Читать книгу Auch wer exakte Bügelfalten hat kann sich zerknautscht fühlen - Jürgen Scheiderer - Страница 5

Wahrnehmung schärfen

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„Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urteilen gewöhnt!“

Friedrich Nietzsche


Das Grundlegende unserer Kompetenzvielfalt erkennen wir, wenn wir unsere eigene, von unserem Umfeld erlebbare Ausstrahlung betrachten und darüber reflektieren.

Wie wir selbst das Leben in uns und im Kontext unserer Beziehungen gestalten, hat viel damit zu tun, was wir glauben zu sehen, zu hören und zu fühlen. Wir dürfen es als verbindlich ansehen, dass unsere tägliche Wahrnehmung vom Limbischen System gelenkt wird. Als Limbisches System wird ein entwicklungsgeschichtlich alter Bereich unseres Gehirns bezeichnet, der sich zwischen dem Neocortex (Teil der Großhirnrinde) und dem Hirnstamm befindet.

Vor etwa 5,5 Millionen Jahren war die Geburtsstunde der Menschheit, wahrscheinlich damals noch mehr Affe als Mensch. Und seit etwa 100.000 Jahren begann die Entwicklung der menschlichen Sprache. Schon damals dürften sich unsere limbischen Präferenzen entwickelt haben und seit dieser Zeit übernehmen sie einen bedeutsamen Anteil an der Welt wie wir sie sehen, bzw. wie wir sie gerne sehen würden. Sie steuern damit unsere Gefühlswelt und unsere Erwartungen.

Unsere Limbisches Programm – ein unbewusstes Programm - besteht neben dem Programm zur Erfüllung unserer Vitalbedürfnisse aus drei großen Komplexen:

 dem Streben nach Sicherheit und Gleichgewicht (Balance)

 dem Streben nach Einfluss und Macht (Dominanz)

 dem Streben nach Anregungen und Reizen (Stimulanz)

Das Zusammenwirken dieser Disziplinen steuert unser Leben auf vier Ebenen:

 der physisch-körperlichen Ebene

 der sozialen Ebene (menschliches Zusammenleben)

 der kognitiven Ebene (Denken und Wahrnehmung)

 der gnostischen Ebene (Glauben und Sinn)

Die Balanceinstruktion gibt uns vor, nach Sicherheit und Ruhe zu streben, jede Gefahr und jede Unsicherheit zu meiden. Sie lässt uns nach Harmonie streben und macht uns glücklich, wenn alles im Leben am gewohnten Platz ist und seine Ordnung hat.

Die Dominanzinstruktion drängt ihrem Kern nach auf Verdrängung, nach Macht und darauf, unseren Einflussbereich (unser Territorium) auszubauen. Sie steht im Widerspruch zu unserem humanistisch geprägten Menschenbild. Sie flüstert uns zu: Erhalte Deine Autonomie, sei aktiv, sei besser als andere.

Die Stimulanzinstruktion erteilt uns unbewusst Befehle, die in uns die Kraft der Entdeckung und Innovation wecken. Sie ruft uns zu: Brich aus dem Gewohnten aus, suche nach Abwechslung, vermeide Langeweile, sei anders als die Anderen.

Es wird wohl kaum vorkommen, dass diese drei limbischen Instruktionen alleine oder pur wirksam werden. Sie werden sich meist gemischt im konkreten Leben zeigen. Unsere Aktivitäten berühren meist mehrere limbische Instruktionen gleichzeitig. Dies gilt auch für unsere Werte. Disziplin, ein besonders geschätzter Wert, hat sowohl eine Balance- als auch Dominanzkomponente. Die Balancekomponente sorgt für Ordnung und für die Einhaltung der Regeln. Die Dominanzinstruktion steht für den Aspekt der Kontrolle.

Mit Blick auf dieses limbische Programm können wir unser Verhalten nicht nur besser verstehen lernen, sondern auch unsere individuellen Entscheidungen an dieser Erkenntnis ausrichten.

Wenn Sie mehr zu diesem Thema wissen möchten, so empfehle ich Ihnen die Lektüre Limbic Success von Hans-Georg Häusel, erschienen im Haufe Verlag.

Diese limbischen Strukturen steuern also maßgeblich unsere individuelle Wahrnehmung. Dabei möchte ich den nachgewiesenen Einfluss unserer Gene gar nicht unterschlagen. Während wir aber keinen Einfluss auf die Wirkung unsere Gene haben, so dürfen Sie sich schon bewusst machen, dass es sich lohnen kann, unsere individuelle Wahrnehmung zu reflektieren. Unser Leben wird tatsächlich wesentlich geprägt von unseren limbischen Komponenten und diese wiederum entfalten sich von unserer Geburt an. Wir filtern unbewusst unsere Sicht über die Dinge des Lebens. Das Limbische System ist der Lotse unserer individuellen Wahrnehmung und es sorgt dafür, welche Schlüsse wir daraus für uns ziehen.

Viele psychologisch geprägte Sachbücher geben uns hierzu Ratschläge. Sie sagen uns auch, wie wir uns von den meist gutgemeinten „ Prägungen“ und „ Einschärfungen “ unserer Eltern und anderer Vorbilder verabschieden können. Ich selbst denke, dass diese grundsätzlich gute Anregung, unsere negativen „Voreinstellungen“ endgültig und dauerhaft zu verlassen, ohne externe und damit professionelle Hilfe nicht beziehungsweise nur sehr selten gelingen wird. Ich halte es daher lieber mit dem Begriff der „Erkenntnis“. Wenn wir erkennen und zu akzeptieren lernen, dass wir tief in uns einige sehr hilfreiche und auch einige sehr störende Wahrnehmungsfilter geparkt haben, können wir auch üben, diese einfach zuzulassen und lediglich den Umgang mit ihnen zu verbessern.

Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als ich den Widerstand gegen einige für mich eher ungute Prägungen bereit war anzuerkennen und mit ihnen seit diesem Zeitpunkt eher freundschaftlich umgehen kann. Wenn ich nun diese inneren Botschaften wieder einmal deutlich über meine Schulter „sprechen“ höre und sie in meinem Inneren zu spüren glaube, heiße ich diese – ich nenne sie „ Einflüsterer“ – willkommen und sage zu mir selbst: „Oh bist du wieder da – schön, dass es dich noch gibt; aber im Moment kann ich dich nicht gebrauchen. Die Zeiten haben sich geändert und ich bin kein Kind mehr!“ Dieses sich bewusst machen ermöglicht mir eine andere Wahrnehmung der Situation und es gelingt mir erlebbar besser, mich auf die Erwartungen anderer einzustellen, ohne meine eigenen Ziele und Wünsche aus den Augen zu verlieren. Ich gestehe! Nicht immer – aber immer öfter. Dass ich es mir dadurch auch leichter mache, meine Werte lebendiger zu leben, wurde für mich zu einer sehr bereichernden Erfahrung.

Aber dazu später mehr.

Gerne füge ich hier drei persönliche Erlebnisse an, die so hoffe ich, diese unsere Wahrnehmungsprobleme eindrucksvoll unterstreichen und möglicherweise auch besser verstehbar machen.

Es war auf einer Wanderung in einer Gruppe guter Freunde in den österreichischen Bergen. Unser Ziel war ein nicht zu anstrengender Anstieg zu einer Alm, den wir mit Gesprächen und wunderschönen Ausblicken genossen haben. Als wir gut erholt und frisch gestärkt in unser Quartier zurückmarschierten, kamen wir frühzeitig an eine Weggabelung und es entspann sich die erste Diskussion: Rechts oder links? Mehrheitlich einigten wir uns auf eine Richtung und überstimmten die Zweifler. Sehr schnell prägte unsere Unterhaltung die Suche nach einer Antwort: „Ist das wirklich der Weg, den wir aufwärts gegangen sind?“ Die einen sahen „Beweise“, dass der gewählte Weg ein Irrweg sei, die anderen glaubten Wegepunkte zu sehen, die ihnen die Bestätigung gaben, dass wir auf der richtigen Spur waren. Die Wahrheit übrigens haben wir nie herausgefunden! Gut, dass es mehrere Wege zurück zu unserem Quartier gab.

Ich habe daraus gelernt, dass es für jeden von uns unterschiedliche Wahrheiten geben kann. Es kommt einzig darauf an mit Menschen, die uns wichtig sind, gemeinsam ausgewählte Ziele miteinander zu erreichen.

Mein zweites Beispiel geht tiefer und betrifft mich unmittelbar und auch sehr persönlich. Ich habe von meinen Eltern viele gute und damit für mein Leben sehr hilfreiche Botschaften in mir deponiert. Natürlich auch einige Glaubenssätze, die mir zunächst als ganz besonders wertvoll erschienen. Im Verlauf meiner beruflichen Entwicklung haben sie mir jedoch sehr zu schaffen gemacht. Ich nenne sie hier liebevoll meine Antreiber „Sei perfekt!“ und „Sei schnell!“ . Ich denke, es braucht keine weiteren Ausführungen oder Erklärungen, warum diese Antreiber im Rahmen unserer gesellschaftlichen Erwartungen für ein erfolgreiches berufliches Wirken förderlich sind. Allerorts und mehr denn je zählen Schnelligkeit und hohe Arbeitsqualität zu unseren Tugenden. Jede Münze hat jedoch zwei Seiten. Wir wissen um die Gegensätze und gleichzeitig wissen wir auch von der begrifflichen Unklarheit von Schwarz und Weiß, von Sparsamkeit und Geiz und von Groß und Klein, von Viel und Wenig. So auch hier: Die scheinbar sonnige Seite heißt beruflicher Erfolg, gutes bis sehr gutes monatliches Salär und die schattige Seite: Permanenter Stress, Vernachlässigung von Beziehungen, Überforderung und schließlich gesundheitliche Probleme.

Meine Erinnerung ist noch sehr präsent: Meine Antreiber haben mich richtig vor mich hergetrieben. „ Sei perfekt “, dein Umfeld erwartet das von dir und vor allem „sei schnell“. Nur wer am schnellsten handelt, kommt zur Spitze. Aber wer oben bleiben will, für den wird es ganz besonders anstrengend.

Irgendwann war es dann zu viel: Mein Körper – auch meine Seele – streikte. Ich musste etwas dagegen tun! Aber durfte ich das? Konnte ich das? Wer gab mir die Erlaubnis? Was genau sollte ich, musste ich ändern, um wieder wirklich glücklich zu sein? Zusätzlich litt ich darunter, dass ich mich privat als Versager fühlte, weil es mir nicht gelang, den Zusammenhalt meiner kleinen Familie (mein Sohn war gerade 2 Jahre alt) zu retten.

Ich habe mich für eine Fortbildung entschieden und traf auf gute Trainer. Mit deren Hilfe wurde mir klar: Das von mir geführte genossenschaftliche Kreditinstitut verfügt über viele schlaue und fleißige Köpfe und leidenschaftliche Herzen, die gerne arbeiten und ihr Wissen und ihre individuellen Fähigkeiten einbringen möchten. Dann habe ich losgelassen, nicht nur Aufgaben, sondern auch Verantwortung übertragen, mich aufrichtig bemüht, mehr Vertrauen zu verschenken. Mit anderen Worten: Mehr und aufmerksamer zugehört, mehr und achtsame Fragen gestellt und meine Mitarbeiter zu mehr eigenen Entscheidungen ermuntert. Was geschah? Unser Kreditinstitut wurde fortan noch erfolgreicher, unsere Kunden noch zufriedener, unsere Bankteilhaber erhielten mehr Dividende und schließlich wirkten meine Mitarbeiter spürbar zufriedener, wurden weniger krank und die Fluktuation lag bei fast Null.

Nur Mut! Sollten Sie liebe Leser in Ihrem Beruf über Personalverantwortung verfügen, probieren Sie es aus!

Mein drittes Beispiel hat auch mit mir und meiner langjährigen Leitungsverantwortung zu tun.

Wir hatten unser Kundencenter neu möbliert und diese Abteilung auch personell neu strukturiert. Der neue Bereichsleiter wirkte anfangs sehr engagiert, aber er schien mir auch sehr streng, um nicht zu sagen mitunter rücksichtslos, als ich erfahren musste, wie er mit einzelnen Mitarbeitern umging. Auf eine nicht mehr ganz so junge Mitarbeiterin hatte er es offenbar besonders abgesehen.

Diese Dame – nennen wir sie hier Frau A. - war nicht nur bei unseren Kunden wegen Ihrer besonders zugewandten Art äußerst beliebt und anerkannt, auch ihr Fleiß war besonders ausgeprägt. Andererseits tat sie sich etwas schwerer mit den technischen Veränderungen, die mit der Einführung unserer neuen Struktur notwendig wurden. Ich erfuhr zufällig von dem Spannungsfeld zwischen der neuen Bereichsleitung und der von mir sehr geschätzten Mitarbeiterin. Ich hatte damals wenig Zeit und suchte das Gespräch an ihrem Arbeitsplatz. Ich wollte wenig Zeit für das Gespräch investieren und sie gleichzeitig mit einer Anerkennung bestätigen, ihr einfach Mut zusprechen.

Aus der Erinnerung klangen meine Sätze etwa so: „Sind Sie zufrieden? Macht Ihnen Ihre neue Aufgabe Freude? Kommen Sie gut zurecht? Liebe Frau A., unsere Kunden sind mit Ihnen sehr zufrieden und ich auch. Sollten einmal Fehler passieren? Fehler machen wir doch alle einmal.“ Ende meines Erinnerungszitats.

Für mich kam die Überraschung einige Tage später, als meine Sekretärin mich fragte, was ich denn mit Frau A. angestellt hätte. Sie fühle sich schlecht, weil ich Kritik ausgesprochen hätte; sie leide sehr darunter, weil sie nicht wüsste, was sie denn wirklich falsch gemacht hätte. Nun lag es an mir, möglichst rasch mit Frau A. ein klärendes Gespräch zu suchen, war meine Absicht doch eine ganz andere: Ich wollte ihr zeigen, dass ich zu ihr stehe, auch wenn ihr unmittelbarer Vorgesetzte, das möglicherweise anders sah. Mein Problem schien eher der neue Bereichsleiter zu sein. Ich war dankbar, dass mir meine Sekretärin durch ihren Hinweis die Möglichkeit eröffnete, meine Botschaft klarer zu fassen und auch Frau A. war wieder zufrieden. Der Bereichsleiter selbst blieb nicht lange bei uns. Er spürte wohl selbst am besten, dass er mit seiner Art Menschen zu führen bei uns nicht zurechtkam.

Ich persönlich habe aus dem Ereignis viel gelernt: Ich hatte mir danach angewöhnt, nach jedem Gesprächsabschluss nachzufragen, wie das Gespräch vom Gesprächspartner wahrgenommen wurde und dass ich es möglichst vermeiden sollte, „ zwischen Tür und Angel “ Mitarbeitergespräche zu führen. Ich hatte unterschätzt, dass die Wahrnehmung einzelner Gesprächsinhalte von der räumlichen Umgebung und von der jeweiligen Rolle des Gesprächspartners beeinflusst wird. Die Mitarbeiterin hatte doch tatsächlich die Anerkennung nur als höfliche Vorstufe zur eigentlichen Kritik wahrgenommen.

Also bleiben Sie achtsam, wenn Sie es gewohnt sind, vor einer Kritik Lob auszusprechen. Nicht immer wird das Lob gehört. Auch hier spielten Glaubenssätze eine wesentliche Rolle.

Es gibt nie den einzigen Weg zum Ziel, zum persönlichen Ziel und zu den beruflichen Erfolgen; prüfen Sie, ob der Weg, den Sie derzeit gehen, wirklich der beste und der für alle Beteiligten fruchtbarste Weg ist, oder ob er sich möglicherweise nur aus alten Glaubenssätzen speist.

Überprüfen Sie stets Ihre Wahrnehmung mit der von anderen Zeitgenossen empfundenen Realität. Was ist wirklich richtig? Was ist wirklich falsch? Hören Sie aufmerksam zu! Fragen Sie nach! Suchen Sie während des Gesprächsabschlusses nochmals nach möglichen Missverständnissen!

Wie sagte es doch der große Philosoph Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“

Auch wer exakte Bügelfalten hat kann sich zerknautscht fühlen

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