanischen Akzent. Er bemühte sich angestrengt um einen tiefen Tonfall. »Okay. Dann erzähle ich dir die Story, wie die guten Sternenkrieger mit ihren Atomraketen und mit tödlichen Strahlen, die viele tausend Mal heißer sind als die Strahlen der Sonne, die gute alte Erde verteidigen ...«
»Oh, prima«, sagte die Jungenstimme.
»Es war einmal ein Präsident«, fuhr die Männerstimme fort, »der herrschte über das reichste und mächtigste Land der Welt, und der hatte trotzdem so viel Angst, daß er immer neue, immer gewaltigere, immer schrecklichere Waffen zum Schutz seines Landes erfinden ließ, obwohl seine Feinde schon lange keine Lust mehr hatten, einen Krieg zu führen ...«
Die seltsame Geschichte handelte von Raketen und von Todesstrahlen und von Killersatelliten zwischen Sonne, Mond und Sternen. Der Junge verstand nicht, fragte dazwischen, wurde müde und schlief offenbar ein. Der Mann sprach weiter, oft Englisch oder Amerikanisch. Kommissar Lohmer hörte unverständliche Kürzel und Bezeichnungen, ein Ortsname fiel, der wie Livermoor klang. Dann rief im Hintergrund eine Frauenstimme: »Was erzählst du dem Kind denn so lange? Komm endlich!«
Der Junge protestierte noch mit müder Stimme. Der Mann sagte etwas Unverständliches. Ein Stuhl wurde geräuschvoll weggeschoben. Schritte entfernten sich. Es knackte auf dem Band. Danach waren wieder die Musik und der Kinderchor und die Stimmen von Regina Regenbogen und ihren Freunden zu hören.
Lohmer nahm das Band aus dem Kassettenrecorder, gab seiner Tochter einen Gute-Nacht-Kuß und spulte es in der Stereoanlage im Wohnzimmer ein halbes dutzendmal ab.
Seltsame Geschichte, dachte er. Die Gesprächsfetzen sind in derselben Situation aufgenommen worden, in der er sie gerade gehört hatte – vor dem Einschlafen eines Kindes. Ob das der Amerikaner vom Boot war? Vor allem: Die Frauenstimme kam ihm immer bekannter vor, je öfter er den einen Satz hörte, den sie gesprochen hatte. Obwohl sie wie erkältet klang – oder gerade deswegen? Auch seine Frau Ingrid meinte, sie habe die Stimme schon irgendwo gehört.
Kurz nach zehn ging das Telefon. Am Apparat war der Bootsverleiher Paulsen aus Otterndorf.
»Herr Kommissar«, sagt er, »ich seh gerade die Frau von dem Amerikaner, die mit den roten Haaren von der Dörte III.«
»Wo sind Sie?« fragte Lohmer.
»Zu Hause. Bei mir zu Hause.«
»Und die Frau ist bei Ihnen?«
»Nee, Herr Kommissar«, sagte Paulsen und lachte asthmatisch. »Ich seh fern, und die Frau is gerade im Fernsehen ...«
Lohmer schaltete sofort das Fernsehgerät ein. Wie an jedem Freitag abend lief in dem Privatsender RTA, Radio Tele Aktuell, die Sendung »Thema Nr. 1 – Die Talkshow zum brisantesten Thema der Woche«. Die Sendung war in letzter Zeit selber in die Schlagzeilen der Programmzeitschriften und Boulevardblätter gekommen, weil die ebenso attraktive wie politisch engagierte und umstrittene Moderatorin Ines van Holten nach einem Krach mit ihrem konservativen Programmdirektor vom öffentlichrechtlichen Programm zu RTA gewechselt war. »Die rote Ines«, wie sie wegen ihrer Haarfarbe und ihrer politischen Haltung genannt wurde, sei dem Lockruf des großen Geldes gefolgt. Sie habe die Moderation der »Thema-Nr.-1«-Sendung für eine halbe Million im Jahr übernommen. Sie ließ sich nicht von Politikern und anderen Prominenten mit Allgemeinplätzen abwimmeln, stellte aggressive Fragen bis in die Privatsphäre, war schlagfertig-bissig und witzig-charmant. Die bis dahin eher langatmige Sendung hatte innerhalb weniger Wochen ihre Einschaltquote fast verdoppelt. Das Thema diesmal: »Explodiert die DDR? Flüchtlingswelle und Proteste vor dem 40. Jahrestag des zweiten deutschen Staates?«
Ines van Holten stellte gerade ihre Gäste nacheinander vor. Die Moderatorin hatte ihr Haar zu einem langen, wippenden Zopf flechten lassen. Die Maskenbildnerin hatte ihre Wangenknochen mit Rouge betont. Die roten Lippen glänzten feucht im Scheinwerferlicht. Straßsteinchen blitzten auf ihrer pastellgrünen Bluse. Ihr hautenger Rock rutschte bis über die Knie, als sie ihre langen Beine übereinanderschlug. Zur Einleitung der Gespräche verlas sie ein paar aktuelle Nachrichten über die Unruhen in Ostberlin und Leipzig, über den Knüppeleinsatz von Stasileuten und Volkspolizisten vor Kirchentüren. Ihre Stimme klang selbstsicher, metallisch, ein wenig erkältet.
Manfred Lohmer hatte keinen Zweifel: es war die Stimme vom Tonband. Seine Frau erzählte ihm, was sie vor ein paar Tagen in einem Boulevardblatt gelesen hatte: Ines van Holten habe sich von ihrem Mann, einem Fernsehproduzenten, getrennt. Sie erziehe ihren kleinen Sohn nun alleine und habe sich nach dem Vertragsabschluß bei RTA eine Luxuswohnung in Hamburg gekauft.
Lohmer rief den Sender RTA an und bekam einen Redakteur der Nachrichtenredaktion an den Hörer. Der sagte ihm, die gerade laufende Talkshow sei eine Live-Sendung und werde voraussichtlich bis weit nach Mitternacht dauern.
Lohmer gab seiner Frau einen flüchtigen Kuß und fuhr nach Hamburg. Er nahm den Weg durch das Moor und durch das Obstanbaugebiet im Alten Land. Die Straßen waren leer, der Asphalt glänzte feucht und war stellenweise von Laub bedeckt, so daß die Hinterräder des BMW in manchen Kurven gefährlich durchdrehten. Lohmer schaffte die neunzig Kilometer in knapp einer Stunde.
Im Intercontinental-Hotel sagte der Portier, er könne ihn nicht in den abgetrennten Teil der Lobby lassen, in der die Talkshow stattfand. Ein paar Männer mit ausgebeulten Jacketts standen unauffällig herum, die Leibwächter des Außenministers, der für seinen Diskussionsbeitrag gerade Beifall bekam. Diesmal hatte Lohmer seinen grünen Dienstausweis nicht vergessen. Der Portier ließ ihn zögernd durch, als er sagte, er sei nach der Sendung dienstlich mit Frau van Holten verabredet.
Er stellte sich hinter eine raumhohe Palme, die zur Dekoration gehörte, und beobachtete die Kabelschlepper und die Kameraleute, die ihre Kameras auf Stativen mit breiten Gummirändern über Bretterböden leise hin- und herfuhren und die Teilnehmer der Talkshow und die Zuhörer aus wechselnden Perspektiven aufnahmen. Eine Maskenbildnerin tupfte der Moderatorin Schweiß von der Stirn und puderte ihr Make up über, als sie gerade nicht im Bild war. Dann fuhr eine Kamera nah an sie heran. Ihr Gesicht erschien in Großaufnahme auf einem der am Boden stehenden Monitore. »Die Frage ›Explodiert die DDR?‹ liebe Zuschauer, wird noch lange das Thema Nr. 1 bleiben. Wir werden weiterhin darüber berichten. Ich danke meinen Gästen für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und Ihnen für Ihr Interesse. Herzlich – ihre Ines van Holten.« Das Publikum applaudierte auf das Zeichen eines Mannes, der seine Hände hochhob und vorklatschte.
Es war schwülwarm und stickig. Obwohl er im Halbdunkel hinter den Scheinwerfern stand, lief Lohmer der Schweiß in den Kragen seines blaugestreiften Sporthemdes. Er lockerte seine Lederkrawatte und beobachtete, wie Ines van Holten Autogramme schrieb und die Glückwünsche eines offenbar wichtigen Mannes zu der »aufregenden Sendung« entgegennahm. Dann wandte sie sich um und ging schnell in Richtung der Fahrstühle. Sie kam direkt an ihm vorüber. Sie war kleiner, als er gedacht hatte. Im Gehen löste sie das Band ihres Pferdeschwanzes. Kupferrotes Haar fiel bis auf ihre Hüften. Lohmer roch ein herbes, erotisierendes Parfüm. Er folgte ihr in den Fahrstuhl. Sie schien ein wenig irritiert. Als sich die Tür geschlossen hatte, holte sie eine Zigarettenschachtel aus ihrem Täschchen. Lord extra. Die Marke vom Boot. Sie zuckte leicht, als Lohmer ihr hastig Feuer gab und fragte, ob er sie sprechen könne.
Offenbar glaubte sie, er sei ein aufdringlicher Verehrer oder – schlimmer noch – ein prominentensüchtiger Psychopath. Sie habe jetzt leider keine Zeit, sagte sie professionell kühl. Der Fahrstuhl hielt im fünften Stock. Lohmer fingerte seinen grünen Dienstausweis aus der Tasche seiner Wildlederjacke.
»Tut mir leid, aber es läßt sich leider nicht vermeiden.«
Sie erschrak sichtbar, ging aus dem Fahrstuhl bis zu einer Hotelzimmertür, überlegte kurz, schloß auf und bat ihn herein. Das Zimmer diente als Garderobe, ein mit nackten Glühbirnen beleuchteter Schminktisch war aufgebaut, auf dem Doppelbett lagen ein Köfferchen, ein tiefausgeschnittenes Kleid und Kopien von Zeitungsausschnitten über die Gäste ihrer Talkshow. Ines van Holten öffnete die Minibar und holte ein Fläschchen »Fernet Branca« heraus, kippte den Inhalt herunter und schüttelte sich.
»Setzen Sie sich irgendwohin«, sagte sie kurz angebunden, ging ins Badezimmer und ließ die Tür offen. Offenbar wusch sie sich Hände und Gesicht. »Also, schießen Sie los«, sagte sie durch die Tür. »Was kann ich für Sie tun?«
Lohmer ging im Zimmer hin und her. Er hätte ihr bei der Befragung gern ins Gesicht gesehen.
»Sie haben doch einen kleinen Sohn ...«, begann er und bereute im selben Moment diesen Anfang.
Ines van Holten kam mit verwischtem Make up und halb ausgezogener Bluse aus dem Bad und sah ihn ängstlich an.
»Um Gottes Willen! Ist etwas mit Sebastian passiert?!«
»Nein, nein, wirklich nicht, es ist alles in Ordnung mit Ihrem Kind.«
Lohmer stammelte. »Ich wollte nur fragen, ob es möglich ist, daß ich die Stimme Ihres Sohnes und Ihre Stimme auf einer Tonbandkassette gehört habe.«
Lohmer kam sich idiotisch vor, wie ein Schauspieler, der seinen Auftritt total verpatzt. Die Moderatorin verschwand wieder im Bad, sagte eine Zeitlang nichts und kam dann mit ungeschminktem Gesicht ins Zimmer zurück. Lohmer fand, daß sie so viel aparter aussah.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich deutlich ausdrücken würden. Was für ein Tonband? Was für Stimmen? Herr ... wie war doch Ihr Name?« sagte sie in der metallisch-schneidenden Tonlage, mit der sie vor laufenden Kameras schwadronierende Politiker zum Thema zurückbrachte.
Lohmer fühlte, wie er rot wurde und hoffte, daß sie es nicht bemerken würde. »Kennen Sie einen Amerikaner namens William J. Berrigan?« fragte er unvermittelt.
»Nein«, sagte sie ebenso scharf wie zuvor und forderte ihn auf, sich umzudrehen, sie sei noch verabredet und wolle sich, wie er vielleicht bemerkt habe, noch umziehen. Lohmer blickte durch die Gardine auf die Alster hinunter. Auf der anderen Seite hob sich das hell angestrahlte »Hotel Atlantic« von der dunklen Umgebung ab.
»Sie haben auch nicht mit Mister Berrigan vor einigen Tagen in Otterndorf eine Motorjacht gechartert und sind in die Oste gefahren?«
Lohmer hörte hinter sich das Rascheln von Textilien. Sie schleuderte ihre hochhackigen Schuhe von den Füßen.
»Also wir wollen hier doch nicht länger in Rätseln reden, ich bin eine einigermaßen erwachsene Frau und habe nichts zu verbergen – jedenfalls nicht vor der Kriminalpolizei«, sagte sie. »Erstens: Ich kenne, wie gesagt, keinen Mister Berrigan. Zweitens: Ich habe zusammen mit einem amerikanischen Freund eine Bootstour auf der Oste gemacht ... und ich werde diese Bootstour morgen fortsetzen. Ich habe sie wegen der Sendung heute für einen Tag unterbrochen.«
»Darf ich nach dem richtigen Namen Ihres amerikanischen Freundes fragen?«
»Warum? Was heißt ›richtiger‹ Name? Was ist passiert?«
Zum erstenmal hörte Lohmer Unsicherheit in ihrer Stimme. Er hätte gern ihr Gesicht gesehen. »Ihr Freund – wie immer er heißt – ist ziemlich spurlos verschwunden«, sagte Lohmer. »Wenn man von ein paar Blutspuren absieht, die er hinterlassen hat.«
Er drehte sich abrupt um. Er sah gerade noch, wie ihre Brüste in eine Bluse aus lachsfarbener Seide hüpften. Sie knöpfte sie hastig zu.
»Was heißt das: er ist verschwunden?«
Lohmer erzählte ihr kurz und schonungslos von dem herrenlosen Boot, von den Blutspuren an Bord, von der Tonbandkassette und daß der Bootsvermieter sie gesehen und erkannt hätte. Er sagte auch, daß es noch keinerlei konkrete Anhaltspunkte gebe, was geschehen sei. Es könne alles ganz harmlos sein, es könne aber auch ein Verbrechen stattgefunden haben.
»Können Sie sich vorstellen, daß er ... daß er sich etwas angetan hat? Hat er unter Depressionen gelitten ... hat er möglicherweise Liebeskummer gehabt?« Das Lächeln blieb in seinen Mundwinkeln hängen.
»Ich nehme an, daß indiskrete Fragen zu Ihrem Beruf gehören.«
»Zu Ihrem wohl auch, ich nehme deshalb an, Sie haben Verständnis dafür.«
»Also Peter war ... er ist in mich verliebt, aber er mußte deswegen keinen Kummer haben. Ja, daß er ein paar berufliche Probleme hatte, das ist schon möglich. Er war in der vorigen Woche für seine Firma in Bonn zu irgendeiner Tagung. Als er zurückkam, hat er mal was angedeutet. Es sei Wahnsinn, was die da machen oder so ... Aber Depressionen? Oder gar Selbstmordgedanken? Nein.«
»Peter heißt er also, nicht William, und vermutlich auch nicht Berrigan, wie in dem Paß stand, den er beim Bootsverleiher hinterlegt hat.«
»Er hat einen falschen Paß hinterlegt?« Einen Moment schien sie verwirrt. Lohmer nutzte die Gelegenheit.
»Darf ich jetzt vielleicht erfahren, wie er sich Ihnen gegenüber genannt hat?«
»Ich verbitte mir diesen süffisanten Ton, Herr Hauptkommissar!« Ihre Augen wurden eng. Eine helle Röte stieg in ihr Gesicht, an die Partien über den Wangenknochen, die vorher von der Maskenbildnerin geschminkt worden waren. Lohmer fand, daß ihr die Zornesröte noch besser stand.
»Ich kenne ihn seit fast zwanzig Jahren. Sein Name war und ist Peter Rosenblatt. Er kommt aus Kalifornien. Er ist Physiker, wissenschaftlicher Computerspezialist oder so.«
»Genaueres wissen Sie nicht über seine Tätigkeit?«
»Soweit ich das verstanden habe, befaßt er sich mit der Entwicklung von neuartigen medizinischen Operationsgeräten. Ich glaube, es hat etwas mit winzigen Laserstrahlen für die Gehirnchirurgie zu tun. Ich habe natürlich keine Ahnung von diesen Dingen.«
Sie zog sich vor dem hohen Schrankspiegel weiter an, wechselte sogar den Rock, als wäre er gar nicht im Raum. Lohmer glaubte erst, sie sei völlig nackt, bis er sah, daß sie einen fleischfarbenen, bestickten Slip trug.
»Vielleicht ist er von Bord gegangen, um irgend etwas zu erledigen, und das Boot ist ganz einfach abgetrieben.«
»Schon möglich«, sagte Lohmer, »aber er ist seit mehr als 24 Stunden verschwunden.«
»Was sind das für Blutspuren, von denen Sie gesprochen haben?«
»Das wissen wir eben noch nicht genau ...«
Mehr zu sich selbst als zu ihm erzählte sie von ihrem amerikanischen Freund.
Sie habe ihn tatsächlich vor 18, 19 Jahren kennengelernt. Er sei damals als amerikanischer Austauschschüler ein Jahr lang in Hamburg gewesen. Sie hätten sich ineinander verliebt, dann sei er zurück in die USA gegangen, sie hätten ein paar Briefe gewechselt, und dann lange nichts mehr voneinander gehört. Bis vor zwei Wochen. Ein alter Freund, der Mann einer Freundin genauer gesagt, habe sie zu einer Party eingeladen und ihr vorher einen Überraschungsgast angekündigt. Sie habe wirklich keinerlei Ahnung gehabt, wer das sein könnte. Es war Peter Rosenblatt. Er hatte dienstlich in Bonn zu tun und sich bei diesem Freund, einem Architekten aus der Nähe von Bremen, gemeldet. Auch Rosenblatt habe nichts von ihrem Kommen gewußt. Die Überraschung sei natürlich gelungen! Sie hätten viel miteinander geredet, geflirtet und sich wieder ineinander verliebt. Sie könne doch mit seiner Diskretion rechnen? Sie lebe nämlich in einer ziemlich unangenehmen Scheidung, und es wäre nicht gut, wenn ihr Mann von ihrem Verhältnis mit Rosenblatt erfahren würde.
Lohmer versprach es.
»Die Bootstour ist übrigens meine Idee gewesen«, sagte sie. »Wir wollten uns eine schöne ruhige Woche machen, bevor er wieder zurück nach Kalifornien mußte. Ich kenne die Oste, es ist ein schöner, sauberer Fluß.«
»Ich weiß«, sagte Lohmer, »ich wohne da hinterm Deich.«
»Es war von vornherein eingeplant, daß ich für einen Tag Peter allein lasse. Erst wollte er mitkommen, aber dann hat er es sich anders überlegt und ist an Bord geblieben. Wir haben verabredet, daß ich morgen im Hafen von Neuhaus wieder zusteige.«
Ob sich in den letzten Tagen einer von ihnen an Bord verletzt habe, oder ob sich Rosenblatt beim Rasieren geschnitten und stark geblutet habe? Lohmer mußte an die Bemerkung von Broders denken.
Nein, so ein Unsinn. Er habe sich mit einem Batteriegerät rasiert. Jetzt erst schien ihr zum erstenmal die Bedeutung des Gespräches klar zu werden. Sie blickte ihn starr an, und es schien so, als nehme sie ihn erst jetzt richtig wahr.
»Sie glauben doch nicht, daß ... daß ihm was passiert ist ... daß er ermordet worden ist ...«
Er antwortete nicht.
Er wollte ihr gerade von dem gekritzelten Abschiedssatz erzählen, den Feldhusen zusammengebastelt hatte, als es heftig an die Zimmertür klopfte. Sie öffnete und strich sich dabei über den Rock. Der Mann von vorhin stand in der Tür, der Regisseur oder Aufnahmeleiter.
»Die Leute unten warten alle auf dich, Schätzchen«, sagte er, »da sind auch noch ein paar Fotografen und Reporter ...« Dann sah er Lohmer, musterte ihn sekundenlang verblüfft und sagte ein wenig zu vertraulich: »Hoffentlich störe ich nicht.«
»Du bist ein Quatschkopf«, sagte Ines van Holten, stellte Lohmer mit seinem Dienstrang vor und sagte, der Herr Kriminalhauptkommissar habe ihr ein paar Fragen stellen müssen, weil möglicherweise etwas mit einem Bekannten passiert sei. Lohmer fragte nur noch, ob sie morgen oder übermorgen zu einer ausführlichen Anhörung zur Verfügung stehen könne. Sie nickte. »Wie gesagt, ich wollte morgen sowieso wieder zum Boot fahren. Ich habe ein paar Tage Urlaub, ich möchte natürlich sofort Bescheid wissen, wenn Sie etwas herausfinden.«
Sie schrieb ihm ihre Privatnummer auf den Notizzettel des Hotels neben dem Telefon. Es war ein Uhr nachts.
Von einem Apparat in der Hotelhalle aus ließ sich Lohmer über die Zentrale mit Bernhard Greenberg, dem US-Army-Detektiv in Bremerhaven, verbinden. Greenberg gähnte zur Begrüßung. Lohmer sagte ihm, daß der verschwundene William J. Berrigan in Wirklichkeit Peter Rosenblatt heiße. Greenberg gähnte noch einmal.
Er sei gerade eingeschlafen, sagte er, denn »vor einer halben Stunde erst hat mich jemand von der US-Botschaft in Bonn angerufen. Der hat mir dasselbe gesagt. Und daß das eine Art Staatsgeheimnis ist, hat er auch gesagt – und nun weiß sogar schon die Kripo von Cuxhaven, wie der Kerl heißt.«
Lohmer schlief unruhig in dieser Nacht. Und als er am Samstag morgen von einem klappernden, auf- und abschwellenden Lärm geweckt wurde, dauerte es eine Weile, bis ihm bewußt wurde, daß das Geräusch, das näher kam und sich entfernte und wieder näher kam, nicht mehr von der Windmühle aus seinem Traum verursacht wurde, sondern daß in der Nähe ein Hubschrauber herumflog. Er stand mit unsicheren Bewegungen auf, deutete ein paar Kniebeugen an und ging nach vorne ins Wohnzimmer. Durch die fast kahl gewordenen Äste der Kastanie vor dem Haus sah er einen Helikopter mit grau-grünem Tarnanstrich. Als er endlich seine Brille auf dem Eßtisch fand und aufsetzte, erkannte er die Stars-and-Stripes und die Aufschrift US-Army. Die Maschine flog tief über den Fluß, schwenkte den Schwanz mit dem kleinen Steuerpropeller am Ende unruhig hin und her wie eine nervöse Libelle.
Der Regen hatte sich über Nacht verzogen. Eine fahle Frühsonne drang durch dünne, herbstliche Wolken und blendete ihn. Der Hubschrauber entfernte sich mit nach unten geneigter Nase und verschwand hinter dem Deich. Lohmers Blick fiel auf die antike Standuhr, ein im voraus geliefertes Erbstück seiner Schwiegereltern. Es war nach acht. Er wollte sich gerade noch einmal hinlegen, als das Telefon klingelte. Kohlschmidt war am Apparat. »Kommen Sie sofort in die Dienststelle. Es eilt«, sagte er aufgeregt. Lohmer zog sich hastig an.
Auf der eingezeichneten Hubschrauberlandefläche hinter dem Parkplatz des Polizeidienstgebäudes in Cuxhaven stand ein graugrün-gescheckter Militärhelikopter, als Lohmer rückwärts auf seinen reservierten Platz fuhr. Er hatte keinen Zweifel, daß es dieselbe Maschine war, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.
Kohlschmidt hatte auf ihn gewartet. Er stand auf dem Flur, als Lohmer die Treppe heraufeilte und dabei zwei Stufen auf einmal nahm. »Kommen Sie in mein Büro, Kollege Lohmer!« rief er und hängte mit Verzögerung ein scharfes »Bitte!« an.
Lohmer murmelte mürrisch, er sei erst nachts gegen drei Uhr von einem dienstlichen Einsatz aus Hamburg zurückgekommen. Er warf seine Aktenmappe auf den Schreibtisch und seine Wildlederjacke an den Kleiderhaken, krempelte im Gehen die Hemdsärmel hoch und ging zum Kaffeeautomaten.
»Kollege Lohmer ...« Kohlschmidts Stimme klang nun schrill, »Sie sollen doch sofort ...«
»Ich komm ja schon«, sagte Lohmer, wandte nicht einmal den Kopf und wartete, bis der dünne Kaffee in den Pappbecher gelaufen war. Er trank hastig einen Schluck. Er hatte nicht gefrühstückt. Mit dem schwappenden heißen Getränk in der Hand betrat er Kohlschmidts Zimmer. Zu seinem Erstaunen saßen drei Männer darin, zwei in dunkelblauen Anzügen und einer in graugrüner US-Uniform, die über den breiten Schultern zum Zerreißen gespannt war. Kohlschmidt tänzelte unruhig im Zimmer herum und zog dabei mit seiner linken Hand nacheinander an den Fingern seiner rechten, bis es vernehmlich knackte. Eine Angewohnheit, die bei Lohmer eine Gänsehaut erzeugte und die er ebenso haßte wie das Geräusch, wenn ein Löffel über einen Aluminiumkochtopf schrammt. Auch die drei Besucher zuckten jedesmal ein wenig zusammen, was Kohlschmidt nicht zu bemerken schien.
»Meine Herren, darf ich Ihnen meinen Mitarbeiter, Hauptkommissar Lohmer, vorstellen, der diesen Vorgang bisher bearbeitet hat.«
»Wir kennen uns bereits seit einiger Zeit«, sagte der Besucher in Uniform und drehte sich um. Lohmer hatte Bernhard Greenberg auf den ersten Blick nicht erkannt, denn der US-Army-Detektiv hatte sein sonst normal langes, gescheiteltes Haar nach GI-Art streichholzkurz schneiden lassen. Greenberg erhob sich steif. Sein Grinsen war nicht, wie sonst, breit und herzlich, sondern ungewohnt verlegen, und er bemühte sich um ein formelles Amtsdeutsch.
»Darf ich dir zwei Herren vorstellen, die mich heute morgen auch für mich überraschend in einer Angelegenheit von großer Wichtigkeit aufgesucht haben ...«
Greenberg deutete auf einen Mann mittleren Alters mit feucht nach hinten gekämmtem Haar und rundlichem, pockennarbigem Gesicht, der ihn mit halb zusammengekniffenem linken Auge kritisch betrachtete. Er sah mexikanisch aus, fand Lohmer. »Das ist Dr. Ricardo Evans von unserem Generalkonsulat in Hamburg«, sagte Greenberg. »Und das ist Mister Patrick O’Hara vom ... von der Central Intelligence Agency.« Der graugesichtige CIA-Mann lächelte müde, schlug die Beine übereinander und steckte beide Hände tief in seine Hosentaschen, was beim Sitzen einige Schwierigkeiten machte. »Die Herren interessieren sich für den Fall ihres vermißten Landsmannes, Sie wissen schon – der von dem Boot mit den Blutspuren«, sagte Kohlschmidt überflüssigerweise, während Lohmer sich halb auf eine Fensterbank setzte und seinen Kaffee schlürfte.
»Sie sind mit dem Hubschrauber da unten angereist?«
»Wir sind auf dem Herflug auch über den Fluß und über dein Haus gekommen«, sagte Greenberg, »die Herren wollten schon einmal aus der Luft die Gegend sehen, in der dieser Mister Rosen ..., dieser angebliche Mister Berrigan aus Kalifornien verschwunden ist.«
»Unsere amerikanischen Verbündeten wollen in dieser Angelegenheit mit uns zusammenarbeiten«, sagte Kohlschmidt bedeutungsvoll. »Würden Sie freundlicherweise in geraffter Form Ihre bisherigen Ermittlungsergebnisse referieren.«
Lohmer zögerte.
»Die rechtlichen Voraussetzungen und die Rahmenbedingungen sind von mir vorbesprochen und geklärt«, sagte Kohlschmidt. »Vizepräsident Herfeld vom BKA hat uns vorhin telefonisch nachdrücklich um jedwede Kooperation ersucht.«
Lohmer begann zögernd zu reden. Sein Bericht und seine Antworten auf die präzisen Fragen der Amerikaner dauerten schließlich fast eine Stunde. Er verlas die Asservatenliste, holte Bücher, Broschüren und die Tonbandkassette aus seinem Zimmer und legte sie auf den Tisch. Als er von seinem Gespräch mit der Fernsehjournalistin Ines van Holten erzählte, richtete sich der CIA-Mann kerzengerade auf und sagte: »Auf gar keinen Fall darf über diese Sache irgend etwas im Fernsehen oder in der Presse erscheinen.« Lohmer erklärte, warum Frau van Holten nicht das geringste Interesse an einer Veröffentlichung ihrer Beziehung zu Rosen ... zu diesem angeblichen Mister Berrigan habe.
»Spielen Sie uns doch bitte mal dieses ominöse Tonband vor«, sagte der CIA-Mann. Lohmer telefonierte nach Feldhusen. Der brachte einen Recorder. Die drei Amerikaner hörten erst verblüfft, dann immer angespannter zu. Als sich das Band abschaltete, waren eine Zeitlang nur die Verkehrsgeräusche durch das Fenster zu hören, das Lohmer geöffnet hatte.
»Ist der Mann auf dem Band verrückt oder betrunken?« fragte Kohlschmidt mit ungewohnter Direktheit.
»Soviel ich weiß, Sir«, sagte Mister Evans vom US-Generalkonsulat gespreizt, »soviel ich weiß, ist dieser Mann ein Genie.«
O’Hara von der CIA schob seinen Stuhl geräuschvoll mit den Kniekehlen über den Linoleumboden, erhob sich, ging zwei, drei Schritte auf Kohlschmidts Schreibtisch zu und nahm – wie sich Lohmer einprägte – mit provozierender Selbstverständlichkeit das kleine Tonband aus dem Kassettenrecorder und sagte zu ihm und zu Kohlschmidt gewandt: »Meine Herren, dieses Tonband und die anderen von Ihnen sichergestellten Gegenstände unseres vermißten Staatsbürgers sind hiermit beschlagnahmt! Der Fall wird ab sofort von uns und unseren Diensten übernommen ...« Und als er Lohmers erst verblüfften, dann wütenden Gesichtsausdruck sah, fügte er noch hinzu: »In diesem Fall sind die Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten berührt ...!«
Der Mann vom US-Generalkonsulat, offenbar ein Jurist, erhob sich ebenfalls, blieb aber stehen und unterstrich seine Worte mit übertrieben großen Gesten. Er nannte ein halbes Dutzend Vereinbarungen, Bestimmungen, Paragraphen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland, erwähnte auch das Besatzungsrecht der US-Truppen. Er sagte, amerikanische Institutionen würden diesen Fall übernehmen und damit die deutsche Polizei entlasten, und zu Lohmer gewandt, es sei eben genauso, als ob US-Soldaten in Straftaten verwickelt seien, diese Fälle würden ja auch von der Military Police der US Army in der Bundesrepublik übernommen, in Süddeutschland sei das ganz alltäglich.
»Wir möchten Sie also dringend auffordern, ab sofort keinerlei eigene Ermittlungen mehr in dieser Sache anzustellen, uns jedoch in jeder Hinsicht zu unterstützen, wenn wir Sie darum bitten.« Der Mann vom Generalkonsulat setzte sich wieder, als habe er ein Plädoyer beendet.
»Selbstverständlich, Herr Doktor ... Herr Doktor Evans.«
Kohlschmidt blickte auf die Visitenkarte in seinen Händen und nickte beflissen. Lohmer merkte, wie Zorn in ihm aufstieg. Es war einer der Momente, in denen er seinen Vorgesetzten verachtete – wegen dessen kriecherischer Haltung gegenüber jeder Art von echter oder vermeintlicher Autorität. Wütend wollte er etwas Abfälliges, möglichst etwas Ehrenrühriges sagen, warf dann statt dessen den noch halbvollen Kaffeebecher zwei Meter weit in einen neben Kohlschmidts Schreibtisch stehenden Papierkorb. Ein paar braune Spritzer trafen noch Kohlschmidts Hosenbeine. Der zuckte zusammen und wurde rot, als habe er eine Ohrfeige erhalten. Lohmer verließ grußlos das Zimmer. Als er über den Flur ging, hörte er hinter sich die Stimme seines Vorgesetzten: »... unmögliche Benehmen meines Mitarbeiters ... entschuldige ich mich.«
Jemand hatte die Cuxhavener Nachrichten auf Lohmers Schreibtisch gelegt. »Oppositionsgruppen in der DDR fordern freie Wahlen«, lautete die Schlagzeile. Auf der ersten Lokalseite unten rechts stand ein Bericht mit einem Foto der Dörte III und der Zeichnung des angeblichen William J. Berrigan. Die Überschrift lautete: »Geheimnisvoller Amerikaner verschwunden – Herrenlose Jacht trieb auf der Oste«. Lohmer begann unkonzentriert zu lesen. Es klopfte. Bernhard Greenberg steckte seinen massigen Kopf und die breiten Schultern mit der Uniformjacke durch die Tür. »Kann ich trotzdem reinkommen ...?«
Lohmer reagierte nicht. Greenberg warf seine Mütze auf einen Garderobenhaken, zog einen Stuhl heran und setzte sich. Er bot Lohmer eine Chesterfield an. Der lehnte mürrisch ab. Greenberg erzählte, als wolle er sich entschuldigen: Zu seiner Überraschung seien heute morgen »die beiden Leute da drüben« mit dem Hubschrauber in Bremerhaven eingeschwebt. »Im Auftrag von Washington, haben sie gesagt. Der militärische Geheimdienst und die CIA sind äußerst beunruhigt.« Während sie hier säßen, seien bereits Hubschrauber und ein paar Dutzend Taucher von der Army in Bremerhaven in Anmarsch. Sie sollten den Fluß absuchen, nach diesem verdammten Rosenblatt ...
»Falls die jetzt schon eine Leiche suchen, ist das totaler Blödsinn«, sagte Lohmer.
»Warum?«
»Weil die jetzt unten auf dem Grund liegen würde. Eine Leiche schwemmt erst am dritten Tag wieder auf, wenn sich bestimmte Fäulnisgase gebildet haben. So lange muß man eben warten können.«
»Aha«, sagte Greenberg und rieb sich die Hände, als sei ihm kalt. »Ich wäre dir doch sehr dankbar, wenn du in dieser Sache mit mir, mit uns, zusammenarbeiten würdest. Wir brauchen natürlich einen Mann mit deiner Erfahrung und deinen Ortskenntnissen.« Lohmer schwieg.
»Mir haben die auch nicht gesagt, was es mit dem Rosenblatt eigentlich auf sich hat, fuhr Greenberg fort. Bisher jedenfalls nicht. So ist das nun mal, wenn es um Staatsgeheimnisse geht, halten sie kleine Leute wie uns so lange wie möglich raus ...«
Lohmer sagte noch immer nichts.
»Bist du sauer?«
»Stinksauer.«
»Warum?«
»Warum? Ich bin sauer auf mich und auf diesen Arschkriecher, der mein Chef ist. Ich komme mir wie ein dummer Schuljunge vor! Wie ein Idiot.«
Und als Greenberg nicht verstand, was er meinte, erklärte Lohmer, daß er soeben eine Lektion erhalten habe: er sei zwar erst nach Kriegsende geboren, aber in seinem eigenen Lande herrsche noch immer Besatzungsrecht, man solle sich da nichts vormachen, das sei in der Bundesrepublik keinen Deut besser als in der von Sowjettruppen besetzten DDR.
»Wir sind kein souveräner Rechtsstaat, sondern eine amerikanische Kolonie! Da habe ich einen Fall direkt vor meiner eigenen Haustür, und da kommt ein gewisser Bernie Greenberg, aus Michigan oder Iowa oder wo du herstammst, mit zwei merkwürdigen Landsleuten und nimmt mir den Fall weg! Einfach so ... als sei das die selbstverständlichste Sache der westlichen Welt ...!« Lohmer redete sich in Rage. »Eure Politiker und eure Propagandaleute wollen uns seit Kriegsende einreden, wir seien eure demokratischen Partner, eure Freunde – in Wahrheit sind wir eure nützlichen Idioten in der NATO, euer Abladeplatz für Raketen und Atomsprengköpfe und diesen ganzen Scheiß und der Absatzmarkt für Coca Cola und Hamburger ...«
Greenberg sah seinen deutschen Kollegen mit halboffenem Mund an. Eine Chesterfield glimmte zwischen seinen Lippen. Schließlich nahm er die Zigarette heraus und schnippte die Asche auf den Linoleumboden.
»Wenn ich nicht wüßte, daß du sonst ein prima Kerl bist, würde ich sagen: Du redest wie ein verdammter Kommunist!«
»Na und ...? Vielleicht haben die ja recht! Wenigstens in dieser Hinsicht!«
Lohmer schlug mit der flachen Hand auf die Zeitung. Genau auf das Bild des verschwundenen Amerikaners.