Читать книгу Familienurlaub könnte so schön sein, wenn bloß Mutter nicht mit dabei wäre ….. Band 2 - Jörn Kolder - Страница 3
Urlaubsvorbereitungen oder Sport ist Mord
ОглавлениеFrieder Bergmann hatte vehement darauf bestanden, sich diesmal an einen nach seinen Worten „abenteuerlicheren“ Urlaub heranzuwagen. Was er darunter verstand konnte er so genau selbst nicht erklären, jedenfalls schien es für ihn wichtig zu sein, sich mehr in bergische Gefilde zu begeben und offensichtlich wollte er auch mehr erleben als im vorigen Urlaub. Seit er vor einem halben Jahr überraschend Referatsleiter geworden war, saß er noch mehr als früher in Beratungen. Sein Bewegungsraum reichte vom Büro bis zur Raucherinsel und mittags bis zur Kantine. Dort wurde ganz hervorragend gekocht, und Bergmann stellte selber fest, dass er immer mehr aus dem Leim ging. Da er ständig teure Anzüge trug kaschierten diese seine über den Gürtel hängende Wampe gnädigerweise etwas. Dennoch war er mit seinem Aussehen und seiner miesen Kondition nicht zufrieden. Wenn er sich zu Hause, nur mit der Unterhose bekleidet, im bodentiefen Spiegel im Profil betrachtete, war über diesen Anblick nicht erbaut. Nicht nur seine unvorteilhafte Figur bedrückte ihn, sondern auch seine Kurzatmigkeit. Fest entschlossen, diese visuellen und körperlichen Schwachstellen zu beseitigen, betrat Bergmann eines Tages nach Feierabend ein Sportgeschäft. Er ließ sich eingehend beraten und verließ den Laden dann mit in einer Tüte befindlichen sehr angesagten Laufschuhen, einer gut aussehenden Trainingshose, und einer edlen Sportjacke. Er hatte dafür knapp 300 Euro hinlegen müssen, aber das war ihm seine Gesundheit locker wert. Sein Plan war, am Donnerstagabend den ersten Auslauf zu starten. So könnte er am Freitag einen eventuell vorhandenen Muskelkater auskurieren, und am Wochenende wieder Kondition auftanken. Bis zum Stadtpark waren es zu Fuß von seiner Wohnung aus keine 10 Minuten. Gut gelaunt und bester Dinge erreichte Frieder Bergmann das Gelände. Der Park war von schmalen Kanälen eingerahmt, und auf dem Areal gab es eine Vielzahl von mit feinkörnigem Schotter bestreuten Wegen. Bergmann wollte heute nur seine Möglichkeiten vorsichtig austesten und es nicht übertreiben. So begann er mit einem leichten Trab, den er nach 400 Metern wegen Atemnot erst einmal unterbrechen musste. Nach einer kurzen Pause setzte er sich wieder in Bewegung, und als der Weg eine Kurve machte, sah sich Bergmann plötzlich einem sich langsam nähernden großen Hund gegenüber. Ein Besitzer des Tieres war nicht sichtbar. Bergmann hatte Angst vor Hunden und machte auf dem Absatz kehrt. Diesmal war er deutlich schneller, den er hörte in seinem Rücken, dass der Hund seine Verfolgung aufgenommen hatte. Es dauerte nur kurze Zeit, dann hatte ihn das Vieh eingeholt und lief Drohgeräusche ausstoßend vorerst neben ihm her. Bergmann lief ein Angstschauer den Rücken herunter und er setzte darauf, möglichst schnell zum Ausgang des Parks zu gelangen. In seiner Panik bog er falsch ab, und bewegte sich wieder tiefer in den Park hinein. Mittlerweile hatte der Hund begonnen, nach Bergmanns Beinen zu schnappen. Im Laufen konnte er die Attacken der Töle nicht abwehren, also nahm er das Tempo raus, und sah sich angestrengt nach einem Gegenstand um, mit dem er das aufdringliche Vieh auf Distanz halten könnte. Ein am Weg liegender Knüppel erschien ihm geeignet. Er griff sich das Holzstück und blieb stehen. In 2 Meter Abstand umkreiste ihn der Hund mit geifernden Lefzen. Dazu kam ein grollendes Knurren aus seiner Kehle, das Bergmann an einen kurz vor dem Ausbruch stehenden Vulkan erinnerte. Die Bestie starrte ihn aus blutunterlaufenen Augen an, und Bergmann erwartete jetzt einen Angriff. Tatsächlich setzte der Höllenhund zur Attacke an, kam immer näher und wollte sein Opfer mit seinen furchterregenden Zähnen wieder am Bein packen. Mit dem Mut der Verzweiflung schwang Bergmann seinen Knüppel und traf das aggressive Vieh mit einem kräftigen Hieb auf den Rücken. Der Hund jaulte auf, und zog sich aufgrund der unerwarteten Gegenwehr ein Stück zurück, um Anlauf zu nehmen und den Mann anspringen zu können. Bergmann ahnte, was auf ihn zukommen würde, und nahm allen Mut zusammen. Als Zerberus zum Sprung ansetzte war Frieder Bergmann plötzlich eiskalt. Die auf ihn zufliegende gräßliche Fratze beeindruckte ihn nicht, und er drosch dem struppigen und ungepflegten Gesellen den Knüppel mit aller Wucht auf die empfindliche Nase. Die Flugbahn des Viehs endete nicht an Bergmanns Körper, sondern auf dem Boden. Winselnd schlich der Köter ein Stück weg. Plötzlich ertönte ein Pfiff, und der Hund trollte sich. Einen Moment später erschienen zwei junge Kerle und näherten sich Bergmann, der Hund hielt sich verschreckt hinter ihnen. Einem der beiden Typen war das Gesicht mit eitrigen Pickeln übersäht, er sah aus wie ein Streuselkuchen. Der andere war so breit wie hoch, er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift "Fit for fun".
„Jetzt mal langsam Alter“ blaffte ihn der Pickelige an „wie kommst du dazu, unseren Hund zu schlagen?“
„Er hat mich angegriffen“ keuchte Frieder Bergmann noch ohne Puste „Sie sollten das Tier besser an der Leine führen“ schlug er vor.
„Was wir machen geht nur uns alleine was an Opa“ erwiderte der andere „und dass du Franz Ferdinand geprügelt hast ist doch der Gipfel. Jetzt werden wir mit ihm zum Tierarzt gehen müssen und das kostest `n Haufen Kohle. 50 Euro und die Sache ist vergessen.“
„Wie Sie vielleicht festgestellt haben bin ich in Sportbekleidung unterwegs und habe demzufolge kein Geld dabei. Außerdem denke ich nicht daran Ihnen Geld zu geben, die Schuld an dem Vorfall liegt eindeutig bei Ihnen als Halter des Hundes“ argumentierte Frieder Bergmann.
„Hör` mal zu Vati“ wurde der andere jetzt lauter „wenn du weiter so rumzickst gibt es eine Abreibung, die du so schnell nicht wieder vergessen wirst.“
Frieder Bergmann versuchte einen Ausweg aus dieser äußerst unangenehmen Situation zu finden, und stellte nach einer kurzen Analyse fest, dass seine Chancen nicht so gut standen. Sich mit den beiden Typen und dem Hund anzulegen hielt er für aussichtslos, er würde mächtige Prügel beziehen und wenn sich der Hund noch in die Auseinandersetzung einmischte wäre er wohl vollends unterlegen. Er musste seine Widersacher mit einem Trick dazu bewegen, zunächst friedfertig zu bleiben, und selbst aus dem verdammten Stadtpark heraus zu kommen.
„Na gut“ gab er scheinbar kleinlaut zu „Sie bekommen das Geld. Dazu muss ich aber erst nach Hause gehen.“
„Und wir warten hier auf dich und du kommst wieder brav zurück“ höhnte der andere „für wie blöd hältst du uns eigentlich. Zieh‘ deinen Jogginganzug und die Schuhe aus, dann kannst du abhauen.“
Der Hund unterstrich diese Aussage mit einem giftigen Knurren und schlich in einem noch respektvollen Abstand um Frieder Bergmann herum. Dieser sah sich jetzt an drei Fronten bedrängt, denn die beiden Typen kamen zudem noch aus unterschiedlichen Richtungen auf ihn zu. Mehr der Form halber schwang er den Knüppel, was die Typen mit einem meckernden Lachen quittierten. In diesem Moment beschloss Frieder Bergmann das zu tun was sie ihm vorschrieben, denn man sah, hörte und las genug über dumpfe und brutale Gewalt, das wollte er für seinen Teil unbedingt vermeiden und an dieser abgelegenen Stelle im Stadtpark war Hilfe sehr unwahrscheinlich. Schnell schlüpfte er vor den Augen der feixenden Kerle aus Jogginganzug und Laufschuhen, und als sie ihm mit wegscheuchenden Handbewegungen bedeuteten, dass er verschwinden könne, lief er nur mit Unterwäsche und Socken bekleidet sofort und schnell los, denn sie machten sich noch den Spaß, Franz Ferdinand auf ihn zu hetzen, um ihn aber bald wieder zurückzupfeifen.
Ein neues Problem tat sich vor Frieder Bergmann auf. Der Stadtpark war von Kanälen umgeben und um diesen verlassen zu können, musste er zwangsläufig eine der vielen Brücken überqueren. Gerade an diesen Stellen hatten sich schon vor über hundert Jahren die ersten Gaststätten angesiedelt und die dazu gehörigen Biergärten waren aufgrund des schönen Wetters heute bis auf den letzten Platz besetzt. Bergmann drückte sich vorsichtig vorwärtsschleichend hinter den Bäumen herum und sondierte auf diese Weise mehrere Stellen, aber das Bild war überall das Gleiche. Menschen über Menschen, die aßen und tranken, oder über die Brücken zur Insel hin und zurück paradierten. Frieder Bergmann war in seiner Dienstgarderobe - er trug täglich einen Anzug - eigentlich immer an einem seriösen Auftritt interessiert und so bevorzugte er gedeckte Farben. Im Gegensatz dazu hatte er die Eigenart, sehr farbenfrohe Unterwäsche zu tragen und wollte damit seiner noch einigermaßen jugendlichen Erscheinung Rechnung tragen, Feinrippunterwäsche lehnte er strikt ab. Insgeheim betrachtete er diesen Kleidungsstil als Aufbegehren gegen das Establishment (obwohl er es ja selbst mit verkörperte), denn irgendwie war bei ihm immer die Sehnsucht hängengeblieben, aus dem Hamsterrad der beruflichen und sozialen Karriere auszubrechen. Da er das nicht konnte und auch nicht richtig wollte protestierte er eben mit seinem Schlüpfer dagegen, eine geheime Revolte im Untergrund also. Heute trug er eine schwarz gelb längsgestreifte Unterhose, denn im Herzen war er Dynamo Dresden Fan, auf dem Hinterteil des Kleidungsstückes war das Vereinslogo aufgedruckt. Sein Unterhemd war analog gestaltet und in seiner Verwirrung dachte er nicht daran, dass er noch ein Basecap trug, welches ebenfalls in diesem Muster gehalten war, so dass Frieder Bergmann jetzt einer überdimensionalen Hummel ähnelte. Er hätte viel darum gegeben, wenn er wie dieses Insekt in der Lage wäre, sich in die Luft zu erheben und so ganz einfach zu seiner Wohnung fliegen könnte. Da er aber aus vielerlei Gründen dazu eben nicht in der Lage war musste er den Weg zu seiner Behausung eben zu Fuß zurücklegen. Mithilfe seines analytischen Verstandes hatte der Mann seine Handlungsalternativen aufbereitet und kam auf drei.
Erstens: er überwand die Distanz zu seiner Wohnung, also ungefähr 800 Meter, im Dauerlauf. Diese Strecke würde aber immer wieder durch vielbefahrene Straßen unterbrochen werden an denen er zwangsläufig pausieren musste.
Zweitens: er gab sich lässig und schlenderte wie ein Freak durch die Straßen, zog das Basecap ins Gesicht und scherte sich nicht um die Blicke der Leute. Schließlich gab es ja sogar Typen, die splitternackt wandern gingen.
Drittens: er suchte sich eine Stelle an einem der Kanäle und durchwatete diesen und käme so möglicherweise relativ unbehelligt am größten Trubel vorbei.
Die Sache mit dem Kanal verwarf er schnell wieder, sie brachte eigentlich gar nichts. Auch war er von seinem vorherigen Training etwas ermattet und glaubte kaum, die 800 Meter in einem anspruchsvollen Tempo durchzustehen. Also holte er tief Atem, drückte seine Kopfbedeckung weit nach unten, trat hinter den Bäumen hervor und marschierte auf die Brücke zu. Anfangs konnte er recht ungefährdet in der Menschenmenge untertauchen aber nur solange, bis die ersten Kinder bei seinem Anblick aufschrien. Das waren keine ängstlichen Lautäußerungen, eher klangen sie begeistert. Im Nu war Frieder Bergmann von einer Traube von Zwergen umringt, die wild durcheinander plappernd von ihm wissen wollten, was er denn für ein komischer Onkel wäre. Jetzt war genau das eingetreten was Bergmann tunlichst vermeiden wollte: er stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. In dieser Stimmungslage tat er aus Verzweiflung genau das Falsche, denn er brüllte die Kinder an, dass sie verschwinden sollten. Erstes Heulen wurde laut und die besorgten Eltern näherten sich jetzt dem Ort an dem Bergmann sich aufhielt. Dieser war nun vollkommen durcheinander und bahnte sich ohne Rücksicht auf Verluste einen Weg durch die Menschen. Empörte Worte wurden laut und Frieder Bergmann verfiel jetzt in Trab, um diesen Ort schnell hinter sich lassen zu können. Bis zur ersten Ampelkreuzung ging alles ganz gut, dann musste er neben anderen Passanten warten. Verwunderte Blicke trafen ihn, manche schienen von seinem Anblick amüsiert zu sein, andere eher angewidert. Bei grün sprintete er los und kam ganz gut bis zur nächsten Ampel (die ebenfalls rot zeigte), jetzt musste er noch knapp 200 Meter schaffen und er entspannte sich etwas. Unsicher musterte er seine Umgebung und als er auf der anderen Straßenseite den Amtsleiter erkannte, der wohl auf dem Weg in einen der Biergärten war, brannten bei ihm alle Sicherungen durch. Ohne auf die Ampelfreigabe zu warten startete er mit gesenktem Kopf und dem Mut der Verzweiflung los und schlängelte sich zwischen den wild hupenden Autos durch, ohne Kollision kam er auf der anderen Seite an, aber die Autofahrer waren durch den hektisch durch die Lücken flutschenden und an eine Hummel erinnernden Mann dermaßen irritiert, dass zunächst vier Fahrzeuge ineinander krachten. Frieder Bergmann wurde durch diesen Vorfall angespornt jetzt höchstes Tempo vorzulegen und er konnte von Glück sagen, dass sich die Leute an der Kreuzung mehr für die verkeilten Autos interessierten, als für den Verursacher dieses Debakels. So kam er relativ unbehelligt (außer von verwunderten Blicken verfolgt) bis zur Haustür seines Hauses und realisierte in diesem Moment, dass sich sein Wohnungsschlüssel in der Gesäßtasche der Jogginghose befand. Hektisch drückte er die Klingel, aber niemand ging an die Sprechanlage. Seine Frau Petra war zum Nachtdienst im Krankenhaus, das wusste er. Claudia hatte sich mit Niels in Kino abgemeldet, aber sein Sohn Rüdiger musste doch da sein. Bergmann konnte in seinem Aufzug so nicht länger auf der Straße herum stehen und suchte panisch nach einem Versteck. Als er sich umblickte wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie wenig Deckung er hier finden würde. Auf der anderen Seite musste er die Tür im Blick behalten, um Rüdiger abzupassen. So schlich er in die Umzäunung der Mülltonnen und hinter einer verborgen hatte er Sicht auf das Haus. Nach einer halben Stunde fragte er sich immer wütender wo sich sein Sohn rum trieb, aber dieser Gedanke verflog sofort wieder, denn jetzt öffnete sich die Haustür und Schulze, sein Nachbar, ein Rentner, erschien mit einem Mülleimer auf der Bildfläche. Der Mann war nicht unfreundlich aber extrem pingelig und Frieder Bergmann war schon das eine und andere Mal mit ihm aneinander geraten als es darum ging, welcher Müll denn nun in welche Tonne gehöre. Schulze hatte ihn einmal kurzerhand verdächtig, einen alten Reifen in den Behälter geworfen zu haben, was Bergmann nie im Leben tun würde. Allerdings lag der Schluss des anderen Mannes nicht außerhalb des Möglichen, denn es handelte sich um den Reifen eines kleinen Lastenanhängers, wie Bergmann einen besaß. Jedenfalls kam es zu einem erregten Disput und sobald einer aus der Bergmannschen Familie etwas in die Tonnen warf war Schulze von diesem Tag an wenige Augenblicke später vor Ort, um den Einwurf zu kontrollieren. Schulze hier und in diesem Aufzug zu begegnen war deshalb überhaupt keine Option für Bergmann, und so wuchtete er, noch außerhalb der Blickweite des Rentners befindlich, den Deckel des Wertstoffcontainers hoch und war mit einem eleganten Satz darin verschwunden. Den Deckel zog er von innen zu. Für den Fall der Fälle vergrub er sich noch unter den darin befindlichen Abfällen, das viele Styropor und etliche Plastikflaschen tarnten ihn gut und es fühlte sich alles in allen auch nicht sonderlich unbequem an. Dermaßen versteckt kam Frieder Bergmann nun in den Genuss eines Dialoges, den Schulze mit einem anderen Hausbewohner führte.
„Ich sage Ihnen, die Bergmanns sind nicht in der Lage, den Müll ordentlich zu trennen. Dass sie dazu zu blöd sind würde ich nicht behaupten, schließlich arbeitet der Mann ja in einer Behörde und seine Frau ist Ärztin. Sie wird ja wohl ordentlich zu tun haben, man hört doch schon einiges über die Arbeitsbelastung in den Krankenhäusern. Dass er aber ein Held der Arbeit ist, wage ich zu bezweifeln. Sehen Sie mal, der geht so 8 Uhr 30 außer Haus und ist 17 Uhr 30 wieder da, jedenfalls meistens. In dieser Zeit wird er wohl kaum die Welt einreißen, hier mal ein Papierchen vollschreiben, da einen scheinbar dienstlichen Schwatz tun, dann in aller Ruhe Beamtenschlaf halten, was denken Sie?“
„Das kann ich schlecht einschätzen“ ertönte eine andere Stimme (es war die von Frau Paul aus dem Erdgeschoss) „also ich halte Herrn Bergmann und seine Familie für sehr angenehme Nachbarn.“
„Die nicht einmal den Müll ordentlich trennen können“ erregte sich Schulze „ich sage Ihnen, die sind so arrogant, dass sie es absichtlich unterlassen. Dabei frage ich mich, wo sie die Berechtigung dafür hernehmen. Bloß weil die studiert haben sind sie nicht besser als Sie und ich. Wissen Sie wie mich das auf die Palme bringt, wenn das immer wieder passiert, dann geht mein Blutdruck ruck zuck in die Höhe.“
Schulze war schon wieder so geladen, dass er den Container verwechselte und seinen Eimer mit dem Biomüll in den Wertstoffcontainer entleerte. Da er den Blick wegen der schon stinkenden Abfälle abwandte und den Deckel schnell wieder schloss sah er Frieder Bergmann auch nicht. Dieser spürte, wie Eierschalen, Essenreste und andere Abfälle durch seine Sichttarnung rieselten und seinen Körper an etlichen Stellen und das Gesicht großflächig besprenkelten. Manches fühlte sich warm an, alles aber irgendwie schleimig. Schulze entfernte sich weiter auf Frau Paul einredend und Frieder Bergmann wagte jetzt, den Deckel des Containers einen Spalt weit zu öffnen. Die beiden verschwanden im Haus und Bergmann überdachte seine weitere Vorgehensweise. Da er jetzt auch noch mit Abfallresten überzogen war schied ganz klar aus, sich zu zeigen. Was auch immer geschah, er musste auf Rüdiger warten. Dieser tauchte nach einer Frieder Bergmann unendlich lang erscheinenden Zeit auf und zuckte erschrocken zusammen, als ihm ein Mann mit einem offensichtlich bereits durch eine tödliche Krankheit - denn seine Haut war überall grün und gelb gefärbt - in Auflösung befindlichem Gesicht mit harscher Stimme befahl, sofort die Tür zu öffnen. Von dem Kranken ging ein durchdringender Geruch aus, irgendeine Mischung aus Verwesung und Abfall.
„Mach` jetzt endlich hin“ herrschte ihn der Typ an, da erkannte Rüdiger Bergmann seinen Vater an der Stimme.
Als die Tür offen war riss ihm Frieder Bergmann den Schlüssel aus der Hand und stürmte nach oben, mit flatternden Händen bekam er die Tür auf und hetzte in die Wohnung, Rüdiger konnte ihm kaum folgen. Sein Vater war schon im Bad verschwunden und kurz darauf war das Geräusch der Dusche zu hören. Nach einer Weile erschien Frieder Bergmann mit einem um die Hüften geschlungenem Handtuch und steuerte die Küche an. Rüdiger hörte die Kühlschranktür klappen, dann wurde eine Bierflasche geöffnet und nach einem Moment ertönte ein erleichtertes Stöhnen.
„Was ist denn passiert Papa“ fragte er seinen Erzeuger.
„Im Stadtpark haben zwei Typen einen Hund auf mich gehetzt und mich gezwungen, meine Klamotten rauszurücken. Und in denen ist mein Schlüssel drin. Verdammter Mist, weißt du, was das bedeutet?“
„Klar, wenn die irgendwie rauskriegen wo du wohnst können die in Ruhe hier einsteigen und uns die Bude ausräumen.“
„Genau, ich rufe jetzt gleich den Schlüsseldienst an, wir brauchen neue Schlösser.“
Mit einem schiefen Grinsen zahlte Frieder Bergmann wenig später exakt 327,56 Euro für den Austausch des Schlosses und den Erhalt von vier Schlüsseln. Er berichtete Petra von dem Vorfall und legte seine Joggingrunden vorerst auf Eis. Am nächsten Tag las er in der Zeitung, dass ein Straßenflitzer einen schweren Auffahrunfall verursacht hatte in den sieben Fahrzeuge verwickelt worden waren, der Sachschaden betrug fast 45.000 Euro.
Dennoch war er gewillt sein Ertüchtigungsprogramm weiter fortzusetzen, eben bloß nicht mehr im Stadtpark. Er hörte sich ein bisschen um und nahm zur Kenntnis, dass das Hallenbad am Dienstag und Donnerstag ab 17 Uhr freies Schwimmen im Programm hatte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde es dort gesitteter zugehen und er vor Belästigungen sicher sein. Also packte er eine kleine Tasche mit seiner roten, eng anliegenden Badehose, einem Handtuch, Duschbad und Badelatschen und betrat das Gebäude durchaus erwartungsvoll. Das Foyer war ansprechend gestaltet und er kaufte sich optimistisch eine Nutzungszeit von 2 Stunden, das dürfte heute fürs erste reichen. Der gute Eindruck wurde leider auf dem Weg zu den Umkleidekabinen deutlich beeinträchtigt, denn das Gebäude hatte schon gut 3 Jahrzehnte auf dem Fundament und augenscheinlich war seit Jahren nichts mehr zu seinem Erhalt getan worden, es war in kommunalem Besitz. Frieder Bergmann ließ sich davon nicht von seiner leicht euphorischen Stimmung abbringen, er sah sich schon eine Bahn nach der anderen durch das Wasser ziehen. Vorerst war er aber dabei, den Verschlussmechanismus des Garderobenschrankes zu ergründen. Man hatte ihm ohne eine Erklärung einen kleinen Plastikchip in die Hand gedrückt und jetzt fragte er sich, was er damit anfangen sollte. Irgendwie musste er ihn in einen innen an der Tür angebrachten Schlitz einwerfen und dann würde er weitersehen. Schon in Badekleidung fummelte der Mann an dem Verschlussmechanismus herum und schließlich gelang es ihm, den Schlüssel, der an einem Band hing, zu drehen und den Schrank so zu sichern. Das Band schlang er um sein Handgelenk, da es aber anfangs zu straff saß, lockerte er es wieder etwas. Voller Tatendrang betrat er die Schwimmhalle und registrierte erfreut, dass sich nur wenige Leute in dem Becken befanden. Vorsichtig betrat er die Stufen zum Becken und erschauderte, das Wasser war für seine Begriffe eiskalt. Zwei jüngere Schwimmerinnen sahen ihn spöttisch an und so überwand er sich und tauchte ein. Durch die Temperatur schockiert gerieten seine ersten Schwimmbewegungen recht unbeholfen und er kam kaum voran. Schon nach der ersten Bahn musste er kräftig Luft pumpen, nach der vierten hatte er den Anflug eines Krampfes im Bein zu bekämpfen und nach der siebenten beschloss er, eine Pause einzulegen. Da eine Bahn 25 Meter lang war, waren das bis jetzt 175 Meter, er hatte sich mindestens einen Kilometer vorgenommen. Das Becken füllte sich und die Schwimmer sahen ihn verärgert an, denn er klammerte sich an eine Stange unterhalb des Startblocks und behinderte damit deren Wendemanöver. Also schob er sich wieder in die Bahn hinein und musste feststellen, dass der Andrang jetzt erheblich war und er von allen Schwimmern gnadenlos überholt wurde. Auch als er hektischer mit den Armen und Beinen ruderte erhöhte sich sein Tempo nicht, das führte aber dazu, dass er schon nach der elften Runde wieder pausieren musste. Er tat so, als ob er einen Wadenkrampf hätte, das konnte ja schließlich jedem einmal passieren. Wieder bei Puste startete er erneut und kollidierte mit einer dicken Frau, die ihn grimmig ansah. Um an ihr vorbei zu ziehen legte er alle Kraft in seine Kraulschläge und als er seinen linken Arm, an dem das Band mit dem Schlüssel festgemacht war, weit aus dem Wasser riss, machte sich dieses selbstständig und flog in hohem Bogen durch die Luft, um irgendwo zwischen den Schwimmern im Becken zu versinken. Frieder Bergmann erstarrte abrupt und bildete damit erneut ein Hindernis, an dem sich die ihm folgenden Sportler stauten. Benommen steuerte er auf die Stufen zu um das Becken zu verlassen, er wollte dem Bademeister das Problem schildern.
„Sie haben Ihr Schlüsselband verloren“ fragte ihn der Mann ungläubig.
Frieder Bergmann nickte bedrückt, denn er konnte sich vorstellen wie schwierig es sein würde, diesen Gegenstand im Becken aufzuspüren.
„Ich bin jetzt 17 Jahre hier“ fuhr der Bademeister fort „so etwas ist in all diesen Jahren noch nie vorgekommen. Keine Ahnung, was ich da machen soll.“
Er winkte einen Kollegen heran und tuschelte mit ihm, dann wandte er sich an Bergmann.
„Wir sehen drei Möglichkeiten. Man kann das Wasser ablasen, wie teuer es wird das Becken wieder aufzufüllen wissen wir nicht, dürfte aber eine Stange Geld kosten. Man kann den Garderobenschrank aufbrechen, das hatten wir schon mal, macht so um die 500 Euro mit Reparatur. Oder Sie tauchen und suchen selbst das Band. Das wäre in 5 Minuten möglich, kurz darauf beginnt dann das Damen-Seniorenschwimmen.“
Frieder Bergmann schluckte, er hatte keine andere Wahl und würde das Band suchen müssen.
Der Bademeister pfiff und die Schwimmer verließen das Becken, dann nickte er dem Unglücksraben zu und dieser warf einen Blick auf das Becken. Es war bekannter Weise 25 Meter lang und besaß 5 Bahnen, von denen jede gut 2 Meter breit war, diese wurden durch Leinen mit roten Korkbällen voneinander abgetrennt. Mithin musste er 250 Quadratmeter absuchen. Er trat unschlüssig an den Beckenrand und versuchte, sich eine Strategie zurecht zu zimmern. Beginnen wollte er am Einstieg und ließ sich langsam in das Wasser gleiten, dann holte er tief Luft und tauchte. In der klaren Flüssigkeit konnte er gut sehen und ging die erste Bahn an, nichts. In der Hälfte der Strecke musste er hoch, um Luft zu holen. Dann ging er wieder runter und schaffte den Rest der Bahn, auch kein Erfolg. Ausgepumpt kam er nach oben und nach der vierten Bahn war er der Verzweiflung nahe. Gott steh mir bei dachte er kurz vor dem erneuten Abtauchen und plötzlich sah er das Band auf dem Beckenboden liegen. Da ihm Luft fehlte tauchte er noch einmal auf und winkte dem Bademeister zu: er hatte es gefunden. Jetzt hieß es nur noch, das Band herauf zu holen. Freudig füllte er seine Lungen mit Sauerstoff und ließ sich nach unten sinken, keine 10 Zentimeter von ihm entfernt pendelte das Band im Wasser aber offensichtlich nicht frei, es hatte sich in einem Ablaufgitter am Boden verfangen. Bergmann packte es, aber es hatte sich um die Gitterstreben gewickelt und mit zittrigen Fingern versuchte er es los zu bekommen. Irgendwie gerieten die Finger seiner rechten Hand dabei zwischen die Streben und verkanteten sich so, dass er plötzlich gefangen war. So sehr er auch zog, er kam nicht frei und in Panik öffnete er seinen Mund, aus dem der verbliebene Luftvorrat blubbernd zur Oberfläche empor stieg. Verzweifelt zerrte er weiter aber musste schnell einsehen, dass er nicht freikam. Das war`s dachte er, dann schwanden ihm die Sinne.
Als Frieder Bergmann wieder die Augen öffnete sah er die besorgten Gesichter der noch nassen Bademeister über sich, er wollte sich aufrichten, aber seine rechte Hand war wie auf dem Boden fest genagelt.
„Bleiben Sie liegen“ sagte einer der Männer „der Kollege mit der Flex ist gleich da.“
„Wieso“ fragte Bergmann schwach.
„Sie hatten sich so in dem Gitter verklemmt, dass wir dieses mit einer Brechstange heraus wuchten mussten, die Hand wollten wir Ihnen nämlich nicht amputieren. Leider ist dabei einiges zu Bruch gegangen, die Sperre des Abflusses ist jetzt kaputt und das Wasser ist komplett aus dem Becken ausgelaufen. Das wird eine Menge Arbeit machen, das alles wieder hinzukriegen. Wie lange das dauern wird kann keiner sagen, aber der Ausfall der Eintrittsgelder dürfte recht hoch sein. Die Reparaturkosten sowie so. Wer das blechen muss wird nicht mehr froh. Wir hatten heute schon genug Ärger mit den Seniorinnen, ersatzweise mussten wir denen einen Saunabesuch anbieten.“
Frieder Bergmann bewegte sich schwach und blickte nach rechts, neben ihm lag das Ablaufgitter, seine Hand war darin gefangen.
Ein Mann in Handwerkerbekleidung betrat die Schwimmhalle, zeitgleich erschien ein Uniformierter, ein Polizist. Der Handwerker machte keine großen Sprüche sondern kniete sich neben Frieder Bergmann hin, betrachtete das Gitter von allen Seiten, und warf den Trennschleifer an. Kreischend fraß sich die Scheibe durch das Metall und Bergmann zitterte am ganzen Körper, dann gab es einen Ruck und das durchtrennte Metall ließ seine Hand frei. Er rappelte sich auf und wollte auf unsicheren Beinen die Schwimmhalle verlassen, da versperrte ihm der Polizist den Weg.
„Sie können jetzt nicht einfach abhauen, nach dem Flurschaden, den Sie hier angerichtet haben“ klärte er ihn auf.
„Ich“ fragte Frieder Bergmann erstaunt „ich habe nichts kaputt gemacht.“
„Na nicht direkt, aber Sie haben dieses Chaos hier verursacht.“
„Die Leute hier haben doch eine Aufsichtspflicht, die hätten eben besser aufpassen müssen“ versuchte Bergmann zu argumentieren.
„Kommen Sie mal her“ rief der Polizist die Bademeister heran.
„Dieser Herr hier behauptet, dass Sie Ihre Aufsichtspflicht nicht ausreichend wahrgenommen haben“ sagte er.
„Wieso“ fragte einer verwundert „der Mann ist ohne unser Wissen, als alle anderen schon aus dem Becken raus waren, wieder in die Halle gekommen und ist dort heimlich rumgetaucht.“
„Was“ erregte sich Frieder Bergmann „Sie haben mir empfohlen, nach dem Band zu tauchen.“
„Ich“ war die Antwort „niemals, mein Kollege kann das bezeugen.“
„Und“ sprach der Polizist den zweiten Bademeister an.
„Kann ich bestätigen, wir würden doch niemals jemanden erlauben, hier zu tauchen. Sehen Sie da (er wies auf eine Wand), „Springen und Tauchen verboten!“, und daran halten wir uns auch, jawohl!“
„Die Sache ist klar“ befand der Polizist „ich nehme jetzt Ihre Personalien auf“ sagte er an Frieder Bergmann gerichtet.
Diesem schlotterten die Beine denn er ahnte was auf ihn zukommen könnte, aber dann hatte er eine Idee.
„Kann ich mich wenigstens erst einmal umziehen“ bat er den Polizisten scheinbar unterwürfig „mir ist kalt.“
„Na gut“ sagte dieser „aber Sie (er wandte sich an die Bademeister) passen am Eingang auf, dass er nicht abhaut.“
„Geht klar“ bestätigten die beiden sofort.
Frieder Bergmann ging schwankend zu den Umkleidekabinen und entwickelte seinen Plan weiter. In der Kabine entkleidete er sich und zog nur die Unterhose an, seine restlichen Sachen stopfte er in den Beutel. Dann spähte er aus dem Raum heraus und sah, wie sich die beiden Bademeister lachend unterhielten. Dies stachelte seine Wut heftig an und er schlich wie ein Assassine zur Damenumkleide und schlüpfte ungesehen hinein. Jetzt kam es darauf an, ob sein Kalkül aufging, und er hatte Glück. Die Seniorinnen waren durch die Programmänderungen so überrascht gewesen, dass eine von ihnen vergessen hatte, den Kleiderschrank zu verschließen. Frieder Bergmann sichte den Kleidungsbestand flüchtig und stellte fest, dass die Konfektionsgröße der seinen entsprechen könnte. Zuerst zwängte er sich in eine Strumpfhose, dann streifte er einen knielangen Rock über, der an seinen Hüften herumschlotterte, aber das war momentan egal. Die Bluse spannte zwar mächtig über seinem Bauch und auch die Jacke war ein Stück zu eng, das größte Problem stellten jedoch die Schuhe dar. Hinein kam er noch ganz gut, aber mit ihnen zu laufen war schwierig, denn sie hatten für ihn ungewohnt hohe Absätze. Zum Schluss drückte er sich noch einen Hut weit ins Gesicht, holte tief Luft und begab sich auf den Gang hinaus. Er hielt es für eine gute Idee, ein Hinken zu imitieren und mit gebeugter Haltung vorzurücken, dies sollte altersbedingte Hinfälligkeit ausdrücken. Scheinbar war sein Auftritt überzeugend, denn die Bademeister riefen ihm nur ein „Auf Wiedersehen“ zu und schienen sich noch immer darüber zu amüsieren, wie sie diesen komischen Vogel, der sich im Gitter verklemmt hatte, gelinkt hatten. So kam Bergmann unbeschadet aus der Schwimmhalle hinaus und hielt es immerhin noch bis zu seinem Auto durch, hinkend und gebeugt zu laufen. Dort ließ er sich aufatmend in den Sitz fallen, streifte die Schuhe ab und fuhr mit Schmackes los. Er wollte heute nichts mehr riskieren und unterließ so auch den Versuch, die Damensachen irgendwo loszuwerden. Also betrat er das Treppenhaus in diesem Aufzug und stieg mühselig nach oben, leider begegnete ihm Schulz und musterte ihn misstrauisch. Frieder Bergmann wusste genau, dass der Mann verfolgen würde, in welche Wohnung er gehen würde, hatte aber keinen Elan mehr, heute noch mehr Theater zu spielen. Kurz entschlossen öffnete er die Tür, trat ein und humpelte in die Küche, um ein Bier zu öffnen. Seine Frau Petra erschien und riss die Augen auf.
„Du kannst dir nicht vorstellen was mir heute passiert ist“ sagte Frieder Bergmann erschöpft und erstattete dann Bericht.
Petra Bergmann hörte ungläubig zu und schüttelte den Kopf, dann sagte sie:
„Da kannst du nie wieder hingehen, oder erst in ein paar Jahren, wenn Gras über die Sache gewachsen ist. Such` dir doch mal was Unverfängliches.“
Am folgenden Tag informierte die Zeitung im Regionalteil, dass die Schwimmhalle wegen umfangreicher Reparaturarbeiten in Höhe von geschätzten 320.000 Euro voraussichtlich erst in einem halben Jahr wieder öffnen würde.
„Enormer Muskelaufbau schon nach 3 Trainingsrunden“ las Frieder Bergmann interessiert in einer der kostenlosen Wochenpostillen. „Eine besondere Art der sportlichen Freizeitbeschäftigung mit dem Kick des Abenteuers“ hieß es weiter. Bogenschießen schien keine schlechte Sache zu sein, und da er Wert darauf legte seine Armkraft zu verbessern (er wollte sich später unbedingt einmal in einem Kletterpark ausprobieren), ging er zu einer „Schnupperstunde“ in einer ehemaligen Montagehalle hin. Das Gebäude war von außen vollkommen schmucklos, aber in seinem Inneren gab es fünf Schießbahnen, die mittels mannshoher und in größeren Abständen stehenden schmalen Kästen voneinander abgetrennt waren. Die Scheiben waren auf kleinen Wagen mit Elektromotoren befestigt, so dass man sie über Schienen näher heranholen oder weiter weg platzieren konnte. Die dafür erforderliche Verkabelung verlief in gut 3 Meter Höhe und war an von der Decke herab reichenden Montageisen befestigt. Auf dem Boden waren großflächig Sägespäne verstreut, möglicherweise wollte man so noch vorhandene Ölflecke des ehemaligen Industriegebäudes verdecken. Alles wirkte aber ordentlich und sauber und auch der Trainer, der auf Frieder Bergmann zukam, hinterließ einen seriösen Eindruck.
„Schön, dass Sie es einmal ausprobieren wollen“ sagte er zur Begrüßung „das ist ein Sport für richtige Kerle und nicht für solche Weicheier, die in teuren Jogginganzügen durch die Kante schleichen oder n bisschen im Wasser rumpaddeln. Hier braucht man Kraft und Köpfchen. Rohe Gewalt bringt gar nichts, man muss die Gesetze der Physik berücksichtigen und enorme Konzentrationsfähigkeit mitbringen, sonst kann man es gleich lassen. Sie sehen so aus, als ob Sie genau diese Dinge draufhaben. Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“
„Ich bin Referatsleiter in einer Behörde“ antwortete Frieder Bergmann bescheiden.
„Hab` ich`s doch gewusst“ freute sich der andere „nach den täglichen intellektuellen Anforderungen suchen Sie den Ausgleich in dieser martialischen Tätigkeit, ja, den Phallus in das Ziel rammen, wenn ich mal so sagen darf. Sehen Sie, wenn Sie mit dem Bogen und dem Pfeil hantieren verlängern Sie sozusagen eines Ihrer wichtigen Körperteile (er grinste anzüglich) enorm, Sie transportieren Ihre Sehnsüchte mit dem Schuss und wenn Sie dann noch gut treffen, ist das ein Triumphieren über den Ihnen entgegen tretenden Gegner. Sie haben keine Ahnung, wie das Bogenschießen das Selbstbewusstsein steigert und Aggressionen nimmt.“
Frieder Bergmann versuchte das Gehörte zu verarbeiten, so hatte er den Effekt des Bogenschießens noch nie gesehen. Der Trainer informierte ihn über die Sicherheitsbestimmungen, die kurz gefasst hießen: ja nicht in eine andere Bahn geraten und erst zur Scheibe gehen, wenn das Kommando dazu gegeben wurde. Dann zeigte er Frieder Bergmann, wie er den Bogen spannen konnte, wie man das Ziel anvisiert und wies ihn noch auf eine spezielle Atemtechnik hin. Über eine Fernbedienung ließ er die Scheibe auf 10 Meter herankommen und nickte seinem Schüler zu. Dieser holte tief Luft, spannte den Bogen, legte den Pfeil ein, und konzentrierte sich. Er nahm die Scheibe in den Blick und ließ die Bogensehne los. Der Pfeil begab sich auf einen kurzen Flug, um dann direkt im Zentrum der Scheibe einzuschlagen. Der Trainer sah ihn erstaunt an und bugsierte die Scheibe auf 15 Meter Entfernung. Bergmann schoss erneut und wieder mit dem gleichen Ergebnis. Zufrieden lächelnd legte er nunmehr auf die 20 Meter entfernte Scheibe an und traf wiederum genau in die Mitte. Die maximale Entfernung betrug 40 Meter und der Trainer fuhr die Scheibe jetzt dorthin.
„Das hat noch keiner beim ersten Training geschafft“ sagte er trocken „wenn Ihnen das gelingt haben Sie die nächste Übungsstunde auch noch gratis.“
Frieder Bergmann war jetzt ganz im Jagdfieber und gab bei diesem Schuss alles. Der Pfeil surrte davon und auf die Entfernung war nicht genau zu erkennen, wo er die Scheibe getroffen hatte. Der Trainer ließ den Wagen heranrollen und vor Verwunderung stand ihm der Mund offen, als er das Ergebnis erkennen konnte. Auch dieser Pfeil steckte perfekt in der Mitte der Scheibe. Vier Pfeile drängten sich auf einer Fläche von zirka 3 Zentimetern, ein überzeugendes Trefferbild.
„Unglaublich“ sagte der Mann beeindruckt „Sie sind ein Naturtalent. In Ihrer Person mischen sich tatsächlich hervorragende intellektuelle Fähigkeiten, Kraft und Geschick. Ich vermute mal, dass Sie in der Schule und im Studium immer zu den Besten in Physik gezählt haben, anders kann ich mir diese sensationelle Leistung nicht erklären.“
„Nun ja, ich war nicht ganz schlecht darin“ erwiderte Frieder Bergmann scheinbar bescheiden, er konnte dem Mann ja kaum erklären, dass er gerade in diesem Fach immer nur Bahnhof verstanden hatte und gerade so mit einer schlechten vier durchgekommen war.
„Bis nächste Woche Mittwoch wieder“ verabschiedete er sich und erzählte Petra euphorisch von seinen Erfolgen.
Der Arbeitstag war für ihn nicht so gut gelaufen. Der Amtsleiter erwischte ihn dabei, als er gerade Ausrüstungsgegenstände für das Bogenschießen googelte und nahm ihn ordentlich Maß. Dann musste er noch zur Kenntnis nehmen, dass sich zwei seiner Mitarbeiterinnen gleichzeitig (natürlich zu verschiedenen Zeiten, eine gleich früh, die andere nach dem Mittag) bei ihm als schwanger meldeten. Bergmann wusste, dass er diese Lücken nicht ohne weiteres stopfen konnte und ahnte, dass ein Großteil der Arbeit wieder bei ihm hängen bleiben würde. Mit diesen trüben Gedanken im Hinterkopf traf er in der Schießbahn ein. Der Trainer war gerade dabei, zwei kichernden jungen Frauen die Handhabung des Bogens zu erklären. Beide sahen recht gut aus, so dass Frieder Bergmann verstohlen zu ihnen hin schielte und insgesamt nicht so richtig bei der Sache war. Dennoch wollte er sie mit seinen Schießkünsten beeindrucken und warf sich in Pose, um dann den ersten Pfeil von der Sehne schnellen zu lassen. Die Frauen und der Trainer beobachteten ihn gespannt, und als das Geschoss zitternd in der Scheibe steckte sahen sie, dass es im Zentrum gelandet war. Bergmann entspannte sich jetzt spürbar und war sich sicher, dass das Training ihn wieder auf die Beine bringen würde. Auch auf 15 Meter traf er perfekt, bei 20 Metern gelang ihm das Kunststück, dass der Pfeil auf einen bereits in der Scheibe steckenden fuhr und diesen aufspaltete. Mittlerweile drängten sich die Besucher der Schießbahn in seinem Rücken und verfolgten seine Tätigkeit, leises Raunen war zu hören, wenn Bergmann wieder einen Pfeil perfekt in die Zielscheibe gejagt hatte. Der Trainer war nun nicht mehr gewillt, sich die Show von Frieder Bergmann stehlen zu lassen, und verkündete nach dessen letztem Schuss, dass er nun etwas besonders Spektakuläres demonstrieren würde.
„Haben Sie schon einmal einen Film gesehen, in dem ein Bogenschütze zwei Pfeile gleichzeitig abschießt und auch noch trifft“ fragte er in die Runde.
„Ja“ meldete sich ein Mann „alles nur Trickserei, das kann niemand. Und mit der Digitaltechnik ist das doch überhaupt kein Problem mehr, das vorzutäuschen.“
„So“ sagte der Trainer lauernd „Sie halten das also für unmöglich?“
„Genau.“
„Dann werde ich Ihnen jetzt das Gegenteil beweisen!“
Der Trainer griff sich einen Bogen, legte zwei Pfeile auf die Sehne und spannte das Gerät. Dann straffte er sich und ließ die Sehne nach vorn schnellen. Einer der Pfeile flog ziemlich gerade auf die Scheibe zu und blieb im äußeren Kreis stecken, der andere wich nach links ab und schlug in einen der Kästen ein, die die Schießbahnen begrenzte. Applaus flackerte auf und der Trainer schaute zufrieden in die Runde, insbesondere zu den jungen Frauen und Frieder Bergmann. Dieser war unschlüssig was er tun sollte, da jetzt aber alle zu ihm hin starrten nahm er jetzt auch den Bogen und legte zwei Pfeile ein. Er wusste, dass die nächsten Augenblicke über seinen Stand in der Gilde der Bogenschützen entscheiden würden und nahm alle Willenskraft zusammen, um eine überzeugende Vorstellung bieten zu können. Der Bogen war straff gespannt und Frieder Bergmann hatte die Scheibe gut im Focus. In dem Moment, in welchem er die Sehne losschnellen lassen wollte, nieste jemand hinter ihm und er verriss den Schuss nach oben und geriet zusätzlich etwas aus der Lotrechten. Dieses leichte Taumeln sorgte dafür, dass der erste Pfeil seine Flugbahn rechts weg von der Scheibe nahm, der zweite driftete nach links ab. Da die Flugbahn der Geschosse etwas nach oben gerichtet war ergab sich jetzt folgendes: Statt der Ideallinie zur Scheibe zu folgen zischten die Pfeile genau im gleichen Winkel nach links und rechts weg, und auch die aufwärts gerichtete Flugbahn erfolgte vollkommen identisch. Das zeugte trotz aller widrigen Umstände von der perfekten Schusstechnik von Frieder Bergmann. Dieser wartete gespannt darauf, wo die Projektile einschlagen würden, in der Zielscheibe jedenfalls in keinem Fall. Sekundenbruchteile später zerschnitten die scharfen Kanten der Pfeilspitzen die über der Bahn hängenden Leitungen der Stromversorgungen, die dem Antrieb der Wagen dienten. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen und durchaus reparabel, aber unglücklicherweise durchtrennten die Pfeile die Kabel komplett, so dass diese schlagartig herunterhingen und hin und her pendelten. Auch das wäre kein großes Problem gewesen, doch sowohl die rechte als auch die linke Leitung schwangen so aufeinander zu, dass sie sich in der Mitte der Bahn berührten und in einem sprühenden Lichtbogen miteinander verschweißten. Glühende Fragmente der Kabel regneten auf den mit Sägespänen belegten Boden herab und setzten diese sofort in Brand, notdürftig von ihnen bedeckte alte Öllachen auf dem Boden fingen ebenfalls Feuer und im Nu war eine Fläche von fast 3 Quadratmetern entflammt. Der Trainer brüllte auf und sprintete zu einer Ecke der Halle, mit einem Feuerlöscher in der Hand kam er wieder und wollte diesen in Betrieb nehmen, aber nichts tat sich. Alle anderen stürmten panisch aus der Halle. Mittlerweile hatten sich auch einige der Bahnbegrenzungskästen entzündet und das Feuer breitete sich immer schneller aus. Der Trainer riss sein Handy aus der Tasche und rief die Feuerwehr, als diese 5 Minuten später eintraf war das Innere der Halle eine Flammenhölle. Die Männer mit den Atemschutzmasken verstanden ihren Job und nach wenigen Minuten war der Brandherd besiegt. Draußen vor der Halle hielt der Trainer Frieder Bergmann im Schwitzkasten und brüllte auf ihn ein.
„Lassen Sie den Mann doch endlich mal los“ sprach ihn einer der Feuerwehrmänner an.
„Dieser Kerl hier hat meine Existenz vernichtet“ heulte der Trainer auf „alles ist verbrannt.“
„Mal ganz langsam“ antwortete der Feuerwehrmann „was ist das hier?“
Er hielt dem Trainer einige verschrumpelte Sägespäne unter die Nase.
„Na damit hab` ich die Halle ausgelegt, der Boden war von dem Vorbesitzer nicht richtig gereinigt worden“ antwortete dieser.
„Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen“ fuhr ihn der Feuerwehrmann an „das ist ein Brandbeschleuniger wie man ihn besser nicht bekommen kann. Und es ist strikt untersagt Sägespäne dort zu verwenden, wo elektrische Geräte zum Einsatz kommen.“
„Woher soll ich das denn wissen“ jammerte der Trainer.
„Guter Mann“ höhnte der Feuerwehrmann „wer ein Gewerbe betreibt hat sich an Vorschriften zu halten, meinen Sie nicht auch“ wandte er sich jetzt an Frieder Bergmann.
Dieser nickte wie eine Wackelpuppe auf der Hutablage eines Autos und sagte nichts.
„Haben Sie die Sprache verloren“ wollte der Feuerwehrmann wissen.
„Nein, nein“ stammelte Frieder Bergmann „Sie haben natürlich Recht, Vorschriften müssen eingehalten werden, das ist bei uns in der Behörde selbstverständlich.“
„Sehen Sie“ wandte sich der Feuerwehrmann an den Trainer „so gefällt mir das. Hätten Sie sich richtig verhalten wäre das hier nicht passiert. Ich schätze mal, dass der Brandschaden so um die 300.000 Euro betragen wird. Kann noch schlimmer werden, möglicherweise ist die Statik der Halle gefährdet, dann bleibt nur noch der Abriss. Und dann kann gleich der kontaminierte Boden mit entsorgt werden, das haut dann richtig rein. Aber Sie sind ja wahrscheinlich gut versichert.“
„Eben nicht“ schrie der Trainer wie von Sinnen „was denken Sie denn, was hier bei mir aus dem Geschäft hängenbleibt? Das ist nicht der Rede wert, ich musste an allen Ecken und Enden sparen, eine Versicherung konnte ich mir gar nicht leisten. Ich werde mich an diesem sauberen Herren schadlos halten!“
„Da liegen Sie sicher falsch“ erklärte der Feuerwehrmann mit kalter Stimme „Sie sind Betreiber der Anlage, was Ihre Gäste hier an eventuellen Schäden anrichten müssen Sie durch die entsprechenden Vorkehrungen verhindern oder minimieren. Und dazu gehören nun einmal eine ordentliche Versicherung und die Einhaltung von Vorschriften. Übrigens, warum hat denn der Feuerlöscher nicht funktioniert?“
„Weiß ich nicht“ antwortete der Trainer neues Ungemach ahnend.
„Das kann ich Ihnen sagen“ wurde der Feuermann jetzt lauter „weil Sie alle Revisionen nicht durchgeführt haben, stimmt`s?“
Der Trainer schwieg.
„Sie können jetzt nach Hause gehen“ sagte der Feuerwehrmann zu Frieder Bergmann „der Schock muss Ihnen ja noch in den Knochen stecken, ruhen Sie sich erst einmal aus. Und an Sie“ er wandte sich drohend an den Trainer „habe ich noch eine ganze Menge Fragen. Wenn ich mir vorstelle, dass hier Menschen zu Schaden gekommen wären, bloß weil Sie Geld sparen wollten, werde ich richtig wütend.“
Frieder Bergmann schlich zu seinem Auto zurück und erklärte zu Hause etwas ungelenk, dass Bogenschießen doch nicht der richtige Sport für ihn sei. Das „Tageblatt“ informierte seine Leser am folgenden Tag von einem Großfeuer in „Bogensportparadies“ und bat die Bevölkerung gleichzeitig im Namen der Polizei um Mithilfe, denn der Betreiber dieser Einrichtung wäre unmittelbar nach dem Ereignis flüchtig geworden. Ein Phantombild war beigefügt. Frieder Bergmann beschloss, seine sportlichen Aktivitäten bis zum Urlaub zunächst ruhen zu lassen.