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1.3 Dezentralisierungsbestrebungen nach dem Zweiten Weltkrieg

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Ein wesentlicher Ausgangspunkt für die Ausgestaltung des französischen Zentralismus in seiner heutigen Form ist in der administrativen Neuordnung des Landes zum 15.1.1790 als Folge der französischen Revolution zu sehen, die zu einer Einteilung in 83 Départements führt. Den Départements steht jeweils ein Präfekt vor, der als Bindeglied zwischen dem Machtzentrum Paris und der Peripherie fungiert. Dabei kommt dem Präfekten die Rolle der Staatsgewalt zu, der die Interessen der politischen Führung in Paris konsequent verfolgt. Dieses zentralistische Verwaltungsprinzip besteht seit der Französischen Revolution in seiner Ausgestaltung weitgehend unverändert, obwohl es seitdem verschiedene Vorstöße zu einer décentralisation gibt. So wird unter Napoléon III. im Jahr 1870 bereits eine erste commission de décentralisation gebildet, doch bleibt ihre Arbeit ohne Wirkung. Es dauert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, bevor erneut ernsthafte Bemühungen zur Dezentralisierung unternommen werden. Die seitdem angestrebten Dezentralisierungsmaßnahmen lassen sich in vier Phasen gliedern:

▪ Dezentralisierungsbestrebungen unter Staatspräsident Charles de Gaulle Ende der 1960er Jahre,

▪ Dezentralisierung in den Jahren 1981 bis 1984 (acte I) unter Staatspräsident François Mitterand,

▪ Dezentralisierungsgesetze in den Jahren 2002 bis 2004 (acte II) unter Staatspräsident Jacques Chirac und

▪ jüngste Reformen zur Dezentralisierung seit dem Jahr 2013 (acte III) unter Staatspräsident François Hollande.

Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert Jean F. Gravier in seinem Buch Paris et le désert français (1947) die Problematik der Vormachtstellung der Hauptstadt Paris gegenüber dem übrigen Frankreich. Ein erster, ernsthafter Vorstoß zur Dezentralisierung nach dem Zweiten Weltkrieg findet jedoch erst gegen Ende der 1960er Jahre statt. Zwar sind die großen wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede insbesondere zwischen Paris und dem restlichen Frankreich, aber auch das Nord-Süd-Gefälle der Industrialisierung offensichtlich, zunächst liegt das Augenmerk der Politik aber auf dem Wiederaufbau des Landes sowie der Entwicklung und Implementierung der neuen Verfassung (ab 1958). Entsprechend werden im zu dieser Zeit genutzten Instrument der Entwicklungsplanung, den Wirtschaftsplänen im Rahmen der planification, keine regionalpolitischen Ziele genannt, vielmehr dominieren quantitative Produktions- und Wachstumsziele. Erst im vierten (für die Jahre 1962 bis 1965) und fünften (für die Jahre 1966 bis 1970) Wirtschaftsplan werden erstmals raumordnungspolitische Ziele (vierter Plan) und die Notwendigkeit einer regionalen Wirtschaftsförderung (fünfter Plan) angesprochen (vgl. auch 4.2). Als räumliche Bezugsgröße sollen hierzu die im Jahr 1956 geschaffenen Programmregionen dienen, die aber noch keinen Status als Gebietskörperschaft haben. Zur Umsetzung von raumordnungsrelevanten Regierungsbeschlüssen und zur Koordinierung der Realisierung mit den anderen Präfekten der Départements wird ab dem Jahr 1964 für jede Region aus dem Kreise der Präfekten ein Regionalpräfekt (préfet de région) ernannt. Diesem kommt jedoch eine ausschließlich ausführende Rolle zu, die Finanzmittel und Verwaltung aller wichtigen Planungsaufgaben obliegt einer zentralen, im Jahr 1963 geschaffenen Raumplanungsbehörde, der DATAR (délégation à l’aménagement du territoire et à l’action régionale), die zudem direkt dem Premierminister in Paris unterstellt ist. Die Erfolge der neuen Strukturen sind bescheiden, die regionalen Disparitäten verstärken sich eher. Daher lässt Staatspräsident Charles de Gaulle ein umfassendes Reformwerk ausarbeiten (projet Jeanneney). Dieses sieht u.a. die Umwandlung der Regionen in selbständige Gebietskörperschaften mit eigenem Haushalt sowie weitreichenden Kompetenzen und Zuständigkeiten vor, ebenso ist die Abschaffung des Senats geplant. Jedoch scheitert der Plan des Staatspräsidenten zur Stärkung der Peripherie am 27. April 1969 in einem von ihm initiierten Referendum: 53,2 % der Franzosen entscheiden sich gegen die Reform. Die Ursachen des Scheiterns der beabsichtigten Regional- und Senatsreform sind weniger inhaltlicher Natur, vielmehr versäumt es de Gaulle, seine praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit entworfenen Reformpläne dem Volk verständlich darzulegen: Der Großteil der Franzosen weiß nicht genau, worum es in dem Referendum geht und kann die Tragweite der beabsichtigten Reformen nicht erfassen. Damit sind die Dezentralisierungsbestrebungen vorerst gescheitert, der Staatspräsident tritt zurück und in den neuen Wirtschaftsplänen unter de Gaulles Nachfolger Georges Pompidou wird wieder schwerpunktmäßig die Entwicklung der wirtschaftlichen Kernräume des Landes verfolgt. Dezentralisierungsziele spielen zunächst keine Rolle mehr und die Regionen werden nicht zu Gebietskörperschaften aufgewertet (vgl. Grosse/Lüger 2008: 29).

Eine erneute Thematisierung der Dezentralisierung erfolgt erst Anfang der 1980er Jahre nach dem Wahlsieg der Sozialisten unter dem neuen Staatspräsidenten François Mitterand und wird aus heutiger Sicht als acte I der Dezentralisierungsmaßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. So sehen der achte (für die Jahre 1981 bis 1983) und neunte (für die Jahre 1984 bis 1988) Wirtschaftsplan wieder konkret die Dezentralisierung als Planziel vor (vgl. auch 4.2). Nach dem Regierungswechsel von den Konservativen zu den Sozialisten im Jahr 1981 wird das Innenministerium in Ministère de l’Intérieur et de la Décentralisation umbenannt, wodurch die Bedeutung der Dezentralisierungsbestrebungen unterstrichen wird. Staatspräsident Mitterand und sein Premierminister Pierre Mauroy stärken mit den Dezentralisierungsgesetzen von 1982 gegen den erbitterten Widerstand der Opposition die Stellung regionaler und kommunaler Gremien, indem sie ihnen erweiterte Kompetenzen zuweisen. Zudem werden die Regionen zu vollwertigen Gebietskörperschaften (analog zu Gemeinden und Départements) aufgewertet. Die Regionen und Départements erhalten stärkere Exekutivrechte und die zentrale Staatsaufsicht über die Gebietskörperschaften wird geschwächt. So verlieren beispielsweise die Präfekten ihre Verwaltungskontrolle gegenüber den Gebietskörperschaften (tutelle administrative). Sie können nicht mehr à priori Entscheidungen der Parlamente der Gebietskörperschaften blockieren, sondern sie nur noch à posteriori von Verwaltungsgerichten überprüfen lassen. Damit findet eine deutliche Verschiebung der Exekutivrechte von der zentralstaatlichen auf die regionale Ebene statt.

Allerdings führt die Politik der Verstaatlichung in der Wirtschaft (vgl. hierzu auch 4.2.2), die unmittelbar nach der Verabschiedung der Dezentralisierungsgesetze eingeleitet wird, faktisch zu einer Stärkung des Zentralismus. Auch die Tatsache, dass die Gebietskörperschaften keinen Einfluss auf die Planungsziele in den Wirtschaftsplänen haben, schwächt die Dezentralisierungsbemühungen. Zudem bleiben wesentliche Aufgaben, etwa im Bereich der Sozial- oder Finanzpolitik, Domäne des Zentralstaates bzw. bei Berührung des öffentlichen Interesses (etwa bei Standortentscheidungen) gehen Kompetenzen von den Gebietskörperschaften wieder an den Zentralstaat über. Entsprechend stellt Brücher (1987: 668) ernüchtert fest: „Die Persistenz des Phänomens Zentralismus ist viel zu ausgeprägt und erfährt in Wechselwirkung mit dem Raum ständige Selbstverstärkung, so dass sich der Zentralismus letztendlich gegen die Dezentralisierungsbestrebungen durchsetzen wird.“

Tab. 1.14 Kompetenzverteilung zwischen den Gebietskörperschaften nach den Dezentralisierungsgesetzen von 2002 bis 2004


Die Finanzausstattung der Gebietskörperschaften steht u.a. im Mittelpunkt der dritten Phase (acte II) der Dezentralisierungsmaßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg. Unter Staatspräsident Jacques Chirac und seinem Premierminister Jean-Pierre Raffarin wird in den Jahren 2002 bis 2004 die finanzielle Eigenständigkeit der Gebietskörperschaften gefördert, die lokale Demokratie durch die Möglichkeit von Referenden auf allen regionalen Ebenen sowie durch Einführung des Petitionsrechts gestärkt und weitere Kompetenzen bzw. Aufgabengebiete auf die Gebietskörperschaften übertragen (vgl. Crevel/Wagner 2003). Die Kompetenzen und Zuständigkeiten zwischen dem Staat und den Gebietskörperschaften werden damit neu verteilt (vgl. Tab. 1.14). So gehen beispielsweise rund 20.000 km Nationalstraßen von der Zuständigkeit des Staates nahezu vollständig in die der Départements über. Gleichwohl bedeuten auch diese Reformen keine Abkehr vom Zentralismus, er wird durch diese lediglich praktikabler gestaltet.

Die jüngste Phase der Dezentralisierungsbestrebungen beginnt im Jahr 2013 (acte III) unter Staatspräsident François Hollande und muss im Kontext der globalen Finanzkrise sowie der Haushaltsprobleme des französischen Staates gesehen werden. Durch den erhöhten Druck zu Einsparungen soll mit dem Reformpaket eine Effizienzsteigerung der Arbeit der Gebietskörperschaften durch eindeutige Zuständigkeiten (z.B. sind zukünftig nur noch die Regionen für Wirtschaftsförderung, Fortbildung und Arbeitsmarkt zuständig) sowie durch vermehrte Kooperation in größeren Verwaltungseinheiten (etwa in Form neuer Kommunalverbünde) erreicht werden (Französische Botschaft 2015). Kernstück der Reform ist eine am 17.12.2014 endgültig verabschiedete Gebietsreform auf der Ebene der Regionen mit einer Reduzierung ihrer Anzahl von 22 auf 13 Regionen im europäischen Frankreich (vgl. hierzu auch Tab. 1.12): „Réformer les territoires pour réformer la France“ (Hollande 2014). Damit sollen gegenüber der bisherigen vielschichtigen Verwaltungsstruktur (millefeuille territoriale) durch weniger Kompetenzüberschneidungen Kosteneinsparungen realisiert und eine Effizienzsteigerung erzielt werden. Das Reformpaket beinhaltet weitere Maßnahmen wie die Reduzierung der Möglichkeit von Ämterhäufungen und wird daher eher als Modernisierungsreform denn als eine grundlegende und zukunftsorientierte Dezentralisierungsmaßnahme verstanden (Seidendorf 2015).

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