Читать книгу KÄMPFE FÜR DEIN ZIEL - Jürgen Recha - Страница 8
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Der Urknall
Und dieser Schlag mit dem Zaunpfahl kam dann auch. Schneller und heftiger ging es fast gar nicht. Aber wie schon erzählt, man musste mich richtig hart rannehmen, bevor ich meine Prinzipien und Überzeugungen verließ. Ich wollte es ja nicht anders. Ende Mai 2005 bekam ich so viele Schüsse vor den Bug, dass sicherlich einige davon untergegangen wären. Erst einen Tinnitus, der mich komplett lahmlegte. Ich hatte noch nie so was erlebt. Wie kann ein einziger, leiser, permanent anwesender Ton mich so aus der Bahn hauen. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren, war nur noch genervt. Wenn es richtig schlimm wurde, zerbrach ich fast daran. Egal was ich machte, es hörte nicht auf. Die ärztliche Unterstützung half anfangs, doch langfristig leider nicht. Diesen ersten Warnschuss nahm ich noch nicht ernst. Verwunderlich, da er mich so schlapp machte und ich manchmal verzweifelte. Im Tagesgeschäft hieß es: Weitermachen. Zumal ich die absurde Idee hatte, dass der Tinnitus ausschließlich von einer Fehlstellung meiner Zähne herrührte. Mein Zahnarzt fertigte mir eine Schablone aus Silikon an, die ich dann nachts zwischen meinen Zähnen trug. Tatsächlich bemerkte ich immer häufiger Pausen von diesem schrecklichen Ton. Damals dachte ich, dass durch das nicht besonders sexy besetzte Tragen des Mundinletts ich des Tinnitus‘ Herr wurde. Zumal ich damit eine chirurgische Begründung hatte und allen, die meinten, ich hätte zu viel um die Ohren, entgegentreten konnte. Heute weiß ich, dass das bei mir nicht der Fall ist. Den Tinnitus habe ich immer noch. Und das nach nunmehr neun Jahren. Aber mittlerweile ist er für mich eine kleine Nadel, die immer dann sticht, wenn ich negativen Stress habe und die Umwelt mich sehr belastet. Dann kommt der Ton und ich weiß, dass ich runterschalten muss.
Nach dem Tinnitus kam der restliche Körper dran, denn ich hatte durch das Ohrensausen nichts verändert. Ich war schwach, demotiviert. Meine Hautfarbe wurde immer bleicher und meine Augenränder glichen den Schutzwällen in der Normandie. Immer häufiger bekam ich nachts Atemaussetzer. Plötzlich wurde ich wach und merkte, dass ich nicht atmete. Voller Panik versuchte ich dann, zu atmen. Die Zeiträume, bis die Atmung wieder einsetzte, wurden immer länger. Durch diesen Stress waren die Ruhephasen nachts sehr gering. Aber auch dies bewirkte bei mir keine Veränderung. Das Leben war oberflächlich gesehen einfach zu schön. Dies meinte mein Körper aber anders. So musste ich eines Tages von der Autobahn direkt ins Krankenhaus fahren. Ich konnte nicht mehr. Mit letzter Konzentration schaffte ich es noch in Düsseldorf in die Notaufnahme. Ich wurde untersucht und nach der klaren und eindeutigen Diagnose eines Schwächeanfalls und einigen Stunden Erholung im Krankenbett fuhr ich auf eigenes Drängen wieder nach Hause. Da das Wochenende bevorstand, passte es. So plante ich, mich bis Montag wieder fit zu ruhen und dann mit vollem Elan wieder durchzustarten. Kaum hatte die Woche begonnen, machte der Kreislauf mir zu schaffen. Ein Kollaps am frühen Morgen im Büro. Ich hatte die ganze Nacht schlecht geschlafen, da am Morgen eine Vorstandssitzung anstand. Die Sitzung hätte es mal wieder in sich gehabt. Es schauderte mir schon seit Stunden vor diesen negativen Einflüssen. Als ich aus dem Büro gehen wollte, wurde mir schwindelig. Ich kam noch bis zur Tür und klappte zusammen. Hilflos aber wach lag ich da. Meine Assistentin kam sofort und zusammen mit noch zwei weiteren half sie mir auf und setzte mich auf einen Stuhl. Ab da hatte ich nur noch einzelne Bilder in meiner Erinnerung. Glas mit Wasser; Telefonat mit dem Notarzt; eine Präsidentin, die mich kurz anschaute und dann in den Besprechungsraum ging. Plötzlich atmete ich immer schneller. Ich hyperventilierte auf einmal. Schon häufiger hatte ich davon gehört und der Sache mit der Tüte vor dem Mund. Technisch war mir das klar, was da passiert. Aber am eigenen Körper dies mitzubekommen – man ist absolut hilflos und merkt, wie man immer schneller atmet, alle reden auf einen ein, man sollte sich beruhigen. Aber die Panik arbeitet dagegen und ist stärker als die gut gemeinten Zusprüche. Dann reduzierten die herbeigerufenen Sanitäter mir die Frischluft und ich kam langsam runter. Auf dem Weg ins Krankenhaus wiederholten sich die Anfälle der Hyperventilation noch zweimal. Im Krankenhaus angekommen, behandelte mich der Arzt, der sich bereits schon um meinen Tinnitus und meinen ersten Schwächeanfall gekümmert hatte. Er schüttelte erst einmal nur den Kopf, als er mich wiedererkannte, und dann begannen die Untersuchungen. Nach Messung der Vitalwerte und Abnahme von Blut und Urin ging es auf ein Zimmer, in dem absolute Ruhe war. Ich weiß nicht, ob es geplant war. Ich lag alleine in dem Zimmer am Ende des Ganges und konnte vom 3. Obergeschoss in den Park schauen. Die Sonne blinzelte durch das Fenster und ich hatte seit langer, langer Zeit keinen Druck mehr. Wollte nur noch genießen. Auch die Gedanken an das, was in den letzten Tagen alles passiert war, interessierten mich jetzt nicht. Ich bin mir heute nicht ganz im Klaren, aber ich glaube, dass ich ein wenig Tränenflüssigkeit verloren habe. Zusammen mit meiner Familie kam dann der Arzt. Ich schaute in die Augen meiner Frau und merkte, dass sie sich sehr viele Sorgen machte. Die Jungs konnten die ganze Situation nicht wirklich kapieren. Der Arzt dagegen hat es auf den Punkt gebracht: „Sehr geehrter Herr Recha, wir haben Ihr Blut analysiert. Mit diesem toten Element kann man nicht einmal eine Fliege zum Fliegen bringen. Ich behandle Sie nun zum dritten Mal und immer ist die Ursache die gleiche. Da Sie sich nicht ändern wollen, schlage ich Ihnen vor, schauen Sie sich Ihre Familie an, genießen Sie die Zeit mit ihnen. Denn sie wird nicht mehr lange andauern. Wir geben Ihnen leider nicht mehr lange.“ Daraufhin drehte er sich um. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Und dies, obwohl er dafür verantwortlich ist, dass ich heute noch das Leben genieße. Diese wenigen Worte brannten sich so hart bei mir ein, dass ich mich vor einer Weggabelung stehen sah. Der eine Weg ins kalte Nichts. Weg von allen, die ich liebte, und raus aus dem Leben, das ich so toll fand. Der andere Wegweiser zeigte mir auf, dass ich die Wende schaffen kann. Ich muss es aber jetzt und sofort mit aller Konsequenz umsetzen. Es gab diesmal keinen Nebenweg, keine Abkürzung, keinen Trampelpfad, auf dem stand: „Es wird schon irgendwie gehen bzw. Morgenwirdallesanders“. Ich fühlte mich wie der viel beschriebene Alkoholiker, der in der Gosse liegt und nur noch eine letzte Chance hat, noch eine letzte Patrone im Revolver, um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Noch nie war ich so entschieden, diesen einen harten Weg zu gehen. Mir war klar, ich habe nur noch die eine Chance.
Vom Kopf in die Beine
An dem Wochenende nach dem Krankenhausaufenthalt waren wir auf einer Silberhochzeit im Freundeskreis eingeladen. Ich verzichtete wie selbstverständlich auf Alkohol und als ich dann an einem Tisch einige bekannte Läufer vom hiesigen Lauftreff entdeckte, fasste ich einen Entschluss, der eine unendlich große Tragweite für mein weiteres Leben bedeutete. Ich konnte aber dies zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Ich ging zu Herbert, dem Leiter des Lauftreffs, rüber und sprach ihn an. Ich schilderte ihm kurz meinen Status und beendete meine Ausführungen mit der Frage, ob die Läufer mir helfen würden. Mein Plan war es, dass ich anfange mit Laufen. Nicht so wie sonst, sondern diesmal mit reeller Bewegung. So richtig mit Schwitzen. Damit dies aber wirklich funktioniert, wollte ich das in der Gruppe machen. Mir war klar, dass ich Anregung, Unterstützung, Motivation und Tritte brauchte. Hinzu kam der Effekt von festen Trainingsterminen. Die ließen sich nicht einfach verschieben. Herbert und die anderen Läufer sagten mir spontan zu, dass sie sich um mich kümmern wollen. Gesagt, getan, direkt am nächsten Tag ging es los. Sonntagmorgen, 10:00 Uhr am Lindenstadion in Haldern. Neue Laufsachen hatte ich schließlich noch von meinen Dienstreisen und so fuhr ich mit dem Auto die 1,2 km lange Strecke bis zum Treffpunkt. Es war eines der wenigen Male, dass ich in den nächsten Jahren das Auto zum Lauftreff nutzte.
Da der Lauftreff erstmalig einheitliche Trikots hatte, sollte an diesem sonnigen Sonntag im Juni pressewirksam und als Startfoto für den Internetauftritt ein gemeinsames Gruppenfoto geschossen werden. Und ich war dabei. Aus ästhetischen Gründen noch in der hinteren Reihe, aber durch meine läuferuntypische Optik konnte man mich sehr gut erkennen.