Читать книгу Deplatziert - Jörn Birkholz - Страница 4
Оглавление1. Budenzauber
Es war ein nasskalter Samstagabend im Herbst. Ich stand in einer kurzen Warteschlange vor einer mit unzähligen Postern beklebten Eingangstür eines Freizeitheimes. Schnell war ich an der Reihe und bezahlte den Eintritt.
„Na du Banker, was willst du denn hier?“ begrüßte mich ein tätowierter Schrank mit kratziger Stimme und hellgrünem Irokesenschnitt. Höhnisch betrachtete er mich und presste mir grob einen Stempel auf den Handrücken. (Wenn man in diesem Etablissement nicht mit Unmengen von Tätowierungen überzogen war, stieß das auf Misstrauen. Die einzige Verzierung hingegen, die meinen Körper schmückt, ist ein bierdeckelgroßes Muttermal auf dem Rücken, welches ich an diesem Abend nicht zur Schau stellte.) HEY HO LET’S GO war jetzt auf meiner Hand zu lesen. Vielleicht hätte ich diesen Rat besser beherzigen sollen. Ich betrat den stickigen Veranstaltungsraum und bestellte mir an einer improvisierten Theke ein Bier. Eine korpulente, weibliche Bedienung mit Silberblick, die beinahe komplett in einen schwarzen, abgewetzten Baumwollpullover gehüllt war, reichte mir kaum merklich lächelnd ein lauwarmes Flaschenbier. Ich bedankte mich, trank gierig und zündete mir eine Zigarette an. Auf meinem Abendprogramm stand ein Punkkonzert. Der Name der Band ist unwichtig, es handelte sich aber um eine, wenn auch schon etwas in die Jahre gekommene szeneetablierte, britische Punkcombo. Ich schaute mich um und blickte in sowohl misstrauische als auch mir Verachtung zollende, einfältige Gesichter. Anscheinend war ich hier nicht wirklich willkommen. Man wollte wohl lieber unter seinesgleichen bleiben. Nach einer Weile betraten die Bandmitglieder unter vereinzeltem Gejohle der Fans die niedrige Bühne und legten los. Zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, wie grotesk diese Szenerie wirkte. Die Band und auch das Publikum machten einen erschreckend assimilierten Eindruck. Insbesondere der Leadsänger präsentierte sich besorgniserregend debil. Er wirkte so angestrengt bei seinem Tun, dass ich befürchtete, man müsste bei einem jede Sekunde einsetzenden Herzstillstand Erste Hilfe leisten. Für die transpirierenden Musiker kam erschwerend hinzu, dass sowohl Lautstärke als auch Qualität ihres Schaffens so dermaßen zu wünschen übrig ließen, dass man, wäre man noch in der Schule, nebenbei prima seine Hausaufgaben hätte machen können. Doch das schien außer mir niemanden zu stören, beziehungsweise bemerkte es keiner. Einige Part Time-Punks mit buntgefärbten Haarkämmen, mit Nazis raus Stickern auf den Militärwesten und mit Piercings und anderen metallischen Gegenständen in den Visagen, hüpften auf und ab und rempelten sich dabei beinahe zärtlich an. Mir wurde schwindelig vor Langeweile. Nach einer guten Stunde und drei weiteren lauwarmen Bieren hatte ich das Ganze einigermaßen gefasst überstanden. Nachdem die Fans ein wenig gegrunzt hatten, gab es eine kurze obligatorische Zugabe, und das war’s dann. Von einer Protestbewegung gegen die herrschende soziale Realität, von einem Aufbegehren gegen die staatliche Ordnung und einer Zurückweisung der bürgerlichen Werte war hier nichts mehr zu spüren. Es boten sich mir nur noch die kümmerlichen Überbleibsel einer verwesenden Subkultur. Ich war heilfroh, diese Behindertenwerkstatt endlich zu verlassen.
Die Eröffnung des Abends war wenig zufriedenstellend verlaufen, und so machte ich mich auf den Weg in die Innenstadt. Mir war zu Ohren gekommen, dass im Amüsierviertel nahe des Stadtzentrums die Einweihung eines neuen Clubs gefeiert wurde. Diesem Ereignis musste ich natürlich unbedingt beiwohnen. Nach etwa einer Viertelstunde gemächlichen Fußmarsches traf ich ein. Ich betrat die sich mir im imitierten Pop Art Design präsentierenden Räumlichkeiten und steuerte zielstrebig an die Bar, wo mir ein vermutlich an Anorexie leidendes Gerippe im dunkelroten Top ein holländisches Exportbier überreichte. Erfreulicherweise war das Getränk angenehm gekühlt. Ein schmächtiger, todernst dreinblickender DJ hantierte übertrieben konzentriert an den zahlreichen Reglern seines Mischpultes herum. Dabei wippte oder vielmehr schunkelte er kaum merklich zu den sterilen Elektroklängen, die er zur Stimmungsaufbesserung der wenigen Gäste ertönen ließ. Dennoch wurde weder ausgelassen noch überhaupt getanzt. Vielleicht war es zu früh und die Zeit noch nicht reif. Ich lehnte mich an die Bartheke. An einem Tisch gegenüber fielen mir drei Personen auf, die sich angeregt unterhielten. Zwei Trainingsjacken versuchten abwechselnd, ein einfältig dreinblickendes Frauchen zu umgarnen. Die Anstrengungen der Burschen, das Mädel bei Laune zu halten, waren durchaus fesselnd. Schneidig schmissen sie mit Namen, Anschauungen und Geschehnissen nur so um sich. Interessant war auch ihr Konkurrenzverhalten. So diskutierten die beiden hitzig miteinander, bis sie irgendwann feststellen mussten, dass die Trine zurückhaltend zu gähnen begann und wie beiläufig auf ihre vergoldete Armbanduhr schaute. Anscheinend beschlich sie der leise Verdacht, nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, da man sie aus der Diskussion ausgeschlossen hatte. Nach einer Weile wurde diese kritische Zeitspanne jedoch überwunden. Die beiden Rivalen waren sich ihres Fauxpas bewusst geworden und widmeten sich wieder voll und ganz ihrer Begleitung. So fing diese nun auch noch an, kokett ihren Senf dazuzugeben, worauf die jungen Männer artig nickten und sich bemühten, das Desinteresse an ihren Ausführungen vor ihr zu verbergen. Ich wandte meinen Blick ab, zündete mir eine Zigarette an, stützte mich mit den Ellbogen auf die Theke und ließ die Seele baumeln. Nach einer Weile kam es zu einer nicht uninteressanten Vermischung des Publikums. Offenbar hatte der Fußball-Erstligist der Stadt am Nachmittag ein Heimspiel für sich entscheiden können, und somit fanden sich einige zuvor durch die Straßen ziehende Schlachtenbummler in dem Club ein, um „ihren“ Sieg gebührend zu feiern. Demgemäß artikulierten sie sich lauthals oder fielen durch inadäquates Verhalten auf, wofür sie entrüstete Blicke von Seiten des Publikums ernteten. Zwei- bis dreimal ließ einer von ihnen höchst bemerkenswerte Bäuerchen erschallen. Meine Laune besserte sich, da der unübersehbare Kontrast der Anwesenden mich amüsierte, obgleich ich wachsam darauf achtete, nicht mit den aggressivsten und alkoholisiertesten Fußballanhängern aneinanderzugeraten.
Meine Zigaretten waren alle. Auf der Suche nach einem Automaten bemerkte ich ein junges, sich in den Armen liegendes Pärchen, das halb schlafend auf einem der unzähligen Sofas lag. Ich identifizierte die zwei als Fußballfans, da beide einen Schal trugen, auf dem das Vereinsemblem abgebildet war. Man sah ihnen an, dass sie sich einen Dreck für dieses Tanzvergnügen interessierten und hier, wie die übrigen Anhänger, eher zufällig hineingeraten waren. Ihr Verein hatte gewonnen, und ansonsten hatten sie sich, und das sollte fürs Erste genügen. Das affektierte Verhalten der Club-Idioten prallte an diesen beiden Menschen ab. Wie schön. Nachdem ich mir Zigaretten gezogen hatte, wollte ich eine Verabredung mit ein paar Freunden einhalten, die sich bereits in einer nahegelegenen Studentendisko (in der erfreulicherweise nicht ausschließlich Studenten verkehrten) eingefunden hatten. Ich verließ die Bar und machte mich auf den Weg. Ein leichter Nieselregen setzte ein.
Kaum war ich angekommen, stellte ich fest, dass mein Kumpel Marko eine lautstarke Meinungsverschiedenheit mit Jasmin, seiner unscheinbaren Freundin, hatte; beziehungsweise sie mit ihm. Befremdlich allerdings war, dass Marko bei diesem Streitgespräch nicht anwesend war und auch nichts davon wusste. Er hielt sich zum besagten Zeitpunkt innerhalb des Tanztempels nahe der Tanzfläche auf, während sie draußen auf dem angrenzenden Parkplatz stand. Hier beschimpfte sie ihn und verlangte kreischend, er möge doch bitte endlich Position beziehen und sich zu ihren Vorwürfen äußern. Jasmin übersah dabei, dass Marko lediglich telepathisch hätte anwesend sein können. Der einzige Depp, der in diesem Moment deplatzierte Präsenz zeigte, war ausschließlich meine Wenigkeit. Ich versteckte mich hinter einer mit Hip Hop-Symbolen verzierten Mauer, gegen die ich noch Sekunden zuvor ausgiebig uriniert hatte. Ich hoffte, das hysterische Mädel würde sich schleunigst verziehen und ihren Monolog woanders fortsetzen; doch weit gefehlt; sie schrie und keifte nur einige Meter von mir entfernt wild ins Nichts, und ich stand beharrlich in meiner eigenen Pisse. Ein sterbenslangweiliger Abend hatte seinen Höhepunkt erreicht. Etwas unglücklich an der Situation war, dass ich die Gelegenheit versäumt hatte aus meinem Versteck herauszutreten. Es war jetzt schlicht und einfach nicht mehr der richtige Zeitpunkt, Jasmin zu signalisieren, dass ich ein unfreiwilliger Zeuge ihres schizoiden Auftrittes geworden war, denn damit hätte ich sie und irgendwie auch mich selbst in eine kompromittierende Lage gebracht. Auf einmal schreckte Jasmin auf. Es hatte den Anschein, als hätte sie sich vor sich selbst erschrocken. Ich presste meinen Körper noch enger an die Betonmauer und bemühte mich, keine Geräusche zu verursachen. Mit gedämpfter Stimme verfluchte Jasmin weiterhin ihre Imagination und schlurfte schließlich in Richtung Eingangstür. Ich hatte es überstanden; sie war im Innenbereich der Disko verschwunden. Ich verließ mein feuchtes Versteck und betrat kurz darauf ebenfalls den Laden. Drinnen schaute ich mich um. Es herrschte ausgelassenes Treiben, und es wurde von Minute zu Minute voller. Ich putzte meine beschlagene Brille und vernahm schnatterndes Stimmengewirr, Grimassen, Gebärden, den Geruch von Tabak, Alkohol, aufdringlichen Parfüms, vermischt mit Schweiß. Einige ausgelaugte Männer und Frauen, denen deutlich ins Gesicht geschrieben stand, dass sie sich hier nicht zum ersten Mal aufhielten, streiften meinen Blick. Während ich umherschlenderte, entdeckte ich die Schizoide. Sie stand innig an Marko geschmiegt an der Theke. Anscheinend hatten die beiden ihre Streitigkeiten beigelegt. Ich gesellte mich zu ihnen.
„Wo bist du denn so lange gewesen?“ rief Marko aus.
„Ich wurde draußen noch eine Weile aufgehalten“, erwiderte ich und zündete mir eine Zigarette an.
Neugierig musterte er mich. „Ein Mädchen?“ fragte er breit grinsend. „Kenn ich sie?“
„Ich glaube nicht, dass du sie wirklich kennst.“
„Ah ja, das dauerte aber ziemlich lange.“
Ich blickte auf seine Dulzinea, die weiterhin steif an seinen Körper gepresst dastand. Auf ihrem Gesicht lag eine bedrückende Teilnahmslosigkeit. Sie befand sich mit ihren Gedanken in einer Welt, in die ich ihr nicht unbedingt folgen wollte. Vor einigen Jahrzehnten wurde man hierzulande noch von Bomben oder Granaten zerfetzt, heutzutage von der eigenen Psyche. Jasmin litt unter keinem Krieg, keiner Diktatur und auch keinem Hunger; sie litt unter einer fehlgeleiteten Wahrnehmung, deren Auslöser eine unerfüllte Vertrauenssehnsucht war. Sie hatte eine panische Angst vor direkten Konfliktsituationen. Dieser Umstand führte zu permanentem Misstrauen gegenüber Fremden und auch Vertrauten. Jedoch mutmaßte ich hier lediglich; vielleicht hatte sie auch einfach nur ihren Zyklus oder ansonsten einen schlechten Tag.
„Das Mädchen hatte so viel zu erzählen“, fuhr ich fort, „dass ich einfach nicht gleich gehen konnte.“
„Wie romantisch.“
„Wie man’s nimmt.“
„Hier riecht’s irgendwie nach Pisse!“
Ich blickte unauffällig auf meine Lederschuhe und stellte erschrocken fest, dass ich beim Urinieren nicht nur die Betonwand befeuchtet hatte.
Marko wandte sich herausfordernd an seine Perle: „Findest du nicht auch, dass es hier nach Pisse riecht?“
„Weiß nicht“, antwortete Jasmin halblaut. „Ich will langsam nach Hause.“
Marko war genervt. „Wir gehen ja gleich“, zischte er sie an.
„Was willst du denn noch hier?“ fragte Jasmin mit ihrem dünnen Stimmchen. Kaum vorstellbar, dass dieses zarte Organ noch vor ein paar Minuten den ganzen Parkplatz zusammengeschrien hatte.
„Nichts! Ich sagte ja, wir gehen gleich.“
Jasmin verstummte.
Marko wandte sich wieder mir zu und lächelte. „O.k., Mann, wir hauen jetzt ab ... Viel Glück noch mit dem Mädel. Wir sehen uns.“
„Ja, bis bald.“
Sie gingen und entschwanden aus meinem Blickfeld. Ich begab mich auf die überfüllte Herrentoilette und säuberte in einem verdreckten Waschbecken provisorisch meine Schuhe.
„Was macht der denn da?“ hörte ich einen vermeintlichen Studentenbengel ausrufen, während ich auf einem Bein dastand und das andere angewinkelt im Becken baumelte.
„Keine Ahnung, wahrscheinlich hat der Typ Waschtag heute“, bemerkte ein Zweiter. Brüllendes Gelächter ertönte. Studentenhumor. Ehe ich etwas entgegnen konnte, waren die beiden, sich krümmend vor Lachen, entschwunden. Nachdem ich meine Schuhpflege beendet hatte, stürzte ich mich wieder ins Menschengewühl. Ich hatte schnell genug davon, mich durch diese Ansammlung von transpirierenden Körpern zu wühlen; somit kaufte ich mir ein Bier und lehnte mich abseits der Tanzfläche an ein Stahlgeländer und betrachtete die Ausgelassenheit. Ich trank zügig und ließ meine Gedanken treiben. Mittlerweile spürte ich die magische Kraft des Alkohols, die mich behutsam forttrug. Es existieren vier Stufen der Trunkenheit: angeregt, angetrunken, betrunken und volltrunken. Ich habe sämtliche Stufen (Letztere allerdings eher selten) bereits erklommen. Ich bin nicht unbedingt stolz darauf, aber immerhin musste ich bis heute noch nie von einem Notarzt reanimiert werden. Der aufschlussreichste Zustand ist der, wenn man vom angetrunkenen Stadium ins betrunkene hinübergleitet und der Alkohol seinen Verführungszauber entfaltet. Dann gibt man sich hemmungslos der Trunkenheit hin und genießt die hellsichtigen Momente. Man erlebt déjà-vu-artige Eingebungen, welche, bevor man sie deuten kann, wieder entschwinden. Für eine Weile blickt der Narkotisierte der Wahrheit direkt ins Angesicht, und das Alltägliche entpuppt sich als Verfälschung. Die Lüge schwebt dann über allem. In jener Nacht war ich jedoch von mentaler Hellsichtigkeit weit entfernt, aber das war auch nicht weiter tragisch. Vollkommen unerwartet postierte sich ein durchaus respektables, zierliches Weibchen mit feurigen Augen und frechem Mund direkt neben mir. Zufall? Die Kleine rauchte eine schmale Filterzigarette, und von Zeit zu Zeit nippte sie an ihrem Flaschenbier. Ich begab mich in die Offensive und hörte mich Hallo sagen. Mein Hallo wurde von einem Lächeln begleitet.
„Hallo“, erwiderte sie, hingegen kaum merklich lächelnd.
„Wie alt bist du?“
„So beginnt man doch kein Gespräch.“
„Ich begann mit Hallo.“
„Auch nicht viel besser.“
Die Altersfrage blieb ungeklärt. Ich vermutete, sie war zwischen zwölf und zweiunddreißig. Bei schwacher Beleuchtung und entsprechend geschminkt ist das Alter schwierig einzuschätzen. Ich wies auf ihre brennende Zigarette. „Dürfte ich eine?“
„Ich hab nur noch zwei.“
„Macht nichts, ich habe selber noch welche.“
„Warum fragst du dann?“
„Ich wollte mal so ne Dünne probieren.“
„Die schmecken scheiße. Die hat mir jemand geschenkt.“
Ich hielt ihr zuvorkommend meine Packung hin. „Willst du eine von meinen?“
„Nein“, antwortete sie und schüttelte den Kopf, wobei ihr eine Haarsträhne ins Gesicht fiel, die sie mit einer eleganten Handbewegung zurück hinters Ohr strich.
Eine kurze Gesprächspause entstand. Ich wandte mich von ihr ab und ließ meinen Blick über die Tanzfläche schweifen. Ich betrachtete die Tanzwütigen. Jungspunde hüpften in die Luft, klatschten in die Hände und waren bemüht, sich besonders lässig zu präsentieren. Die Tänzerinnen versuchten ihre Darbietung mit einem Hauch von verführerischer Verschlagenheit zu verfeinern. Leider sahen die meisten dabei dermaßen verkrampft und unnatürlich aus, als wären sie mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen worden. Abrupt ignorantes Verhalten scheint hübsche, junge Damen zu irritieren, aber auch gleichzeitig ihr Interesse zu wecken.
„Wie heißt du?“ fragte sie mit ihrer quiekenden Stimme.
Ich nannte ihr meinen Vornamen. Sie wiederholte ihn, zog ihn beim Aussprechen unnötig in die Länge und grinste mir spöttisch ins Gesicht.
„Und wie heißt du?“
Sie nannte mir ihren Namen. Ich wiederholte ihn nicht. Sie hatte eine kindliche, dabei unfreiwillig komische, zugleich aber auch gekünstelte Art, und irgendwie gefiel mir das. „Kommst du von hier?“ fragte ich.
„Ja, du auch?“
„Ja.“
Eine weitere Gesprächspause entstand.
„Und, was machst du so? Studierst du?“ fragte sie.
„Ja.“
„Und was?“
„Egal, irgendwas.“
„Sag doch mal“, bohrte sie kokettierend lächelnd.
„Ich will nicht über mein Studium reden.“
„Ich möchte mit dir ja gar nicht darüber reden, ich wollte nur wissen, was du für Fächer studierst.“
Widerwillig nannte ich meine Studienfächer.
„Aha, das ist doch interessant“, quiekte sie. „Ich studiere seit sieben Semestern Philosophie und Betriebswirtschaft.“
„Das ist ja eine entzückende Kombination. Geistige Stimulation gepaart mit konventionellen Karriereambitionen.“
„Ich geh mal eben tanzen.“
„Tolle Idee.“
„Halt mal bitte kurz.“ Sie reichte mir ihre fast leere Bierflasche und ging. Mein Fläschchen hatte ich bereits ausgetrunken. Ich betrachtete sie. Sie tanzte teils anmutig, teils kontrolliert zu Funktionsmusik und wirkte dabei erneut unfreiwillig komisch.
Mein Kumpel Elias kam angeschlichen – oder vielmehr angekrochen. Er hatte mich erst jetzt gesehen. Ich hatte ihn und sein Delirium bereits erspäht, als ich eintraf. Kurz vorher hatte er noch zusammengesunken, sich an einem Barhocker festhaltend, an der Theke gestanden. (Er war kurz davor, die vierte Stufe zu erklimmen.) Auf allen Vieren kauerte Elias vor mir und begann sich wie ein Kleinkind, das bei seiner Mutter Schutz sucht, an meinem Hosenbein hochzuziehen. Amüsierte und irritierte Blicke der Umstehenden. Ich begrüßte ihn und half ihm hoch.
„Wer war denn die Alte?“ fragte er lallend.
„Keine Ahnung.“
„Aber du hast doch mit ihr gesprochen. Was sagt sie denn?“
„Nichts von Belang.“
„Würdest ihr wohl gerne deine Hodensammlung zeigen, was?“ bemerkte er schief grinsend.
Ich antwortete nicht und versuchte ihn zu ignorieren.
Elias verhielt sich nun unvermutet gleichgültig. „Alles klar, Mann, gib mal ne Kippe und n bisschen Kohle fürn Wodka.“
Ich öffnete mein altes Lederportemonnaie und gab ihm mein gesamtes Kleingeld: zwei Euro und siebenundzwanzig Cent. Ich überreichte ihm noch eine Zigarette, und unsicher dahinschwankend entfernte er sich, ohne sich zu bedanken. Ich schaute wieder zur Tanzfläche. Sie wurde von einem Weißhemd mit feschem Errol-Flynn-Bärtchen und zurückgegelten Haaren angetanzt. Falsch lächelnd wies sie ihn zurück.
Mein langjähriger Freund Udo, den ich zuvor im Menschengewimmel noch nicht entdeckt hatte, gesellte sich zu mir. „Wie geht’s Elias?“ fragte er amüsiert, nachdem wir uns begrüßt hatten.
„Den Umständen entsprechend.“ Nur wann sind die Umstände schon entsprechend?
„Wer war denn das reizende Fräulein, mit dem du da gerade geredet hast?“
„Irgend so ne Studentin.“
Grinsend wies Udo auf das Weißhemd. „Interessanter Typ da bei ihr ... ein Kommilitone oder ihr Zuhälter?“
Ich schwieg.
„Wie war denn das Konzert?“
„Weihnachten bei meinen Eltern ist aufregender.“
„Das tut mir leid.“ Lässig tippte er mit dem Zeigefinger gegen ihre Flasche in meiner Hand. „Übrigens, dein Bier ist fast alle“, bemerkte er mit einem vielsagenden Lächeln.
„Willst du mir eins ausgeben?“
„Vielleicht später.“
Udo verschwand in Richtung Herrentoilette, wo er Elias in die Arme lief, der ihn überschwänglich begrüßte. Ich blickte wieder auf die Tanzfläche. Sie hatte fertiggetanzt und kam auf mich zu.
„Hallo“, sagte ich.
Sie war ein wenig außer Atem, was bei mir leicht wollüstige Gedanken aufkommen ließ.
„Tanzt du nicht?“ fragte sie verspielt.
„Nur bei bevorstehender Persönlichkeitsstörung.“
Sie schaute mich mit ernüchterter Miene an. „Dein Pech.“
„Willst du was trinken?“
„Nein danke, ich hab doch noch.“
Sie griff nach ihrer noch immer in meiner Hand befindlichen Flasche und betrachtete misstrauisch den dürftigen Inhalt.
„Also, ich hol mir noch was“, ließ ich verlauten.
Ihre kleine Hand umfasste meinen Unterarm. „Warte, bring mir noch einen Gin Tonic mit. Ich gebe dir auch Geld.“
„Schon gut.“
Ich begab mich zur Theke und bestellte einen Gin Tonic und ein Bier. Ich wurde, trotz enormen Ansturms, sofort bedient. Ein Privileg, das ich genoss, seitdem ich meinen dreißigsten Geburtstag hinter mir gelassen hatte. Ich bezahlte mit meinem letzten Zehn-Euro-Schein. Direkt neben mir vernahm ich die lallende Stimme des betrunkenen Elias. Ich hörte deutlich, wie er eine stark geschminkte Dame mit verlebtem Gesicht und verblühtem Körper fragte: „Willst du ficken?“
„Bist du betrunken?“
„Jawohl!“
„Dann nicht.“
„O.k.“, erwiderte Elias und verschwand im Gewühl.
Ich kehrte zu meiner Pseudoeroberung zurück und reichte ihr das Getränk. Keck lächelte sie mich an. „Das ist aber lieb von dir.“ Sie leerte geschwind den halben Drink und musterte mich durchtrieben. „Dir gefällt die Musik hier nicht, hab ich recht?“
Ich ließ sie wissen, dass in diesem Laden nicht die Musik gespielt wurde, die meine Hüften in Wallung brachte, und dass es mir im Grunde vollkommen egal war, was lief, da ich sowieso nicht wirklich hinhörte.
„Was für Musik hörst du denn?“
Ich nannte ihr zwei oder drei Bands, die ich durchaus schätze. Eine enttäuschte Miene breitete sich in ihrem süßen Gesicht aus. „Kenn ich nicht.“
„Nicht wichtig.“
„Warum gehst du eigentlich in diesen Laden?“
„Hier gibt’s Pistazien und Salzstangen umsonst.“
„Echt, das wusste ich gar nicht“, rief sie gekünstelt naiv.
„Auf jedem Tisch steht ne Schale, und an der Theke gibt’s auch was.“
Überstürzt lehnte ich mich über das Geländer und griff nach einer halbvollen Schale mit Pistazien, die auf einem runden Tischchen stand. Die jungen Leute am Tisch warfen mir missmutige Blicke zu, protestierten aber eher zaghaft. Als ich mich mit dem Schälchen in der Hand wieder meinem Mädchen zuwandte, wurde sie gerade von einem schneidigen Jüngling umarmt. Sie erwiderte die Umarmung, küsste ihn auf seine schwitzende Wange, und beide lächelten sich dämlich an. Man kannte sich anscheinend. Dann wies sie auf mich und stellte mich diesem Knaben unnötigerweise auch noch vor. „Das ist ... wie war dein Name noch gleich? Ich kann mir Namen so schlecht merken ... Das war doch so ein komischer Name.“
Unzufrieden, mit einer halbvollen Schale Pistazien in der Hand, nannte ich erneut meinen gottverdammten Vornamen. Der Typ nannte mir den seinen und grinste mich geistesschlicht an. Ein paar bedeutungslose Sätze wurden gewechselt. Der Idiot zog sich daraufhin aufs Tanzparkett zurück. Im Augenwinkel nahm ich wahr, dass er sich angeregt mit dem Weißhemd unterhielt. Ich reichte ihr die Schale mit den Pistazien.
„Nein danke“, sagte sie abwesend und schaute auf den Bildschirm von ihrem Handy. Sie zog ihre schmalen Augenbrauen hoch und schien überrascht zu sein. „Oh, schon halb zwei. Ich muss los.“
„Jetzt schon?“
„Ja, morgen früh muss ich meinen Bruder vom Bahnhof abholen, und dann geht’s zum Sektfrühstück zu meinen Eltern.“
„Verstehe, klingt grauenhaft.“
„Wieso? Meine Eltern sind total locker, deine nicht?“
„Hält sich in Grenzen.“
„Das ist ja sehr schade.“
„Ja, ja.“
„Es war aber sehr nett und interessant, dich kennengelernt zu haben.“
„Alles klar.“
Abschließend gab sie noch folgenden einstudierten Satz von sich: „Vielleicht sieht man sich irgendwann noch mal.“
„Man kann nie wissen.“
Schnell trank sie ihren Gin Tonic leer und umarmte mich kurz, wie sie wohl schon Hunderte zuvor umarmt hatte. „Ciao.“
„Bis dann“, erwiderte ich kühl, ohne dass sie es registrierte.
Sie ging. Ich stand weiterhin da, mit dem Rücken ans Geländer gelehnt und einer viertelvollen Schale Pistazien in der Hand; die andere Hälfte hatte ich bei der Umarmung verschüttet.
Udo gesellte sich erneut zu mir. „Na, möchte sie Kinder mit dir?“
„Leck mich! ... Wenn ich nur noch ein paar Minuten zu leben hätte, wäre dieses Geschöpf die Liebe meines Lebens.“
„Hm, Pistazien.“ Udo hatte die salzigen Leckereien in meiner Hand entdeckt. Energisch griff er in die Schale. „Lass mal abhauen, hier ist es trostlos.“
„Ja ... ich gehe nach Hause.“
„Willst du mich verarschen, es ist noch nicht mal zwei Uhr!“
„Na gut, von mir aus gehen wir noch woanders hin.“
Elias kam angetorkelt und folgte uns wie ein Schatten. Seinen trunkenen Zustand hatte er wieder halbwegs unter Kontrolle. Wir begaben uns zum Ausgang und verließen das nächtliche Vergnügungsdomizil. Kaum waren wir ins Freie getreten, bot sich uns unweit der Stelle, wo Markos Angebetete gewütet hatte, ein ungemein anarchistischer Anblick. Ein Rudel Freizeitpunks hatte sich aus dem Nichts gebildet. Einige von ihnen urinierten lauthals lachend auf die Motorhaube eines Volvos und zogen sich den Zorn des Besitzers zu, dem daraufhin ein Kopf mit Stachelfrisur gegen die Nase klatschte. Ein Hauch von Eskalation war zu spüren. Doch die brisante Situation wurde postwendend durch eine interessante Begebenheit entschärft. Ein gleichfalls wie aus dem Nichts auftauchendes massives Weibsstück griff sich wahllos einen der Punks (sie hatte ein besonders schmächtiges Exemplar erwischt) und drückte ihn unsanft zu Boden.
„Na, was machst du jetzt, du kleiner Pisser?“ fauchte sie ihn an. Der völlig entgeisterte junge Mann, dermaßen überrumpelt von der Situation, lag bewegungsunfähig auf dem Rücken wie eine sterbende Kellerassel, und das Weib, mit rubineskem Gesäß auf ihm hockend, penetrant über sein Gesicht gebeugt, schrie auf ihn ein. Irgendwann ließ sie von ihm ab. Die Demütigung, die der kleine Punker über sich ergehen lassen musste, stieß wahrscheinlich an die Grenzen des Traumatischen. Die Mänade hatte triumphierend gesiegt. Auch der noch leicht aus der Nase blutende Fahrzeugführer blickte jetzt zufrieden drein. Ihm war die Genugtuung deutlich vom Gesicht abzulesen. Ruhig stieg er in seinen Wagen und rauschte davon. Dreckig lachend verschwand nun auch das Weib in der Dunkelheit. Am Ende blieb nur noch Stille, und ein beschämender, schwer definierbarer Beigeschmack blieb zurück. Sämtliche Blicke waren mitfühlend auf den verstört am Boden kauernden Punk gerichtet. Schweigend entfernten wir uns. Der Nieselregen ließ nach.
Nachdem wir eine Weile ziellos um die Häuser gezogen waren, erweckte ein dreistöckiges Jugendstilhaus unsere Aufmerksamkeit. Im Inneren wurde dem Anschein nach ein privates Tanzvergnügen veranstaltet, da musikalische Klänge nach draußen schallten und flinke Schatten an den breiten Fensterfronten vorbeihuschten. Die Hauseingangstür war weit geöffnet, und wir betraten das Treppenhaus, in dem es angenehm nach Bohnerwachs roch. Kurz darauf standen wir im dritten Stock vor einer Tür, hinter der sich der mutmaßliche Budenzauber verbarg. Jauchzendes Stimmengewirr, Frohsinn und rhythmische Musik im Wohnungsinneren ließen ausschweifende Ausgelassenheit vermuten. Wir klingelten in der Hoffnung, dass man uns Einlass gewährte. Ein konturloser Endzwanziger mit rotgrüngestreiftem Hemd und weichen Gesichtszügen öffnete die Tür. Er betrachtete uns skeptisch. Meine Hoffnung, hier auf Freigeister zu stoßen, hatte sich blitzartig zerschlagen.
„Wer seid ihr?“ fragte der vermeintliche Gastgeber. „Seid ihr eingeladen?“
„Ja“, log ich.
„Ich kenne euch aber leider nicht.“
„Wer kennt sich schon?“ lallte Elias.
Udo fragte unvermittelt: „Ist Michael da?“
„Ich glaube, hier gibt es keinen Michael“, entgegnete der Gastgeber.
„Der müsste aber da sein“, beharrte Udo.
Der Gastgeber rief nun demonstrativ in die Wohnung hinein: „Hey Leute, hört mal: Ist ein Michael da?“
Vereinzelte Stimmen ertönten: „Keine Ahnung.“ − „Wo ist der Prosecco?“ − „Mach mal die Nummer neun an.“ − „Ist das Klo besetzt?“
Er wandte sich wieder uns zu. „Also, ich kenne euch wirklich nicht.“
„Das könnte man ja ändern“, sagte ich.
„Hast du mal Heideggers Sein und Zeit gelesen?“ stieß Elias plötzlich ohne jeglichen Bezug hervor.
„Nicht jetzt“, sagte Udo.
„Wer wohnt hier eigentlich sonst noch?“ fragte ich. Ich spürte, dass der Gastgeber einen Moment darüber sinnierte, ob er Auskunft erteilen sollte oder nicht. Er entschloss sich dazu. „Also, ich, meine Freundin, Sebastian und der Jonas.“
„Deine Freundin heißt Sebastian? Wie ungewöhnlich!“
„Nein, Angelique.“
„Kenn ich“, versuchte Udo dem Gastgeber zu suggerieren.
„Die kannst du nicht kennen! Sie kommt ursprünglich aus Eppendorf bei Bochum, und sie war bis vor drei Tagen zwei Jahre in Neu Delhi.“
„So, so“, bemerkte Udo. Ich spürte, dass er langsam, genau wie ich, des Ganzen überdrüssig wurde. Dennoch wandte ich mich Vertraulichkeit vortäuschend an den Gastgeber. „Wer vergnügt sich denn hier nun so ausschweifend?“
„Ich, meine Freundin ... und Sebastian und noch andere Freunde von uns“, antwortete er.
„Und was macht der Jonas? Du sagtest doch, dass der auch hier wohnt.“
„Ja stimmt ... der studiert Grafikdesign.“
Udo schaltete sich jetzt wieder ein. „An der Hochschule für Künste?“ fragte er Interesse heuchelnd.
Unser neugewonnener Gesprächspartner schien kurzzeitig geringfügig entspannter. „Genau, Jonas studiert dort seit fünf Semestern.“
„Nein, ich wollte wissen, warum ihr ohne ihn dieses gesellige Ritual zelebriert?“ erkundigte ich mich scheinheilig lächelnd.
„Der ist bestimmt mit Michael unterwegs“, fiel mir Udo willentlich ins Wort.
„Ich kenne aber keinen Michael!“
Udo ignorierte die letzte Aussage des konsternierten Gastgebers. „Wann kommen die beiden denn wieder?“
„Äh, ich glaube ich muss jetzt wieder rein“, stotterte er, ohne Udos letzte Frage zu beantworten.
Mit einem Male fing Elias stark zu wanken an. Er schwang wild die Arme, sabberte ein wenig aus dem Mund und begann gleichzeitig lallend Gottfried Benn zu rezitieren:
„Trunkene Flut,
trance- und traumgefleckt,
o Absolut,
das meine Stirne deckt ...“
Udo packte ihn an der Schulter. „Entspann dich, mein Süßer“, forderte er ihn mit seiner tiefen, beruhigenden Stimme auf und stellte den betrunkenen Rezitator wie eine Statue behutsam an den Türrahmen.
Der Gastgeber war nun endgültig verstört. „Also, ich muss jetzt wirklich wieder rein.“
Eine junge Frau, anscheinend die Gastgeberin Angelique, lugte plötzlich durch die halbgeöffnete Tür. Sie trug ein schwarzes, taillenfreies Oberteil, braune Lederstiefel und eine rote, ovale Kunststoffbrille. Angelique hatte pechschwarze, schulterlange Haare und markante Gesichtszüge. Sie betrachtete uns mit steinerner Miene und wandte sich sofort argwöhnisch an den Gastgeber: „Wer sind die?“
„Wir sind gute Freunde von Jonas“, kam ihm Udo höflich zuvor.
„Und von Michael!“ prustete Elias heraus, während er am Türrahmen herunterrutschte oder vielmehr wie ein Regentropfen an einer Scheibe hinunterglitt.
Angelique schob sich geschmeidig am Gastgeber vorbei. Sie stand jetzt auf der Schwelle und zischte: „Der Jonas ist nicht da, der ist bei seiner Freundin in Berlin, und außerdem kenne ich euch drei Typen nicht.“
„Soweit waren wir schon“, sagte ich.
„Du hast bestimmt schon viele indische Filme gesehen, was Mädchen?“ stammelte der auf dem Boden sitzende Elias.
Angelique wandte sich an den Gastgeber. „Was ist denn das für einer?“
Ich stellte mich vor den auf dem Boden hockenden Elias. „Lass dich nicht ablenken“, sagte ich.
Der Gastgeber schien sich immer unbehaglicher in seiner Haut zu fühlen. Mit einem auffallenden Zittern in seiner hohen Stimme hauchte er förmlich: „Ich denke, es wäre besser, wenn ihr jetzt geht.“
Elias raffte sich langsam wieder auf und versuchte seine lallende Stimme im Zaum zu halten. „Das wollen wir doch bitte die junge Dame entscheiden lassen.“
„Verpisst euch endlich, ihr Wichser!“ kreischte Angelique.
„Weise gesprochen. Dürfte ich dich morgen vielleicht auf n Kaffee einladen?“ fragte Elias.
„Dürfte ich dir heute vielleicht ins Gesicht spucken!?“
Elias schien sich wieder gesammelt zu haben. „Wir könnten auch ins Kino gehen, vielleicht läuft ja so n Bollywood Filmchen.“
Der Gastgeber starrte wort- und fassungslos vor sich hin. Angelique hingegen blickte kühl auf uns. Ich befürchtete, dass es an der Zeit war, sich zu verabschieden. Udo hatte sich bereits zurückgezogen und rauchte ein paar Meter abseits des Geschehens eine Zigarette. Ich betrachtete ihn und stellte fest, dass er trotz einer der Situation entsprechenden und berechtigten Gleichgültigkeit auch eine seltsame Zufriedenheit ausstrahlte. Ich wandte mich abschließend übertrieben liebenswürdig an den verängstigten Gastgeber und seine Schnepfe. „Wir müssen jetzt leider schon gehen. Es war dennoch sehr angenehm bei euch.“
„Fick dich doch, du Penner!“ fauchte Angelique mich an. Mit einem energischen Ruck zog sie den Gastgeber zurück in die Wohnung und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Einen Moment standen Elias und ich wie angewurzelt da.
Udo gesellte sich wieder zu uns. „Sympathisches Mädchen.“ Er reichte mir seine Zigarette. Ich nahm zwei tiefe Züge und gab sie ihm zurück. Unbefriedigt verließen wir das Haus und verirrten uns abermals im Treiben der Nacht.
Irgendwann äußerte Elias den Wunsch, eine Kleinigkeit zu essen. Wir schlenderten zu der allabendlich vielbelebten Straßenkreuzung im Herzen des Vergnügungsviertels, wo es eine große Auswahl von osmanischen Imbissläden gab. Elias kaufte sich einen Döner, nachdem er von Udo ausreichend Kleingeld erbettelt hatte. Während Udo und ich vor der Imbisstür warteten, bis Elias sein Abendessen vertilgt hatte, beobachtete ich beiläufig, wie ein halbes Dutzend Straßenpunks auf der gegenüberliegenden Straßenseite vergnügt grölend einen schon etwas ausgedienten Fußball hin und her kickten. Sie spielten recht zaghaft, und es schien niemanden weiter zu interessieren. Das nächtliche Leben auf der Kreuzung ging seinen gewohnten Gang. Die Menschen schlenderten umher, redeten, pöbelten, tranken, lachten oder schrien mitunter. Plötzlich jedoch gab es einen dumpfen Knall, da der Ball von einem der Punks gegen einen Kleintransporter geschossen wurde, woraufhin der Fahrzeugführer den Schützen mit drastischen Flüchen belegte. Die Verwünschungen verschafften dem Fahrer jedoch keine Befriedigung, da er vom lautstarken Gekläffe der Mischlingshunde der Nonkonformisten übertönt wurde. (Eine bizarre Eigenart dieser Tiere ist: wenn sie nicht gerade fremde Leute oder ihre Herrchen anbellen, kläffen sie sich eben permanent selber an, was zur Folge hat, dass sie von ihren betrunkenen Besitzern lallend und demnach unzulänglich zur Ordnung gerufen werden.) Existieren eigentlich irgendwo auf der Welt Straßenpunks, die nicht auch gleichermaßen Hundebesitzer sind? Wenn ja, dann wohl ausschließlich in China. Der von dem Laster abgeprallte Ball landete nun direkt vor einer Gruppe angetrunkener, weiblicher Teenager, von denen eine zwar etwas unbeholfen, aber energisch die Lederkugel wieder zurück zu den Hundemännern kickte. Der erste verhaltene Beifall von Umstehenden ertönte. Angestachelt durch den Applaus der Zuschauer, wurde die Pille von einem der Punks jetzt quer über die Straßenkreuzung geschossen – direkt zu uns hinüber. Ich konnte nicht widerstehen und trat den Ball, nicht ungekonnt, wie ich fand, zu den Punks zurück. Erneut ertönte Beifall. Das Ganze ging nun eine Weile so hin und her. Inzwischen hatten sich auch einige der Schlachtenbummler auf der Kreuzung eingefunden, um dem Treiben beizuwohnen. Vorerst wurden keine Autofahrer belästigt, da der Sinn des Spieles darin bestand, den Ball immer wieder gezielt auf die andere Straßenseite zu befördern, ohne dass er von einem Fahrzeug abprallte und demzufolge die Richtung geändert hätte. Lediglich ein Großraumtaxi wurde in Mitleidenschaft gezogen, und das auch nur, weil eine der betrunkenen Halbwüchsigen ihren Spieltrieb nicht zügeln konnte und den Ball vollkommen ziellos durch die Gegend bolzte. Dies brachte ihr zu Recht etliche Buhrufe ein, und beschämt zog sie sich aus dem Spielgeschehen zurück. Doch sie fand schnell eine andere Beschäftigung, indem sie ihre Zunge im Munde eines smarten Jünglings verschwinden ließ. Eine Streife näherte sich im schleichenden Tempo der Kreuzung. Die verbissenen Blicke der zwei uniformierten Fahrzeuginsassen ließen vermuten, dass sie gerne mitspielen wollten. Schnell verließen sie ihr Gefährt und brachten sich sofort in das Geschehen ein. Die Aufgabe der beiden Männer bestand darin, den Ball zu schnappen, um dadurch den Wettkampf zu beenden. Doch so leicht machte man es ihnen nicht. Immerzu flog die Kugel hoch über ihre Köpfe, was jedoch deren Sportsgeist nicht im Geringsten schmälerte. Jedes Mal, wenn der Ball sicher die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatte, brach tosender Jubel aus, die Hunde bellten ekstatisch, und es entstand eine ausgelassene Volksfeststimmung. Zusätzlich schwebte ein verspielter Hauch von Anarchie in der Luft. Ein zweiter Streifenwagen traf zur Verstärkung auf dem Spielfeld ein. Der Wettkampf gestaltete sich nun schwieriger, da sich die Uniformierten jetzt auf allen vier Straßenseiten postierten. Dennoch ließen geschickt getretene Bälle die Männer weiterhin ins Leere greifen und dabei beinahe verzweifeln. Dann kam es zu einer überraschenden Wende. Ein miserabel geschossener Ball prallte ungünstig von einer Verkehrsampel ab und landete direkt in den Händen eines Uniformierten, der diesen im Kofferraum verschwinden ließ. Das Spiel war beendet. Verhaltene Buhrufe ertönten, und man blickte in unzählige enttäuschte Gesichter.
„Hier muss doch noch was passieren!“ äußerte sich ein betrunkener Schlachtenbummler lauthals. Ich für meinen Teil entschied, nach Hause zu gehen. So verabschiedete ich mich kurzerhand von meinen beiden Freunden und brach auf. Udo und Elias beabsichtigten, abschließend dem neuen Club einen kurzen Besuch abzustatten.
Die Luft hatte sich erwärmt, und die vom Regen befeuchteten Straßen trockneten bereits. Ich hatte mich noch keine hundert Meter vom Ort des Geschehens entfernt, da kamen mir etliche Fahrzeuge der Staatsmacht entgegen. Sie rasten mit aufheulenden Sirenen und blau blinkenden Lichtern zielstrebig an mir vorbei in Richtung „Sportplatz“. Einen kurzen Moment später hörte ich das Klirren von zersplitterndem Glas, wildes Hundegebell, hysterisches Mädchengekreische und unverständliche Laute aus einem Megaphon. Offenbar begann der eigentliche Wettkampf erst jetzt. Vermutlich forderte die Masse aber auch nur Revanche? Man würde morgen aus der Zeitung erfahren können, wer das Spiel für sich entscheiden konnte. Als ich zu Hause eintraf, war ich vollkommen nüchtern und auch hundemüde. Nachdem ich eine halbe Flasche Mineralwasser geleert und darauf ausgiebig Wasser gelassen hatte, ging ich ins Bett. Kurz bevor ich einschlief, vernahm ich eine grölende, kehlige männliche Stimme, die von der Straße durch mein geöffnetes Fenster zu mir drang. Im Halbschlaf hörte ich lallende Beschimpfungen, die wohl einer mir unbekannten Person galten. Es war allerdings auch gut möglich, dass dieses betrunkene Etwas unter meinem Fenster einfach nur grundlos vor sich hinfluchte. Irgendwann hatte sich der Bursche dann so richtig warmgeschrien und schien an seinem Tun immer mehr Gefallen zu finden. Um seinen Hasstiraden gegen alle und jeden noch ein würdiges i-Tüpfelchen zu verleihen, brüllte er am Schluss seiner trunkenen Ausführungen aus vollem Herzen: „Ein Hoch auf den Führer!“
Alkoholismus lässt gelegentlich tief verborgene Empfindungen und Weisheiten an die Oberfläche gelangen, die ansonsten wohlgehütet im Verborgenen schlummern würden. Nachdem die Laus ihre Zuneigung unserem Reichskanzler a. D. gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte, verstummte sie gänzlich, und die Nacht hüllte sich wieder in einen Mantel der Stille. Ich schloss meine Augen und begab mich augenblicklich in Morpheus’ Arme.