Читать книгу Familienurlaub könnte so schön sein, wenn bloß Mutter nicht mit dabei wäre! Band 5 - Jörn Kolder - Страница 4
Gourmetküche
Оглавление„Es ist eine große Ehre für uns, Sie heute hier begrüßen zu dürfen, Herr Ministerpräsident“ sagte der Hoteldirektor zu Frieder Bergmann „seien Sie sicher, dass wir Ihnen jeden Wunsch, und sei er noch so ausgefallen, erfüllen werden.“
Peter Petersen drängte sich vor.
„Passen Sie mal auf“ sprach er den Direktor an „das ist ja richtig, dass Frieder der Boss ist, aber heute geht es auch um Hannelore und mich. Wir haben nämlich gerade geheiratet. Also möchte ich von Ihnen auch entsprechend begrüßt werden.“
„Aber natürlich, Herr …“
„Petersen.“
„Herr Petersen, auch Sie werden einen unvergesslichen Tag bei uns erleben, verlassen Sie sich darauf. Unser höchstes Ziel ist es, unsere Gäste vollkommen zufrieden zu stellen und dafür legen wir uns hier jeden Tag mächtig ins Zeug, wenn ich das mal so sagen darf.“
„Möchte auch sein, bei diesen gepfefferten Preisen“ knurrte Petersen „und jetzt bring‘ se uns mal zu unseren Plätzen.“
Der separate Raum verfügte über ein besonderes Ambiente, dem historischen Gebäude Rechnung tragend war er im Stil des Rokoko gehalten. Verzierte Möbel rahmten eine große Tafel ein, edler Teppich bedeckte den Boden und die Besonderheit des Raumes fiel sofort ins Auge: die mit Stofftapeten bespannten Wände.
„Unser schönster Raum“ sagte der Hoteldirektor mit wenig Überzeugung in der Stimme „Spezialisten haben an der Bespannung der Wände fast ein Jahr gearbeitet. Es war extrem aufwendig, die Tapeten so wie früher herzustellen, und dafür eine geeignete Firma zu finden war schon sehr schwierig. Erst in Italien bin ich fündig geworden und der Meister dort war schon über achtzig Jahre alt und nicht mehr der Schnellste. Jedenfalls hat es geschlagene sechs Monate gedauert, bis er das Material fertig hatte und dann musste es auch noch bemalt werden. Aber wie Sie sehen, der Aufwand hat sich gelohnt. Wir haben so um die 300.000 Euro in diesen Raum investiert. Es war ein spezieller Wunsch der Konzernführung, alles so auszuführen, wobei ich der Auffassung bin, dass eine schlichtere Gestaltung den Raum besser zur Wirkung bringen würde.“
Zwei Kellnerinnen und ein Kellner betraten den Raum und auf einen Wink des Direktors hin verteilten sie langstielige Gläser an die Gäste.
„Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrtes Brautpaar, meine lieben Damen und Herren. Unser Haus schätzt sich glücklich, Ihnen heute hier wunderschöne Stunden bereiten zu können. Bitte erheben Sie mit mir das Glas auf diesen besonderen Tag.“
„Was isn das“ wollte Peter Petersen wissen und musterte misstrauisch sein Glas.
„Bester Champagner“ antwortete der Direktor „unser Sommelier kann Ihnen mehr dazu sagen.“
„Ja, unser Champagner ist sozusagen der Mercedes unter diesen Getränken. Beste Rohstoffe und die aufwendige Flaschengärung verleihen ihm ein einzigartiges Bouquet, und wenn Sie einen kleinen Schluck nehmen, werden Sie einem Hauch Minze, Waldbeeren und Zitrus am Gaumen spüren können. Im Abgang wird sich dann ein Feuerwerk von knospenden Früchten mit einem Schuss Kälte entzünden. Bitte probieren Sie selbst. Sie werden begeistert sein!“
Während alle anderen nur einen kleinen Schluck nahmen stürzte Peter Petersen den Inhalt seines Glases in sich hinein.
„Ich spüre im Abgang nur süßes Sprudelwasser“ beschwerte er sich jetzt „schmeckt einfach nur kribblig.“
„Also ich finde, dass der Champagner eher nach Pampelmuse und Stachelbeere schmeckt“ sagte Hannelore Bergmann „von den von Ihnen versprochenen Waldbeeren ist rein gar nichts zu merken. Insgesamt ist er viel zu herb.“
„Aber ich bitte Sie“ erwiderte der Sommelier „das ist doch gerade die Feinheit dieses Getränks! Sehen Sie doch auch die Trainiertheit des Gaumens unterschiedlicher Menschen. Während Herr Petersen Süße empfindet, schmecken Sie eher Herbe. Ich fühle Beeren knospen und Sie nehmen einen bitteren Geschmack wahr. Natürlich sind auch die üblichen Trinkgewohnheiten ausschlaggebend, welche Nuancen man spürt.“
„Was wollen Sie damit sagen“ fuhr Peter Petersen auf „soll das etwas heißen, dass ich als Otto Normalverbraucher keine Feinheiten schmecken kann?“
„Keineswegs“ versuchte der Sommelier einzulenken „aber bei Ihnen tippe ich auf eher bodenständige Trinkgewohnheiten. Sie bevorzugen ein ehrliches und kraftvolles Getränk, nämlich ein ordentliches Bier oder einen klaren Schnaps.“
„Volltreffer“ bestätigte Peter Petersen „und genau diese Kombination will ich jetzt haben. Mir schmeckt diese Champagnerplörre nämlich überhaupt nicht.“
„Natürlich treffen Sie Ihre Wahl selbst“ erklärte der Hoteldirektor beflissen „der Champagner geht ohnehin auf das Haus, also was darf ich Ihnen bringen lassen?“
„Ein Sternburger Hell“ antwortete Petersen.
„Ähm“ druckste der Direktor herum „ich glaube, diese Sorte führen wir nicht. Oder wissen Sie etwas anderes“ fragte er den Sommelier und dieser schüttelte den Kopf.
„Dieses Bier liegt im Niedrigpreissegment und ist bei uns leider nicht im Angebot“ sagte der Mann.
„Moment mal“ sagte Petersen „Sie erklären vorhin großspurig, dass Sie uns jeden Wunsch erfüllen können und dann haben Sie nicht mal Sternburger im Angebot? Das kann doch wohl nicht wahr sein!“
„Sie werden Ihr Sternburger selbstverständlich bekommen“ versuchte der Direktor Peter Petersen zu beruhigen „da finden wir schon einen Weg. Ich kümmere mich persönlich darum. Und wenn ich selbst zum ALDI fahren muss, Sie werden Ihr Bier bekommen. Und was haben die anderen Herrschaften für Wünsche? Herr Ministerpräsident, was darf es für Sie sein?“
„Stopp“ rief Hannelore Petersen „mein Sohn hat sicher den höchsten Rang hier in der Runde aber es geziemt sich doch wohl, zuerst die Damen anzusprechen, oder irre ich mich da? Wo sind Sie denn ausgebildet worden, dass Sie solche elementaren Dinge nicht beherrschen?“
„Ähm, ich war in New York, Hongkong, Mailand, Kapstadt, Moskau, Tokio, Amsterdam, Sydney, Kuala Lumpur, Bogota und Paris im Einsatz“ stotterte der Direktor.
„Ziemlich viele Stationen“ schätzte Hannelore Petersen ein „so ein häufiger Wechsel ist schon verdächtig. Sie haben wohl die in Sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können und da hat man Sie von einem Posten auf den anderen und schließlich hier in die Provinz abgeschoben. War‘s so?“
„Keineswegs“ antwortete der Direktor verunsichert „ich bin immer dorthin geschickt worden, wo es Probleme mit der Performance des Hauses gab. Im Konzern bin ich als Sanierungsexperte bekannt und man weiß, dass ich den Laden wieder auf Vordermann bringen kann. Sozusagen brutalstmöglich, wie ein Politiker das einmal gesagt hatte.“
„Wollen Sie damit andeuten, dass es in diesem Haus hier Probleme gibt, etwa mit der Küche oder dem Service“ fragte Rüdiger „und was hat es mit Ihren Sanierungsstrategien auf sich? Das klingt doch so, als würden Sie Einsparungen zu Lasten Ihrer Mitarbeiter vornehmen wollen.“
„Nein, nein“ erwiderte der Direktor vollkommen durcheinander „bei uns alles ist alles in bester Ordnung. Sie werden sich gleich von der hohen Güte unseres Angebotes überzeugen können.“
„Und die Sanierungsmaßnahmen“ fragte Paula nach.
„Ähm, hie und da ist die Motivation der Mitarbeiter noch nicht ganz so, wie sie eigentlich sein sollte. Deswegen bin ich ja hier. Unser Haus ist das erste am Platz und da dulde ich keinen Schlendrian. Ich nehme jedes Zimmer persönlich ab und auf meinen weißen Handschuhen entgeht mir nicht der kleinste Schmutzkrümel. Absolute Perfektion zu erreichen ist mein höchstes Ziel, und dem haben sich alle Mitarbeiter unterzuordnen“ sagte der Direktor stolz.
„Von Arbeitszufriedenheit haben Sie wohl noch nie etwas gehört“ sprach ihn Nils an „aus psychologischer Sicht ist der Kern eines Unternehmens nicht dessen finanzielle oder technische Ausstattung, sondern die Mitarbeiterschaft. Wenn diese durch ein unfähiges Management schlecht motiviert wird kommt es zwangsläufig zu Konflikten. Und Sie scheinen Ihre Mitarbeiter wenig wert zu schätzen, so ist zumindest mein Eindruck.“
Eine der Kellnerinnen, die dem Gespräch atemlos gefolgt war, fiel ein Champagnerglas vom Tablett und zu Boden, wo es splitternd zerbrach.
„Können Sie sich nicht vorsehen, Sie Trampel“ schrie sie der Direktor instinktiv an „das ist das dritte Glas in vier Monaten!“
„Also wenn in vier Monaten drei Gläser kaputtgehen ist das vielleicht ein Verlust von 10 Euro“ meinte Petra „das dürften Sie doch bei diesen Preisen hier locker wieder reinholen, oder? Reagieren Sie eigentlich immer so cholerisch?“
„Entschuldigung, die Aufregung wegen dem hohen Gast“ versuchte sich der Direktor zu erklären.“
„Jetzt fangen Sie schon wieder damit an“ schaltete sich Hannelore Petersen erneut in das Gespräch ein „immer erst die Obrigkeit ansprechen, in dem Falle meinen Sohn, einen Mann. Haben Sie etwa ein Problem mit Frauen?“
„Natürlich nicht“ antwortete der Direktor schwach.
„Sind Sie übrigens verheiratet“ fragte Peter Petersen.
„Nein, Sie werden das sicher verstehen können, der aufreibende Job, da bleibt keine Zeit für eine Familie.“
„Aber doch wohl für eine Frau“ bohrte Rüdiger nach.
„Auch dafür nicht, leider.“
„Mal ehrlich, wollen Sie uns einreden, dass Sie wie ein Mönch leben“ fragte Nils „Sie sind doch sozusagen in den besten Jahren. Haben Sie nicht manchmal auch Bedürfnisse, Sie wissen schon, was ich meine.“
„Bitte, das ist doch meine Privatangelegenheit“ flehte der Direktor.
„Sie müssen sich nicht mehr länger verstecken“ meinte Paula „so ein Comming Out ist doch heutzutage kein Problem mehr. Dann würde sicher auch Ihre Gereiztheit verschwinden. Haben Sie doch einfach den Mut, zu Ihrer Neigung zu stehen, Sie werden sehen, alles wird viel leichter.“
„Ich muss mich dazu nicht erklären, weil es nicht wahr ist“ wurde der Direktor lauter „ich lebe einzig und allein für meinen Beruf und das erfüllt mich mehr als genug!“
Er ging eilig zu einer der Kellnerinnen, nahm ein Glas Champagner vom Tablett und stürzte das Getränk in einem Zug herunter.
„Also im Dienst ist bei uns Alkohol strengstens verboten“ ergriff jetzt Frieder Bergmann das Wort „was sollen denn Ihre Mitarbeiter denken, wenn Sie jetzt hier einen Trinken?“
„Bitte Herr Ministerpräsident“ antwortete der Direktor mit versagender Stimme „lassen Sie uns mit dem Essen beginnen. Ich kümmere mich jetzt um das Sternburger für Herrn …“
„Petersen.“
„Für Herrn Petersen.“
Mit hängenden Schultern verließ der Mann den Raum.
„Ist der immer so mies drauf“ fragte Peter Petersen den Sommelier.
„Eigentlich nicht“ erwiderte der Mann „er fährt zwar schon schnell mal aus der Haut, aber das stimmt schon, er lebt nur für das Hotel. Manchmal tut er mir richtig leid. Oft sitzt er abends endlos im Büro und brütet über neuen Geschäftsideen. Er kniet sich wirklich richtig rein. Und gegen die zugegebenermaßen zu üppige Ausgestaltung dieses Raumes hier hat er beim Konzernvorstand immer wieder interveniert, allerdings ohne Erfolg. Da hat er richtig Mut und Biss bewiesen.“
„Egal“ sagte Hannelore Petersen „wir bestellen jetzt endlich die Getränke. Ich nehme einen trockenen Rotwein. Petra, Claudia und Paula, ihr auch? Ja? Na dann zwei Flaschen für den Anfang für uns.“
„Ich nehme zum Aufwärmen erst mal ein Bier und einen Wodka“ sagte Frieder Bergmann.
„Ich auch“ stimmte Rüdiger zu, Nils nickte.
„Wer weiß, wann der mit dem Sternburger kommt“ sinnierte Peter Petersen „für mich auch ein Bier, aber schön kühl. Und den Wodka selbstverständlich auch.“
Der Sommelier und die Kellnerinnen verschwanden.
Einige Augenblicke später wurden die Getränke serviert und gleichzeitig marschierten vier junge Kellnerinnen auf und stellten vor jedem Gast einen riesigen Teller ab. Dann gingen sie.
Peter Petersen starrte auf seinen Teller, dann sagte er:
„Das kann doch nicht wahr sein! Was ist denn das?“
Petra half ihm weiter.
„Feines Leberwurstschnittchen an Rucola und mediterranem Dressing“ las sie vor.
Auf dem großen Teller lag eine einsame kleine Schnitte, welche mit einer bräunlichen Masse bestrichen war. Der Rucola rahmte das Brotstück ein und das Dressing war darüber geträufelt.
„Ich mache einmal den Mund auf, dann ist das alles weg“ beschwerte sich Petersen „das sind doch Portionen für Babys!“
„Jetzt hör‘ auf zu meckern und koste erst einmal“ wies ihn seine Frau zurecht.
Alle aßen und Frieder Bergmann kaute vorsichtig jeden kleinen Bissen. Die Schnitte schmeckte phantastisch, der Rucola war frisch und knackig.
„Sehr gut“ verkündete er „wenn das so weiter geht können wir zufrieden sein.“
„Aber wenn die bei der Menge nicht bald zulegen gehe ich später noch an die Dönerbude“ schimpfte Peter Petersen.
„Jetzt könnte mal einer was zu diesem Tag sagen“ schlug Rüdiger vor.
„Was gibt es noch groß zu sagen“ meinte seine Großmutter „alles hat bisher so funktioniert wie vorgesehen. Frieder hat seinen Professortitel bekommen und Peter und ich haben geheiratet.“
„Freust du dich denn gar nicht“ fragte Petra erstaunt.
„Natürlich. Aber ich tue das auf meine Art, nicht so polternd wie Peter.“
„Du hast mich noch nicht richtig polternd erlebt“ erwiderte dieser „wenn das mit dem Essen so weitergeht erlebt der Direktor den morgigen Tag nicht mehr.“
„Warte es doch einfach ab“ sagte Paula „es wird ja gleich der zweite Gang kommen, das ist, Moment mal, Carpacciostreifen mit Thunfischcreme auf einem Rotebeetebett.
„Ich ahne Schlimmes“ stöhnte Petersen „Streifen, keine ganzen Stücke. Na gut, dann muss es eben das Bier bringen. Prost, auf diesen schönen Tag!“
Er winkte dem an der Tür stehenden Kellner zu und bestellte eine neue Runde.
Dann wurde der zweite Gang aufgetragen.
„Bleiben Sie mal hier“ fuhr Peter Petersen die Kellnerin an, die den Teller vor ihm abgesetzt hatte und gerade wieder weg gehen wollte „und erklären mir, ob das zur Strategie des Hauses gehört, die Gäste hungern zu lassen.“
„Aber ich bin doch nur die Kellnerin“ stammelte die junge Frau „da müssen Sie schon die Geschäftsleitung fragen.“
„Die ist außer Haus, Sternburger Bier besorgen“ feixte Frieder Bergmann „gut sieht’s ja aus. Guten Appetit.“
Auch dieser Gang war hervorragend gelungen und selbst Petersen blieb ruhig.
„Wachtelbrüstchen auf Knuspergebäck mit Saisongemüse“ las Claudia vor, gerade in dem Moment, als der Direktor den Raum betrat.
Der Mann begab sich zu Peter Petersens Platz und stellte ein Glas vor ihm ab, dann schenkte er Bier aus einer Flasche ein.
„Ihr Sternburger“ sagte er.
„Alle Achtung“ erwiderte Petersen „Sie sind in der Tat ganz schön rührig. So langsam glaube ich, dass der Job Ihnen hier wirklich Spaß macht. Aber was mich mal interessieren würde: warum ist immer so wenig auf den Tellern?“
„Das ist absolute Genussküche“ erklärte der Direktor ergriffen „hier muss man alle Sinne spielen lassen, um die Gesamtkomposition begreifen zu können. Optik, Konsistenz und Herrichtung vereinen sich zu einem großartigen Ganzen. Nur wer sich diesem Zusammenspiel vollkommen öffnet kann alles in sich aufnehmen und genießen. Wer dagegen an bloße Sättigung denkt verschenkt diesen denkwürdigen Moment der totalen Wahrnehmung, wie Essen auch schmecken kann. Schließen Sie die Augen, und konzentrieren Sie sich auf dieses Erlebnis.“
„Wenn ich die Augen zu mache klaut mir vielleicht noch einer die paar Stücke vom Teller weil er auch nicht satt wird“ meinte Petersen.
„Das reicht jetzt Peter“ sagte Hannelore Petersen „trink‘ dein Bier und sei ruhig.“
„Na wenigstens habe ich mein Sternburger“ muffelte Petersen noch etwas herum, dann aß er langsam.
„Ich will jetzt bloß noch ein was sagen, dann bin ich ruhig“ wandte er sich an den Direktor, der ihn gespannt ansah „das schmeckt wirklich ganz toll, aber was hat dieser Gegenstand hier im Fleisch zu suchen?“
Der Direktor riss die Augen auf, Peter Petersen hielt ihm einen kleinen und schmalen Gegenstand entgegen.
„Das ist mir unerklärlich“ stammelte der Direktor „es muss zum Zusammenhalten der Brüstchen gedient haben.“
„Und wenn ich daran erstickt wäre“ fragte Petersen drohend „was wäre dann passiert?“
„Ein bedauerlicher Zwischenfall“ fuhr der Direktor mit zitternder Stimme fort „ich werde Ihnen jetzt sofort den Küchenchef an den Tisch bringen.“
Er verließ den Raum schnell.
Zwei Minuten später stand ein Mann mit asiatischen Gesichtszügen und in Kochkleidung vor den Gästen. Er hatte die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben. Der Direktor stand kreidebleich neben ihm.
„Sind Sie nicht zufrieden“ fragte der Küchenchef.
„Sie hätten mich beinahe um die Ecke gebracht“ fauchte ihn Petersen an „und zwar mit diesem Gegenstand hier.“
Der Küchenchef nahm den Gegenstand von Petersen entgegen, betrachtete ihn kurz, dann brach er ihn mühelos auseinander und hielt die Bruchstücke Petersen hin.
„Gebäck, wie in der Speisekarte erwähnt“ sagte er trocken.
„Dann musst du eben die Zähne wieder reinmachen Peter, wenn du Gebäck nicht mehr kauen kannst“ wieherte Frieder Bergmann los „das war wohl ein Eigentor. Alles ist gut“ wandte er sich an den Küchenchef „bislang hat alles ganz wunderbar geschmeckt. Sie kochen sehr gut!“
„Ich danke Ihnen, Herr ….“
„Das ist der Ministerpräsident“ flüsterte ihm der Direktor zu.
„… Herr Militärpräsident.“
„Ministerpräsident, nicht Militärpräsident“ korrigierte Hannelore Petersen sanft.
„Wo ist der Unterschied?“
„Es gibt keinen Militärpräsidenten“ erklärte Rüdiger „höchstens einen Verteidigungsminister. Und der Ministerpräsident ist der Chef des Kabinetts im jeweiligen Bundesland.“
„Moment“ sagte der Küchenchef „wir haben uns doch voriges Jahr schon mal getroffen, und zwar in meinem damaligen Restaurant. Erinnern Sie sich, der Kugelfisch.“
„Herr …..“
„Nguyễn Văn Dũng.“
„Na klar, ich erinnere mich sehr gut“ rief Peter Petersen aus „das war doch die tolle Fete mit den beknackten Professoren als Frieder seinen Doktortitel bekam. Und da gab es doch so einen tollen Schnaps.“
„Richtig, den Mao Tai.“
„Haben Sie Mao Tai“ wandte sich Frieder Bergmann an den Direktor, dieser blickte den Sommelier hilfesuchend an und der Mann nickte.
„Dann bringen Sie uns mal ne Runde“ befahl Peter Petersen „der hatte damals ja richtig gut reingehauen.“
„Ähm, Herr Wang Tung“ sagte Hannelore Petersen „wieso sind Sie jetzt hier? Haben Sie Ihr Restaurant aufgegeben?“
„Nun, nach Ihrer Feier bei mir bekam ich eine gesalzene Klage der Feministinnen an den Hals und musste dichtmachen. Aber hier fühle ich mich auch sehr wohl. Der Direktor lässt mir freie Hand und ich kann kreativ kochen, eine sehr schöne Arbeitsatmosphäre.“
„Vielleicht haben wir Ihren Führungsstil doch falsch eingeschätzt“ sagte Hannelore Petersen zum Direktor.
„Sie werden uns ein Gläschen Mao Tai doch nicht abschlagen? Auch Sie meine Herren (der Sommelier und Nguyễn Văn Dũng waren gemeint) sind unsere Gäste.“
„Ähm, wir sind doch aber im Dienst“ antwortete der Direktor und schielte zu Frieder Bergmann hin, aber dieser sagte lächelnd:
„Mein lieber Herr ….“
„Büchsenschuss.“
„Mein lieber Herr Büchsenschuss, heute gibt es einmal eine Ausnahme. Wir haben allen Grund zum Feiern. Also, auf unser aller Wohl!“
Herbert Büchsenschuss war Hotelier mit Leib und Seele. Als Junge deckte er zu Hause mit Vorliebe den Tisch ein und servierte das Essen. Dabei zeigte sich schon damals sein Hang zur Perfektion, denn das Geschirr musste stets an genau bestimmten Stellen stehen und das Besteck hatte absolut parallel dazu zu liegen. Wenn er vor dem Servieren eine Art Sakko anlegte stellte er sich vor, wie er später in den feinsten Häusern sein Personal dirigieren würde und die prominenten Gäste mit Handschlag begrüßte. Der Gedanke des Dienens steckte ihm tief in den Knochen, aber nicht im Sinne eines Dieners, der unbewegt den Anweisungen seines Herrn folgte und selbst nicht über dessen Aufträge nachdenken musste, sondern er verstand seine zukünftige Aufgabe so, Menschen einige schöne Stunden zu bescheren, in denen sie etwas Besonderes erlebten. Herbert Büchsenschuss wurde in der Schule naturgemäß wegen seines Namens extrem gehänselt und geriet damit in die Rolle eines Außenseiters. Um sich selbst und den anderen aber zu beweisen, dass er gut war, kniete er sich in den Unterricht mächtig rein und legte das Abitur locker und mit einem Durchschnitt von 1,2 ab. Immer sein Ziel vor den Augen besuchte er zunächst die Hotelfachschule, denn er war der Auffassung, dass er seinen Beruf nur dann gut ausüben könnte, wenn er von der Pike auf diente. Als Jahrgangsbester empfahl er sich für eine weitere Ausbildung und begann ein Hotelmanagement Studium. Büchsenschuss ordnete alles seiner Ausbildung unter und selbst in der Freizeit übte er vor dem Spiegel in seiner kleinen Einraumwohnung Gesten und Bewegungsabläufe ein. Seinen ersten Job trat er als Hoteldirektor in der Oberlausitz an und sammelte dort wertvolle Erfahrungen. Wie der Zufall es wollte, verschlug es eines Tages einen Hoteltester dorthin, und dieser war von dem umsichtigen und gepflegten Agieren von Büchsenschuss so angetan, dass er seiner Zentrale einen dementsprechenden Wink gab.
Das darauf folgende Angebot konnte der junge Hotelmanager nicht ausschlagen: es war der Direktorposten in einem Hotel in der Bundeshauptstadt. Dort erwarb er sich binnen kürzester Frist den Ruf eines Perfektionisten, der nichts dem Zufall überließ, und alles im Griff hatte. Da etliche Politiker und Prominente dort ein und ausgingen war es nur eine Frage der Zeit, bis man auf Büchsenschuss an höherer Stelle der Hotelbranche aufmerksam wurde. Mit einem satten Gehaltsangebot wurde er ein Jahr nach seinem Dienstantritt von der Konkurrenz abgeworben und siedelte nach Mailand um. Herbert Büchsenschuss wusste, dass er nur mit eiserner Disziplin weiter vorankommen konnte und verhielt sich dementsprechend. Frauen interessierten ihn nicht, denn er stellte bald fest, dass diese seine Ansprüche an Ordnung und Diskretion nicht erfüllen konnten. Von Alkohol und Nikotin hielt er sich fern und lebte eigentlich vollkommen asketisch. Nur ein, zweimal im Jahr leistete er sich eine gute Flasche Wein und schon nach wenigen Schlucken war er dann schon immer benommen.
Herbert Büchsenschuss trank den Mao Tai in winzigen Schlucken. Da er über ein fotographisches Gedächtnis verfügte wusste er, dass das Getränk 55 Prozent Alkoholgehalt hatte. Natürlich hätte er den Schnaps verweigern können, aber wann wurde man vom Ministerpräsidenten schon einmal eingeladen. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn und die Anspannung ließ nach.
„Sagen Sie mal, Herr Fan Dung, Sie hatten uns doch zu unserer Feier diesen japanischen Whisky serviert. Gibt es den hier auch“ fragte Frieder Bergmann.
„Natürlich“ antwortete Nguyễn Văn Dũng lächelnd „ich musste unseren Sommelier nicht lange bitten ihn in die Karte aufzunehmen, er ist von dem Whisky auch begeistert.“
„Dem kann ich nur zustimmen“ fuhr der Sommelier fort „ein absolutes Spitzengetränk. Dieses sanfte Rauchige bekommen selbst die Irländer oder Schotten nicht hin, dieser Whisky ist ein Gedicht. Farbe, Nase, Geschmack gehen eine perfekte Symbiose ein.“
„Den probieren wir doch mal aus“ rief Peter Petersen aus „heute ist genau der richtige Tag dafür. Eine Runde für die Männer!“
Herbert Büchsenschuss drehte das Whiskyglas unschlüssig in den Händen. Sein Gedächtnis hatte zu dem Whisky folgendes abgespeichert: Alkoholgehalt 47 Prozent, Preis für 2 cl 16 Euro 75 Cent.
„Auf unser aller Wohl“ hörte er wieder, diesmal hatte Hannelore Petersen das Wort ergriffen „und auf Frieder und Peter, meinen Bräutigam!“
Der Duft des Whiskys stieg Büchsenschuss in die Nase und er war von der Intensität vollkommen überrascht. Der erste Schuck beförderte etwas von dem Getränk an seinen Gaumen und tatsächlich schmeckte er eine wundervolle Kombination aus verschiedenen, aber für ihn nicht zu deutenden Bestandteilen. Vielleicht sollte ich doch ab und zu nach dem täglichen Stress einen kleinen Schnaps trinken sagte sich Büchsenschuss, nachdem er das Glas geleert hatte. Eine heitere Stimmung breitete sich in ihm aus und ein Lächeln trat auf sein Gesicht.
„Ich schlage Ihnen, meine sehr verehrten Gäste, heute eine ganz besondere Überraschung vor“ hörte er sich zu seiner eigenen Verwunderung jetzt sagen „nämlich die Verkostung unseres besten Grappas. Selbstverständlich geht das aufs Haus. Ich selbst werde jetzt eine Flasche davon aus unserem Giftschrank (jetzt kicherte er) holen, der Grappa ist sündhaft teuer und nur ich besitze den Schlüssel zu dem Schrank. Ich bin gleich wieder da. Genießen Sie inzwischen den nächsten Gang.“
Herbert Büchsenschuss verließ den Raum beschwingt und mit ausgreifenden Schritten. Sein seit einiger Zeit schmerzendes Knie (wegen dem vielen Stehen tagsüber) meldete sich momentan nicht. Diejenigen seiner Angestellten, denen er auf seinem Weg begegnete, grinste er an und wechselte ein paar freundliche Worte mit ihnen. Am Giftschrank angekommen – dieser befand sich in einem separaten Raum im Kellergeschoss - nahm er die Flasche mit dem Grappa heraus. Büchsenschuss hielt sie unter Verschluss, denn 2 cl kosteten sagenhafte 23 Euro 65 Cent. Demzufolge wurde eine Flasche an einem Abend nie leer und er sah, dass noch gut die Hälfte des Schnapses vorhanden war. Eine weitere, noch volle, stand hinten im Schrank. Büchsenschuss hatte die Tür des Raumes geschlossen. Dann öffnete er die Grappa Flasche und setzte sie in Ermangelung eines Glases an den Mund an. Er wollte eigentlich nur einen winzigen Schluck kosten, aber hatte die Flasche zu steil angesetzt, so dass jetzt ein erheblicher Teil des Grappas in seinen Rachen schwappte.
Dieses teure Getränk auszuspucken kam nicht in Frage und so ließ er den Grappa in seine Speiseröhre laufen. Nach seiner Schätzung waren es gut 5 cl gewesen. Herbert Büchsenschuss wurde schlagartig bewusst, dass er soeben Grappa im Wert von mehr als 100 Euro getrunken hatte. Na und, sagte er sich fröhlich, die ganzen Jahre habe ich an allem geknausert, heute will ich mit dem Ministerpräsidenten feiern. Er trank noch vielleicht 3 cl nach, verließ den Raum und bewegte sich wieder zu seinen Gästen. Diese hatten gerade den vierten Gang gegessen.
Als Herbert Büchsenschuss mit der Flasche in der Hand erschien wurde er lautstark begrüßt.
„Na endlich“ rief Peter Petersen „hier ist mächtig trockene Luft drin. Wird Zeit, dass wir wieder mal was zu uns nehmen.“
„Ich bin schon da“ lachte der Direktor „hier kommt die Wunderwaffe. 30 Jahre alter Grappa aus Siglizione, nein aus Ziglisione oder Giglizione, ist doch egal.“
„Stimmt“ bestätigte Frieder Bergmann „Hauptsache, der dreht!“
„He, den wollen wir aber auch mal kosten“ meldete sich Paula zu Wort „warum sollen den bloß die Männer trinken.“
„Richtig“ sagte Claudia.
„Alles kein Problem“ erwiderte Herbert Büchsenschuss und schenkte allen persönlich ein (auch Nguyễn Văn Dũng und dem Sommelier), dann feixte er und sagte:
„Ich hab‘ nämlich noch Reserven. Weiß aber keiner außer mir.“
Der sonst so untadelig auftretende und asketisch lebende Direktor hatte mittlerweile einiges an Alkohol in seiner Blutbahn und fühlte sich ganz hervorragend. Sein Blick hatte sich geschärft, jegliche Anspannung war verschwunden und er plierte unauffällig zu Paula und Claudia hin, speziell auf deren beachtliche Oberweiten. Vielleicht sollte ich manche Dinge lockerer angehen sagte er sich, meine Leute nicht mehr so hart wegen Kleinigkeiten ansprechen, entspannter auftreten und auch mal kleine Fehler zulassen. Schließlich sind wir ja alle nur Menschen mit unseren Stärken und Schwächen und keine Roboter. Als eine Kellnerin beim Abräumen des Geschirrs eine Gabel fallen ließ stand sie schockstarr einen Moment herum und erwartete das übliche Donnerwetter.
„Sehen Sie sich beim nächsten Mal einfach etwas mehr vor“ sagte Büchsenschuss sanft zu ihr und hob die Gabel selbst auf.
„Kann schon mal vorkommen“ fuhr er noch fort „also bitte, demnächst mehr Obacht.“
„Na sehen Sie“ meinte Hannelore Petersen „Sie können doch ausgesprochen pädagogisch handeln, warum nicht gleich so. Auf diesem Wege kommt man doch weiter als gleich auszurasten.“
„Ich möchte bemerken, dass Ihre Anwesenheit und das, was Sie mir anfangs sagten, bei mir tiefes Nachdenken ausgelöst hat“ antwortete Herbert Büchsenschuss mit schon unsicherer Aussprache und Tränen traten in seine Augen „irgendwie haben Sie mir heute die Augen geöffnet und wenn ich es mir recht überlege, bin ich mein ganzes Leben lang einer Chimäre hinterhergejagt. Ich wollte immer höher hinauf und immer besser als die anderen sein. Das werden Sie, Herr Ministerpräsident, sicher gut verstehen können.“
Frieder Bergmann nickte stumm, Büchsenschuss schenkte nochmals nach und fuhr fort.
„Welchen Preis habe ich dafür bezahlt? Ja, Frauen waren mir nicht korrekt genug und zu geschwätzig, eine Familie hätte meine Kariere nur gestört. Und ich habe mich immer widerstandslos meinen Vorgesetzten gefügt, musste die Kastanien aus dem Feuer holen, dort wo es gerade mal wieder irgendwo auf der Welt in einem unserer Hotels brannte. Klar habe ich die Läden wieder auf Kurs gebracht, aber dann musste ich schon wieder weiterziehen, um wieder in die Scheiße hinein zu tauchen. Wo die Kacke am Dampfen war, dort war Herbert Büchsenschuss.“
Der Direktor goss sich nach, fischte aus seiner teuren Jackettasche den Schlüssel zum Giftschrank heraus und gab ihn dem Sommelier.
„Holen Sie mal bitte die zweite Flasche, die bezahle ich selbst.“
„Ich war in New York, Hongkong, Mailand, Kapstadt, Moskau, Tokio, Amsterdam, Sydney, Kuala Lumpur, Bogota und Paris“ setzte der Direktor seinen Monolog leicht schwankend fort als der Sommelier gegangen war „und was habe ich von diesen Städte gesehen? Nichts! Ich war 7 Tage in der Woche im Hotel. Dienstwohnung, Kleidergeld, kostenlose Verpflegung, ich hatte keinerlei Ausgaben. Dafür bin ich von früh bis abends auf der Suche nach Fehlern meiner Leute vom Keller bis zum Boden unterwegs gewesen und bin fündig geworden. Der Laden lief dann zwar wieder gut, aber ich hatte ihm mit den kleinen Unzulänglichkeiten die Seele genommen. Alles war perfekt, aber leblos geworden.“
Er goss sich wieder nach und seine Gäste sowie der Sommelier und Nguyễn Văn Dũng hörten ihm betroffen zu.
„Mit jeder neuen Station wurde mein Gehalt erhöht, und wenn ich wollte, könnte ich mich morgen zur Ruhe setzen. Ich bin aber am meisten darüber frustriert, dass ich nur einmal gegen die Konzernführung opponiert habe und auch wieder gescheitert bin. Dieser Raum hier war früher sehr schlicht gehalten und ich habe mich dafür stark gemacht, ihn so zu belassen. Weil ich aber das Ergebnis in diesem Haus hier so verbessert hatte musste der Überschuss investiert werden, und das geschah mit diesen beschissenen Tapeten. Sehen Sie sich diese Geschmacklosigkeit doch einmal näher an! Davon bekommt man doch Augenkrebs! Und ich habe mich wieder einmal gefügt.“
Herbert Büchsenschuss brach in Tränen aus, goss sich nach und trank.
„Ich habe die ganze Zeit nur eine Rolle gespielt, mich zurückgehalten, mich verbogen, gegen meinen eigenen Willen. Dem Gast wollte ich dienen, aber in Wahrheit habe ich nur den Reichtum der Eigentümer gemehrt, und die haben meine Korrektheit und Loyalität schamlos ausgenutzt. Ich könnte so was von Kotzen!“
„Beruhigen Sie sich doch bitte“ bat Hannelore Petersen „Ihre Geschichte geht mir unter die Haut, Sie Ärmster.“
Dann begann sie leise zu schluchzen und Petra und Paula schlossen sich ihr an, Frieder Bergmann und Peter Petersen rissen sich zusammen, um nicht auch heulen zu müssen.
„Persönlicher Referent“ sagte Claudia.
„Wie meinst du das“ fragte Peter Petersen erstaunt.
„Frieder sucht doch noch einen fähigen persönlichen Referenten“ erklärte Nils „aus psychologischer Sicht bringt Herr Büchsenschuss beste Voraussetzungen mit. Was für einen Menschen sehen wir vor uns? Einen grundehrlichen, bodenständigen Mann, der ein hohes Pflichtbewusstsein mitbringt und der seine eigenen Befindlichkeiten unterdrückt, wenn es der Sache dient. Er ist loyal bis zur Selbstverleugnung, und wenn seine Arbeit gewürdigt wird, ist er zu höchsten Leistungen fähig. Seine Korrektheit und auch die tiefsitzende Überzeugung, diskret zu handeln, ist besser als nach außen hin zu blenden, prädestinieren ihn für eine Aufgabe, die viel Koordinierungsgeschick und soziale Kompetenz verlangt. Außerdem hat er langjährige Leitungserfahrung. Er ist somit der ideale Partner für Frieder, der ja bekannter weise manchmal etwas ungelenk vorgeht. Frieder gibt sozusagen die Generalrichtung vor und Herr Büchsenschuss legt die einzelnen Etappen fest.“
„Das stimmt“ sagte Hannelore Petersen „der Junge könnte einen Mann an seiner Seite gebrauchen, der ein bisschen auf ihn aufpasst, wenn ihn wieder einmal der Hafer sticht.“
„Mutter, bitte“ erwiderte Frieder Bergmann.
„Der Gedanke ist nicht schlecht“ meinte Rüdiger „Papa repräsentiert und Herr Büchsenschuss arbeitet die Strategie aus, das würde wunderbar funktionieren.“
„Nun, Herr Büchsenschuss“ fragte Bergmann.
Herbert Büchsenschuss goss sich nochmals nach und überlegte einen Moment. Alles, was er sich in vielen Jahren aufgebaut hatte, könnte er mit einem kurzen Wort wegwischen. Aber er wollte etwas Neues wagen, sich einer Aufgabe stellen, bei der er Waiblingens Gestaltungsspielraum hatte. Aus verschleierten Augen und erheblich schwankend betrachtete er seine Gäste. Irgendwie strahlten diese pralles Leben aus, weil sie sich nicht stur an irgendwelche Normen hielten.
Er traf seinen Entschluss.
In leichten Zickzacklinien bewegte er sich zum Tisch und nahm dort ein spitzes Käsemesser auf.
„Nicht doch“ rief Paula erschrocken aus „bitte tun Sie nichts Unüberlegtes!“
„Keine Sorge“ kicherte Herbert Büchsenschuss und torkelte auf die Wand zu.
Dort schwankte er einen Moment hin und her, schien sich dann aber zu straffen und hob das Messer an. Mit kräftigen Bewegungen schnitt er in Brusthöhe in der Tapete herum, und weil er mit dem Rücken zu den anderen stand, war für diese nicht zu erkennen, was genau er tat. Büchsenschuss geriet aus der Lotrechten und driftete nach links und auf einen Servierwagen zu. Wohl um dort Halt zu finden wollte er sich auf diesem abstützen. Er konnte den Wagen zwar noch mit den Händen packen, aber dieser setzte sich in Bewegung und zog Herbert Büchsenschuss mit sich mit. Einen Moment blieb er noch auf den Beinen, aber dann kam er immer mehr in eine Schräglage und schlug letztlich auf dem Boden auf. Vor sich hin brabbelnd mühte er sich hoch, wankte zu einem freien Stuhl und ließ sich wortlos in diesem hineinfallen.
Die Gäste sowie der Sommelier und Nguyễn Văn Dũng starrten auf die Wand. Trotz seiner Trunkenheit war es Herbert Büchsenschuss gelungen, ein „Ja“ in die kostbare Tapete zu schnitzen. Das Wort war ganz deutlich zu sehen, denn der Hoteldirektor hatte es erstaunlicherweise geschafft, an diesen Stellen die Steinwand freizulegen, die hell schimmerte. Unter dem „Ja“ hatte der Mann noch eine Linie aus der Tapete geschnitten.
„Ein einfaches „Ja“ hätte doch auch gereicht“ brummte Frieder Bergmann „diese Schnitzarbeit wird Sie einen Batzen Geld kosten. Aber Sie sind engagiert. Nach meinem Urlaub erwarte ich Sie zum Dienstantritt.“
„Ein einfaches „Ja“ hätte eben nicht gereicht“ begann Nils eine Erklärung „wir sehen hier eine Geste von hoher Symbolkraft. Indem Herr Büchsenschuss seine Botschaft auf der ihm verhassten Tapete hinterlassen hat, hat er den Bruch mit seiner Vergangenheit eindeutig dokumentiert. Ganz bewusst und in Kenntnis der auf ihn zukommenden Ärgernisse mit seinem Arbeitgeber war es ihm das wert, denn er hat einen symbolischen Schlussstrich gezogen, denn das bedeutet die Linie unter dem „Ja“.“
„Vollkommen egal, was das zu bedeuten hat“ rief Peter Petersen aus „der Mann hat Courage, das gefällt mir sehr gut! Wie heißt dun überhaupt.“
„Herbert Büchsenschuss“ lallte der Hoteldirektor.
„Ich bin der Peter. Schenk‘ uns noch mal ein, Herbert.“
„Auch wenn Hannelore da anderer Auffassung sein wird, aber Peter handelt sehr oft intuitiv absolut richtig“ sagte Nils „denn er hat Herrn Büchsenschuss gerade bedeutet, dass er unsere Sympathien besitzt. Frieder sollte auch zum „Du“ übergehen, da sich die beiden unbedingt aufeinander verlassen müssen können. Ein „Sie“ schafft da nur unnötige Distanz. Herbert wird sozusagen ein zwar fremdes aber durchaus nahes Mitglied unserer Familie werden.“
„Das ist einleuchtend“ meinte Petra „das machen wir so. Bist du damit einverstanden, Herbert?“
„Ja, sehr gern.“
„Na prima“ meldete sich Peter Petersen „der Tag läuft ja blendend heute. Frieder ist Professor und ich bin verheiratet. Und wenn der Herbert dann bei Frieder an Bord geht und seine Arbeit organisieren wird kann es nicht ausbleiben, dass ihm auch ein paar Weiber dort über den Weg laufen. Vielleicht ist eine dabei, die zu ihm passt.“
„Apropos an Bord“ sagte Rüdiger „was wollen wir denn dieses Jahr im Urlaub unternehmen?“
„Wir waren Zelten, mit dem Hausboot unterwegs und haben letztes Jahr die Fahrradtour unternommen“ antwortete Paula „wir brauchen neue Ideen.“
„Also ich denke, dass sich Frieder als Ministerpräsident jetzt nicht mehr so ohne weiteres unter das gewöhnliche Volk mischen kann“ meinte seine Mutter „irgendwelche Typen vom Personenschutz werden doch ständig um ihn herum sein. Wir sollten dieses Jahr mal etwas Gediegeneres ins Auge fassen.“
„Und was zum Beispiel“ fragte Peter Petersen.
„Eine Schiffsreise.“
„Mit so einem richtig großen Kahn?“
„Genau.“
„Das wird doch aber ein Heidengeld kosten.“
„Bezahlt doch Frieder.“
„Wie bitte“ fuhr Bergmann hoch „du entscheidest darüber, wie ich mein Geld ausgebe? Die Zeiten Mutter, in denen ich mit meinem mickrigen Taschengeld auskommen musste, sind längst vorbei!“
„Bleib‘ doch mal ruhig“ antwortete Hannelore Petersen „wir sind 8 Leute, da wird sich doch ein ordentlicher Preisnachlass aushandeln lassen. Ich habe mich übrigens schon einmal informiert, es gibt da eine Route ab Warnemünde und zurück, 7 Tage. Die Doppelkabine kostet 1.075 Euro. Mal 4 Paare sind das 4.300 Euro. Für dich doch ein Pappenstiel Frieder.“
„Und die Getränke und die sonstigen Kosten?“
„Habe ich mit 1.700 Euro kalkuliert, macht also insgesamt 6.000 Euro. Peter und ich beteiligen uns mit 1.000 Euro, Claudia und Nils ebenfalls. Paula und Rüdiger zahlen nichts, die studieren noch. Du musst also nur 4.000 Euro berappen. Und dann lässt du über dein Büro, also über Herbert, diskret nachfragen, ob man das Angebot kostenfrei upgraden kann.“
„Erstens habe ich weder mein Einverständnis geäußert, so eine Art von Reise überhaupt unternehmen zu wollen“ erwiderte Frieder Bergmann erregt “und zweitens werde ich einen Teufel tun, bloß weil ich eine hohe Funktion bekleide, hier irgendwelche Vorteile auszuhandeln. Denkt daran, wie es diesem Wu… ergangen ist!“
„Aber Frieder, schau doch mal, so eine Reise wäre eine gute Kombination aus Erholung an Bord und dem Kulturprogramm, ich meine die Stadtbesichtigungen“ versuchte Petra einzulenken „und stell‘ dir mal vor, wie du hoch über der See auf dem Balkon sitzt, gemütlich eine rauchst und ein Bierchen zischst. Du richtest den Blick in die Ferne und entspannst dich total. Dann kannst du in einem der vielen Restaurants fein essen, schaust dir das Schiff an und man wird dir als hohem Gast doch sicher einmal Zugang zur Brücke oder dem Maschinenraum gewähren. Vielleicht darfst du das Schiff selbst mal einen Weile steuern.“
„Ich will keine Extrawürste! Außerdem will ich nicht im Geringsten in den Ruf geraten, dass ich wegen meiner Funktion besonders behandelt werde.“
„Rüdiger“ sagte Claudia.
„Eine Vorteilsannahme ist eine strafbare Handlung. Nach § 331 StGB liegt sie dann vor, wenn ein Amtsträger für sich oder einen Dritten einen Vorteil fordert, sich versprechen lässt oder annimmt“ erklärte Rüdiger.
„Wenn Papa sich zum Beispiel den Maschinenraum ansehen dürfte ist das vollkommen unbedenklich, da er ja dem Vorteilsgeber gegenüber kein Versprechen abgibt, ihm dafür eine anders geartete Gegenleistung zu gewähren.“
„Na bitte“ sagte Peter Petersen „dann geht das doch klar.“
„Formal gesehen ja“ ergänzte Nils „aber Frieder muss mit Fingerspitzengefühl vorgehen. Dass man ihn hofieren wird steht fest. Er muss also die Balance zwischen der Annahme bestimmter Sonderleistungen und die Ablehnung überzogener Bevorzugung finden. Das wird nicht immer leicht sein und wir alle sollten auch darauf achten, dass Frieder in keine Fettnäpfchen tritt.“
„Was ich für unwahrscheinlich halte“ warf Hannelore Petersen ein „so ein Schiff bietet doch eine Menge an Möglichkeiten, etwas anzustellen. Ich glaube nicht an Wunder. Aber trotzdem freue ich mich schon mächtig auf die Hochzeitsreise mit Peter. Wobei, der ist ja auch dafür bekannt, dass er manchmal komische Sachen macht.“