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3. Fürsorge

Mein prähistorischer Radiowecker signalisierte mir, dass es bereits Mittag war. Ich ging auf meinen bescheidenen Balkon und musste feststellen, dass es draußen für die Jahreszeit ungewöhnlich warm war und sogar die Sonne zwischen den Wolken hervorblinzelte. Drinnen schlenderte ich umher und entdeckte auf dem Schreibtisch meinen Notizbogen mit Aufzeichnungen, die ich Tage zuvor oder womöglich auch letzte Nacht vor dem Schlafengehen gekritzelt hatte. Rasch überflog ich den Inhalt. Ich erkannte schnell, dass ich das, was ich mit der Niederschrift dieser Zeilen der Nachwelt hinterlassen wollte, nun selber nicht mehr verstand, und zerriss das Ganze. Das Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer ab.

„Hallo.“

„Hier spricht deine Mutter“, schallte es vorwurfsvoll in meinem Ohr.

„Hallo Mutter.“

„Hast du keinen Namen?“

„Mutter, was ist los?“

„Nichts ist los. Ich wollte mich nur mal melden, du rufst ja nie an.“

„Warum soll ich denn anrufen, wenn es keinen Grund gibt?“

„Du könntest ja einfach mal so anrufen.“

„Das brauche ich nicht, du kommst mir ja zuvor.“

„Ja, genau, weil du dich nie meldest.“

„Gäbe es einen Grund, würde ich mich schon melden.“

Ich vernahm ein seufzendes Ausatmen am anderen Ende der Leitung. „Und? Wie geht es mit deinem Studium voran?“

„Unaufhaltsam.“

„Dann bist du also bald fertig? Das würde Vater auch sehr interessieren.“

„Ich bin fertig, wenn’s vorbei ist.“

„Und wann ist das, bitte schön?“

„Irgendwann.“

„Musst du denn jetzt noch − wie heißt das noch gleich? − Belege oder Scheine schreiben?“

„Als ich letztens zu Besuch war, habe ich euch meine akademische Laufbahn ausführlich erklärt.“

Traurigerweise war meine Mutter einfältig, borniert und obrigkeitshörig; mein Vater war unwesentlich aufgeschlossener, aber dennoch funktionierte er genau wie seine bessere Hälfte. Beide lebten in ihrer „perfekten“ kleinen Welt, und darin waren sie glücklich, zufrieden und auch gemeinsam einsam. Sie hatten ihre Grenzen und bürgerlichen Ziele bereits vor langer Zeit abgesteckt – ich hingegen wusste trotz meines fortgeschrittenen Alters noch nicht einmal, wo sich meine Grenzen befanden. Meine Eltern glaubten oder hofften vielmehr, dass auch ihr Fleisch und Blut ihre Weltanschauung teilen würde. Mittlerweile war ich erwachsen genug geworden, um sie in diesem Glauben zu lassen. Zwei- bis dreimal im Jahr besuche ich sie in ihrem Kartenhaus (ich hoffe, dass es niemals zusammenfällt) und erfülle meine Pflicht als einziger Sohn. Der Anlass des Besuchs ist zumeist der Geburtstag meiner Mutter, meines Vaters oder der von Jesus Christus.

„Weißt du denn schon, was du nach deinem Studium machen willst? Du solltest dich am besten jetzt schon einmal umschauen. Verschwende bloß nicht so viel Zeit.“

Meiner Mutter ging es nur sekundär darum, ob ich ein Studium beendete und sofort darauf einen gesicherten Berufsweg einschlug; primär beschäftigte sie viel mehr, was die Verwandten dachten und hinter ihrem Rücken tratschten, warum der Junge (der „Junge“ war ja immerhin schon einunddreißig Jahre alt) denn noch immer keiner regelmäßigen Arbeit nachging.

„Ich tue den ganzen Tag nichts anderes, besonders sonntags. Hast du sonst noch was auf dem Herzen, Mutter?“

„Sei nicht so frech und sag nicht immer einfach Hallo wenn du ans Telefon gehst, das ist unhöflich.“

„Was ist denn bitte an einem Hallo unhöflich?“

„Es kann ja mal jemand Wichtiges sein, eine Behörde oder einer deiner Professoren ...“

„Hier ruft vielleicht einmal im Jahr jemand Wichtiges an, und der wird auch ein schlichtes Hallo überleben.“

„Ich meine ja nur.“

„Gut, Mutter, möchtest du sonst noch was wissen?“

„Also, kann ich Vater sagen, dass du demnächst mit dem Studium fertig bist?“

„Du kannst ihm sagen, was du willst.“

„Vater und ich möchten doch nur wissen, wie du dir deine weitere Zukunft vorstellst.“

„Meine weitere was?“

„Deine Zukunft Junge.“

„So ähnlich wie eure ... nur ohne Tennisspielen, Firmenwagen, neue Wohnzimmereinrichtung oder drei Wochen Urlaub im Fünf-Sterne-Hotel auf La Gomera.“

„Wie meinst du das?“

Ich versuchte einen milderen Ton anzustimmen. „Nichts, Mutter, war nur Spaß. Also noch einen schönen Sonntag. Ich will jetzt frühstücken.“

„Jetzt? Wann bist du denn aufgestanden, Junge?“

„Gegen zwölf Uhr“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Gegen zwölf? Vater und ich sind heute schon seit acht Uhr auf den Beinen.“

„Das freut mich für euch.“

„Sei nicht so sarkastisch.“

„Gebrauche bitte keine deinem Naturell widersprechenden Eigenschaftswörter.“

„Wie bitte?“

„Nichts.“

Meine Mutter hatte kein Glück mit Wörtern. Wenn sie Adjektive wie sarkastisch oder zynisch verwendete, dann klang das ebenso unpassend und ungewöhnlich, als würde ein verschwitzter Bauarbeiter bei seiner Arbeit Nomen wie Seidenmalerei oder Beweggrund benutzen.

„Also“, fuhr ich ungeduldig fort, „können wir jetzt langsam auflegen, mein Frühstück wird sonst kalt.“

Meine Aussage entsprach nicht der Wahrheit.

„Was soll denn da kalt werden?“ fragte sie in garstigem Ton. „Du trinkst doch weder Tee noch Kaffee.“

„Mein Frühstück besteht heute aus einem Gemüseeintopf mit Mettbällchen und zwei Sesambrötchen von gestern“, sagte ich und wusste genau, dass ich sie damit brüskieren würde.

„Du großer Gott, so etwas kann man doch nicht zum Frühstück essen.“

Obwohl ich erst vor kurzem aufgestanden war, beschlich mich langsam wieder Müdigkeit. „Auch wenn es nicht deine Zustimmung findet, so wird es geschehen.“

„Na, du musst ja wissen, was du tust, du bist ja schließlich alt genug.“ Beiläufig bemerkte sie: „Übrigens, Vater und ich haben gestern zwei neue Lampen für das Esszimmer gekauft.“

„Schön.“

„Brauchst du nicht auch mal neue Lampen?“

„Ich habe Lampen.“

„Die sind doch schon alt und hässlich, und so viel, wie du rauchst, sind die bestimmt schon vollkommen vergilbt.“

Mich überfiel das Bedürfnis eine Zigarette zu rauchen. „Sie leuchten hell und erfüllen ihren Zweck.“

„Wie du meinst. Warst du in letzter Zeit wenigstens mal wieder beim Friseur?“

Ich bekam Lust, mich wieder schlafen zu legen. Am besten mit brennender Zigarette. „Nein, Mutter, ich wollte warten, bis wir beide zusammen hingehen.“

„Zusammen?“

Mein Gemüt schwankte zwischen Gereiztheit und Resignation. „Oh Gott, Mutter, ich schneide mir die Haare selbst, wenn mir danach ist.“

„Danach sieht’s auch aus.“

„Also gut, Mutter, hau rein.“

„Was?“

„Nichts.“

„Na schön, ich melde mich dann in den nächsten Tagen noch mal.“

„Es eilt nicht.“

„Sei nicht immer so unhöflich. Was macht das bei Bewerbungsgesprächen auch für einen Eindruck, wenn du immer so unhöflich bist und mit schlecht geschnittenen Haaren daherkommst ... Hast du mittlerweile überhaupt etwas Anständiges zum Anziehen?“

Hätte es an diesem Tag eine mikroskopische Chance für zufriedenstellende Laune gegeben, so war sie spätestens jetzt verspielt. „Gut, Mutter, ich lege jetzt auf.“

Meine Mutter stimmte erneut ihren klagenden Unterton an. „Ich meine es doch nur gut, Junge.“

„Das ist sehr zuvorkommend von dir.“

„Auch dein Vater macht sich Sorgen“, jaulte sie.

„Lass gut sein, Mutter.“

Einen Moment herrschte vorwurfsvolles Schweigen. Doch Schweigen war eine Eigenschaft, die meine Mutter nicht sehr lange in Anspruch nahm.

„Ach, was ich noch erzählen wollte, bevor ich’s vergesse, vorgestern habe ich Anna in der Stadt gesehen, als ich in der Straßenbahn saß. Ich habe gewunken und gegen die Scheibe geklopft, aber sie hat mich nicht gesehen und auch nicht gehört.“

Ich schwieg.

„Hast du denn in letzter Zeit noch mal was von ihr gehört?“

„Nein!“

Unmittelbar griff ich nach der Zigarettenschachtel, die auf meinem Bett lag. Ich zog gereizt eine der beiden letzten Zigaretten aus der Packung, entzündete sie und inhalierte gierig.

„Möchte sie eigentlich irgendwann wieder zurück in ihre Heimat? Und wie geht es ihrer Familie überhaupt?“

„Ich habe keine Ahnung, der Kontakt wurde eingeschläfert“, sagte ich, Rauch ausstoßend. „Seit knapp zwei Jahren hab ich nichts mehr von ihr oder ihren Eltern gehört.“

„Rauchst du etwa gerade?“

„Ja, Mutter.“

„Musst du denn unbedingt rauchen, wenn wir telefonieren?“

„Es überkam mich einfach. Stört dich der Rauch etwa?“

Meine Mutter ignorierte die Frage und hielt sich erfolgreich an den vorwurfsvollen Tonfall.

„Anna sagte einmal zu mir, dass du sie immer wieder vernachlässigst hast ...“

„Wahrscheinlich wusste sie nicht, über was sie sonst mit dir reden sollte“, unterbrach ich sie bissig. Diese Bemerkung war verletzend, doch meine Mutter bemerkte es nicht, da sie sich immer nur auf sich selbst konzentrierte und sowieso nie ernsthaft zuhörte. Außerdem hörte sie ohnehin nur das, was sie hören wollte; wie beispielsweise das geräuschvolle Auspusten von Rauch.

Ich versuchte abschließend einen versöhnlichen Tonfall anzustimmen, den sie sicherlich auch nicht registrierte.

„Also gut, Mutter, noch einen angenehmen Sonntag.“

„Mach’s gut, Junge. Und denke bitte daran, was für die Uni zu tun.“

Ich legte auf und blickte einen Moment düster vor mich hin. Dann ging ich in die Küche, schaltete den Herd ein und machte den Gemüseeintopf warm. Während ich mit der Schöpfkelle mechanisch die Suppe umrührte, begann ich unwillkürlich in Erinnerungen zu schwelgen. Ich erinnerte mich an bizarre Ereignisse, die bereits ein paar Jährchen zurücklagen.

Deplatziert

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