Читать книгу Auch wer exakte Bügelfalten hat kann sich zerknautscht fühlen - Jürgen Scheiderer - Страница 3
Vorbemerkung
Оглавление„Auch wer exakte Bügelfalten hat, kann sich zerknautscht fühlen“
Wir verfügen heute über so viel Freizeit wie nie. Ob damit auch eine Zunahme der Freiheit verknüpft ist, bezweifle ich, denn gleichzeitig leiden immer mehr Menschen unter einer enormen Belastung. Mitunter führt dies zu einem Burnout, der unter erfahrenen Psychologen im Grunde als Depression eingestuft wird. Für mich stellen sich dabei Fragen:
Sind diese Belastungen, diese seelischen Erschöpfungszustände und das Gefühl, überfordert zu sein, wirklich nur mit unseren täglichen Arbeitsanforderungen verknüpft?
Welchen Einfluss haben unsere Einstellungen, unsere individuellen Wahrnehmungen?
Fehlen uns nicht auch echte menschliche Nähe, ehrliches Feedback und aufrichtige Zuwendung?
Was könnte der Einzelne tun, um aus seinem „Gefängnis“ auszubrechen, um echte Freiheit gepaart mit einer großen Portion Verantwortungsbereitschaft für sich und andere zu genießen?
Sollten Sie, sehr geschätzter Leser, in Ihrem beruflichen Kontext eine (Mit-)Verantwortung für Menschen besitzen, so möchte ich Ihnen die Inhalte dieses Buches ganz besonders ans Herz legen. Ich wünsche mir aber auch, dass für Jedermann und für Jedefrau meine Erfahrungen in diesem Buch hilfreich sein zu können.
Beim täglichen Blick in die Zeitung, beim Betrachten der Nachrichten in einer nicht mehr überschaubaren Medienlandschaft, wird mir aber doch etwas bange. Gelegentlich werde ich zornig und fühle die innere Anspannung, weil ich mich wehrlos fühle. Ich ängstige mich, wenn ich sehen und lesen muss, wie egozentrierte Politiker auf dem Weg sind, unsere liberale Gesellschaftsordnung zu gefährden. Ich sehe auch mit sehr kritischem Blick, wie sich dieser Narzissmus in den sozialen Medien fortsetzt (oder hat er dort begonnen?). Zu allem Überfluss spielen Social-Media-Kanäle wie Facebook, Instagram, Twitter u. a. ihre Spielbälle im engen Schulterschluss auch mit unseren öffentlich-rechtlichen Medien. Der Bildungsauftrag bleibt auf der Strecke, oder er findet erst kurz vor Mitternacht statt. Es geht um Quote, und es geht um die Anzahl der Klicks. Der Eine profitiert vom Anderen. Prominent ist, wer sich im „Dschungelcamp“ zum Deppen gemacht hat. Ich erlebe ein Mediensystem, dessen Geschäftsidee auf das Exzentrische setzt. Die Schlagzeile ist es, die zählt und längst nicht mehr der Inhalt. Meinungen werden uns vorgekaut serviert, so dass wir nicht mehr denken brauchen (oder sollen?) und im besten Falle nur noch schlucken und staunen können. Zuhören findet kaum mehr statt.
Namhafte Historiker, Philosophen und Psychologen erkennen die Gefahren. Sie äußern sich. Aber werden deren Texte auch wahrgenommen und genügend ernst genommen? Mein gesunder Menschenstand sagt mir: Dort, wo wir verlernt haben, aktiv zuzuhören, also aufmerksam zu sein und auf das Detail zu achten sowie andersdenkende, andersfühlende und andersgläubige Menschen mit Respekt zu begegnen, da gedeiht eine Streitkultur, die nicht mehr mit unserem liberalen Leitbild in Verbindung gebracht werden kann.
Was kann also der Einzelne tun, um in unserem Land, in unserem Europa, auf unserer so geschätzten Erde das liberale Handeln zu fördern und autoritäre Tendenzen zu widerstehen?
Ich persönlich glaube daran, dass es bei uns selbst anfängt. Es beginnt mit unserer persönlichen Einstellung, mit unserem Verhalten, mit unserem Tun.
Sollten Sie das folgende Zitat nicht kennen, so entscheiden Sie sich jetzt und machen es sich zu eigen:
„Willst Du das Land in Ordnung bringen, so musst Du zuerst die Provinzen in Ordnung bringen.
Willst Du die Provinzen in Ordnung bringen, so musst du zuerst die Städte in Ordnung bringen.
Willst Du die Städte in Ordnung bringen, so musst Du zuerst die Familien in Ordnung bringen.
Willst Du Deine Familie in Ordnung bringen, so musst Du zunächst Dich selber in Ordnung bringen.“
Meiner Erinnerung nach handelt es sich bei diesen eindrucksvollen Worten um eine asiatische Volksweisheit.
Mit anderen Worten und an den Philosophen Kant erinnernd, könnte man es auch so ausdrücken: Wenn jeder handelt, wie er selbst behandelt werden möchte, ist an alle gedacht!“
Also fangen wir doch am besten bei uns selbst an, verbinden wir uns mit unserem unmittelbaren Umfeld. Schaffen und erhalten wir uns fruchtbare Beziehungen, mit unserer Familie, unseren Nachbarn, unseren Geschäftspartnern oder, wenn wir ein Unternehmen leiten, mit unseren Mitarbeitern und Kollegen.
Ich finde es etwas traurig, wenn wir in den öffentlichen Räumen auf Zeitgenossen treffen, deren zentrale Blickrichtung dem Smartphone und nicht mehr unseren Mitmenschen gilt. Einzelne Städte versuchen sich sogar daran, Fußgänger zu schützen, indem sie Fußgängerampeln auf Bodenflächen übertragen. Digitale soziale Netzwerke lassen uns glauben, und da wiederhole ich mich, dass wir unsere Anerkennung über die Häufigkeit von „Likes“ erhalten. Und wer nicht im Mainstream mitschwimmt, erfährt rasch einen „Shitstorm “, der sich wie eine Lawine über ihn ergießt. Regelmäßig fordern wir Toleranz ein, haben es aber verlernt, empathisch zuzuhören. Nur noch (zu) selten sind wir in der Lage, unsere Worte so zu wählen, dass sich Beziehungen in konstruktiver Weise verändern.
Im Mai 2020, während ich dieses Buch gerade zu Ende bringe, hat uns die weltweite Corona-Krise noch alle fest im Griff. Sie stellt uns vor große Herausforderungen, die ich so nicht für möglich gehalten hätte. Sie zeigt mir aber auch, dass unsere Gesellschaft in der Lage ist, spürbar enger zusammenzurücken. Eine warme Welle der Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe überschwemmt unser Land und hilft vielen Mitbürgern diese schwere Zeit zu überstehen und sie sogar relativ gut zu bewältigen.
Dieses Ereignis hat meine Einsicht gefestigt, die ich in meiner langjährigen Tätigkeit als Führungskraft bereits erfahren konnte.
Soziale Werte mit mutigen Entscheidungen und einer persönlichen Wahrhaftigkeit zu verknüpfen schafft Vertrauen, die Schwester der großartigen und basalen Menschenliebe.
Wenn wir Nachrichten persönlich „verarbeiten“, so sollten wir stets darauf achten, ob uns gerade die Zwischentöne etwas Wertvolles sagen könnten. Wenn wir selbst aktiv sind, bleiben wir dabei geradlinig und bedenken trotz oder gerade wegen unserer Einzigartigkeit, dass die Konturen der Weltsicht sehr differenziert wahrnehmbar sind.
Sagen wir JA zum guten Zuhören. Zuhören ist die Mutter der Innovation, das geräuschloseste Werkzeug, um uns mit Menschen erfolgreich zu verbinden.
Auch wenn wir glauben sollten, dass das Gewand unserer Ansichten exakte Bügelfalten hat, so vergessen wir bitte nicht, dass sich in diesen Zeiten jeder Zweite zerknautscht fühlt. Treten wir also heraus aus dem ICH und klopfen an die Tür des DU und leben die Werte vor, die wir von anderen erwarten.
Meine Gedanken und Anregungen richten sich an Leser, die gerne meine persönlichen Erfahrungen nutzen und im kollegialen Umfeld, im privaten Kontext oder im Kreis ihrer Liebsten ihre Erfahrungen auffrischen möchten. Vielleicht auch Lust verspüren, ihre Einflussmöglichkeiten spürbar zu erweitern, frei nach dem Motto:
„Sich durchsetzen, ohne zurückzudrängen!“
PS:
Ich habe mich entschieden, keine Unterscheidungen zwischen männlich und weiblich zu machen. Es schreibt sich leichter und wird sich auch leichter lesen lassen. Ich meine natürlich immer Frauen und Männer und Menschen, die sich nicht einem eindeutigen Geschlecht zuordnen möchten. Danke für Ihr Verständnis.