Читать книгу Familienurlaub könnte so schön sein, wenn bloß Mutter nicht mit dabei wäre! - Jörn Kolder - Страница 3
Vorbereitungen
ОглавлениеFrieder Bergmann hatte nur wenig Mühe gehabt, sich in seinen neuen Posten als Generalsekretär der Weltregierung einzuarbeiten.
Dabei war ihm zugutegekommen, dass er von Beginn seines Arbeitslebens an mit Verwaltungsprozessen aller Art zu tun gehabt hatte und in den vielen Jahren auch ein gewisses Geschick entwickelt hatte, Allianzen zu schmieden. Mit seiner freundlichen und manchmal etwas unbedarft erscheinenden Art wirkte er ausgesprochen sympathisch, und so war es ihm auch ein Leichtes, Verbündete für seine Ziele zu gewinnen. Bergmann hatte sich mit der Zeit eine solch hervorragende Rhetorik angeeignet, dass er sehr gewinnend und überzeugend rüberkam und wenig Mühe hatte, seine Vorhaben plausibel zu begründen. Da sich die elektronische Arbeitsweise in der UNO bestens bewährt hatte wurde sie kurzerhand auch in die Arbeitsorganisation der Weltregierung übernommen. Das hatte für Frieder Bergmann die erfreuliche Konsequenz, dass er seine Tätigkeit weiterhin von seinem Seegrundstück aus organisieren konnte. Was den Umgang mit elektronischen Dokumenten anbetraf war er etwas vorsichtiger geworden, denn das Debakel zur ersten elektronischen Abstimmung über eine UNO Resolution, als die Pornofilmchen auf seinem Laptop aufgetaucht waren, hatte er nicht vergessen. So gesehen könnte man schon sagen, dass Frieder Bergmann nun als Verwaltungsfachmann und Inhaber diverser hoher Ämter in den Jahren wie guter Wein gereift war, und er als alter Hase eigentlich alle Fallstricke in seiner beruflichen Tätigkeit sowie im gewöhnlichen Leben kennen sollte. Leider war es so, dass Frieder Bergmann eben Frieder Bergmann war und blieb.
Der Kodex der Weltregierung legte unter anderem fest, dass es bei einer 5-Tage-Arbeitswoche blieben sollte, nur in ganz brenzligen Fällen würde man operativ Kontakt miteinander aufnehmen und nach Lösungen suchen. Natürlich gab es momentan auch viele gefährliche Situationen rings auf der Erde, aber wer wollte schon für sich behaupten, alle diese bereinigen zu können. Der Aufgabenkatalog der Weltregierung war riesig. An erster Stelle stand die Vermeidung oder Beendigung militärischer Konflikte. Dann folgte die Bekämpfung von Armut, Hunger, fehlender gesundheitlicher Betreuung und Bildung. Der Umweltschutz spielte eine wichtige Rolle. Ein weiteres Ziel war die wirtschaftliche Entwicklung, wobei sich Chinesen, Amerikaner und die Europäer immer mehr in die Haare gerieten. Vollkommen logisch ergab sich aus diesem Wettkampf auch ein Run auf diverse Bodenschätze. Frieder Bergmann zog gedanklich den Hut vor seinem Freund Deng Peng Kläng, denn die Chinesen hatten sich in Afrika schon lange und ziemlich ungeniert recht breit gemacht, und sich somit den Zugang zu allen möglichen Rohstoffen gesichert. Darüber, dass man diese Aktionen unter dem Deckmantel der Entwicklungshilfe betrieb, konnte Bergmann nur müde lächeln, denn dazu war er schon viel zu lange im Geschäft. Dennoch machte sich in der Weltregierung zunehmend Unmut darüber breit, denn auch die Amis und die Russen begannen die Weltmeere nach Bodenschätzen abzugrasen und brachten das fragile Ökosystem immer mehr ins Wanken. Frieder Bergmann sollte einen Masterplan aufstellen, wie man zu einem gerechten Zugang aller Länder zu Rohstoffen kommen könnte.
„Ich bin überzeugter Weltbürger“ hatte er zu seinem Büroleiter Herbert Büchsenschuss und Chang Jang Diang mit Pathos in der Stimme gesagt „und sehe mich in der Pflicht, in Bezug auf den Zugang zu den Bodenschätzen Gleichheit herzustellen. Alle müssen die gleichen Chancen haben. Wir müssen Quoten festlegen. Aber ich gebe zu, einen schlüssigen Plan habe ich noch nicht.“
„Das wild eine schwielige Sache welden“ hatte Chang Jang Diang zu bedenken gegeben „ich bin Chinese und weiß, was Deng Peng Kläng in Aflika macht. Glaubst du Fliedel, el wild fleiwillig andelen Zugang gewählen wollen? Nein! Du musst übelzeugende Algumente finden, walum man soll Lohstoffe an alle gelecht velteilen. Und die, die selbst haben viele Lohstoffe müssen sie velkaufen an andele und nicht andelen Hahn zudlehen.“
„Auch wenn du dich als Weltbürger bezeichnest Frieder, musst du doch unsere nationalen Interessen mit berücksichtigen“ wandte Herbert Büchsenschuss ein „Deutschland darf nicht leer ausgehen. Auch wir haben Anrecht auf ein großes Stück vom Kuchen.“
„Und wie soll ich das denn nur machen?“
„Du lädst die größten Störenfriede zu dir hier ein und redest mit ihnen in einer gemütlichen und vertraulichen Runde. Bis dahin habe ich eine Verhandlungsstrategie für dich aufgestellt. Schreibe also an Deng Peng Kläng, Vadim Putkinow, Sylvio Berlosrenzi und Babbel Orama und bitte sie hierher. Überprüfe dein Getränkelager. Mache dir Gedanken, was du den vieren an diesem Abend und den folgenden Tagen bieten willst. Ich meine keine Nutten, sondern ein kulturelles Programm. Das absolvierst du mit ihnen, bevor es hier richtig zur Sache geht.“
„Was meinst du damit?“
„Na geh‘ mit ihnen in die Oper oder ins Theater. Lass‘ dir was einfallen, schließlich bist du ja der Chef.“
Frieder Bergmann stand seit geraumer Zeit mit Opernaufführungen oder Theaterstücken auf Kriegsfuß. Für ihn waren solche Veranstaltungen kein Genuss, sondern eher eine Qual. Dieses Altmodische einer Oper hatte in ihm bei allem Respekt vor den Künstlern und deren Können nie richtige Begeisterung auslösen können. Ganz vorbei gewesen war es mit diesen kulturellen Erlebnissen dann, als er mit seiner Frau Petra „Salome“ besucht hatte. Bergmann wusste, dass für eine kräftige und ausdrucksstarke Stimme ein ausladender Brustkasten als Resonanzkörper große Vorteile hatte. Salome brachte zusätzlich noch einen riesigen und wogenden Busen mit, und ungefähr 30 Kilo Übergewicht. Da die Sängerin recht klein war, konnte man sie – wenn man bösartig an die Sache heranging – als eine Art Kasten bezeichnen. Dieser mit den sieben Schleiern drapierte Kasten setzte nun an einer Stelle der Oper zu einer Tanzeinlage an, die Frieder Bergmann erst fassungslos auf die Bühne starren, und dann ein erstes und noch leises Kichern aus seiner Kehle steigen ließ. Seine Frau Petra stieß ihn kräftig mit dem Fuß an. Salome musste jetzt noch nach und nach tanzend ihre sieben Schleier loswerden, und das tat sie aufgrund ihrer unvorteilhaften Figur nicht etwa elegant, sondern wie ein Dorftrampel. Bergmann hatte sein Taschentuch aus der Hose gefummelt und hielt es vor den Mund, um einen Hustenreiz zu imitieren. In Wahrheit musste er damit einen gewaltigen Heiterkeitsausbruch unterdrücken. Irgendwann, vielleicht, als der fünfte Schleier von Salome wenig grazil und unter eigenartigen Verrenkungen auf die Bühne geworfen worden war, hielt er es nicht mehr aus, sondern lachte gellend los. Empörte Blicke rings um ihn zwangen ihn sofort aus dem Sitz hoch. Immer noch laut kichernd kämpfte sich Frieder Bergmann durch die Reihe und verschwand aus dem Konzertsaal. Nach dem auf diese Aktion folgenden Donnerwetter seiner Frau war seine Karriere als Opernbesucher ein für alle Mal beendet.
Auch im Theater schaute er immer wieder verstohlen auf die Uhr, wann das Stück denn nun endlich vorbei wäre. Anfangs war er durchaus mit Interesse in die Aufführungen gegangen, aber im Verlaufe der Zeit waren die Regisseure immer mehr von der klassischen Art der Darstellung abgewichen und hatten sich mit ihren Bühnenbildern, Kostümierungen und der Verfremdung des Stoffes so weit vom Original entfernt, dass Bergmann nur noch Bahnhof verstand. Ihm schwante nichts Gutes, als ihn Petra auf eine zeitgenössige Interpretation des „Faust“ vorbereitete und etwas von „einer Interaktion der Darsteller mit den Zuschauern“ vorlas. Den Stoff des Stückes hatte er in der Schule ja bis zum Erbrechen durchkauen müssen und empfand wenig Neigung, diese Handlung jetzt auch noch „interaktiv“ erleben zu müssen. Unglücklicherweise hatte Frieder Bergmann einen Platz direkt am Mittelgang und ziemlich weit vorn erwischt, und wurde nach zirka anderthalb Stunden ein Opfer eben dieser Interaktion. Er hatte gerade schläfrig darüber nachgegrübelt, warum Mephisto auf einmal in SS Uniform aufgetreten war und Faust sein Gretchen auf offener Bühne von hinten vögelte. Faust verstand er durchaus schon, er war halt ein Mann und musste seine Triebe ausleben. Warum Mephisto aber in diesen schwarzen Klamotten auf der Bühne herumstieg blieb für Bergmann mehr als rätselhaft. Er memorierte: was will uns der Regisseur damit sagen? Über die Rolle der SS im Krieg war Bergmann als militärisch Interessierter bestens im Bilde. Diese unangenehmen Typen hatten sich mit ihren Taten nämlich überhaupt nicht beliebt und überhaupt keine Freunde gemacht und verkörperten gemeinhin das Böse. Gerade als er einen möglichen Interpretationsansatz gefunden hatte, wurde er aus seinen Gedanken und vom Sitz gerissen.
„Komm‘ mit mir, Fremder“ brüllte Mephisto in den Zuschauerraum hinein und Bergmann an „jetzt wollen wir dem Meister Faustus zeigen, wie sehr er irrt! Er dünkt sich klug, dabei ist er doch nur ein Tor! Sieh, er ist dem Weibe verfallen, bist du es auch?“
Frieder Bergmann wies hilflos auf seine in der Reihe sitzende Frau.
„Ha“ brüllte der SS Mephisto „du bist dem gleichen Buhlen erlegen wie er. Du Narr! Lass uns Meister Faustus von seinem Irrtum heilen.“
Der Schauspieler packte Frieder Bergmanns Arm und zerrte ihn hinter sich her. Über eine Treppe zog er Bergmann auf die Bühne hinauf. Dieser stand unsicher im Rampenlicht und schlotterte vor sich hin, denn sein interaktiver Einsatz würde jetzt sicher erst richtig beginnen. Er hatte sich nicht geirrt. Mephisto schleifte Bergmann zu Faust, dieser baute sich drohend vor ihm auf.
„Sag, du Wurm, du willst mir, dem Meister Faustus, eine Lektion erteilen? Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemühn. Da steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor! Und du, du Kümmerling, was hast du studiert?“
„Verwaltungswissenschaft“ erwiderte Frieder Bergmann eingeschüchtert.
„Ha“ brüllte Faust los „eine Kunst, die keine ist! Gehst dem Müßiggang nach, du fauler Schreiberling? Gibst dich der Völlerei und der Wollust hin? Seh‘ ich doch ein geiles Glitzern in den Augen deiner Buhlerin! Löse dich von deinen Lastern, oder du wirst untergehen! Sieh, die Hexen nahen schon!“
Frieder Bergmann vermutete, dass jetzt die Szene aus der Hexenküche kommen würde, und er hatte sich nicht geirrt. Jetzt wurde er von zehn fast vollkommen nackten Frauen – die lediglich im Schritt eine Art Feigenblatt trugen – umtanzt. Bergmann hatte im Regelfall überhaupt nichts dagegen, sich jederzeit gut gebaute nackte Frauen anzusehen. In der jetzigen Situation hatte der Anblick der auf und niederwippenden Möpse für ihn aber keine anregende Wirkung, sondern war eher angsteinflößend, denn in Sinne der angekündigten Interaktion der Darsteller mit den Zuschauern musste jetzt irgendetwas passieren. Es passierte. Ehe sich Bergmann versah, wurde er von den Frauen wie ein Brett in die Höhe gehoben und über die Bühne getragen. Er dachte verzweifelt darüber nach, wie er sich aus dieser misslichen Lage befreien könnte. Auf dem Rücken liegend und von den Frauen über die Bühne getragen war Bergmanns Blickfeld stark eingeschränkt, er konnte nur das sehen, was sich über ihm befand. Mephisto brüllte jetzt:
„An den Pranger mit dem Hundsfott! Jetzt lasst ihn für seine Geilheit büßen und reißt ihm die Kleider vom Leibe. Bindet ihn nackt an den Pranger. Nun soll er für seine Sünden zahlen! Ha, das wird ein Fest werden!“
Faust lachte diabolisch.
In diesem Moment beschloss Frieder Bergmann voller Panik, sich nicht mehr länger zum Objekt der Interaktion machen zu lassen, sondern selbst in die Initiative zu gehen. Als ein vom Theaterhimmel herabbaumelndes Seil in seinen Blick geriet, packte er es entschlossen. Da sich die Frauen immer noch über die Bühne in Richtung Pranger vorwärts bewegten, aber Bergmann sich nunmehr wie ein Affe an das Seil klammerte, kam es dazu, dass Frieder Bergmann den Hexen plötzlich aus den Händen gerissen wurde. Sich am Seil festhaltend schwang er in knapp zwei Metern Höhe über dem Bühnenboden wie Tarzan an seiner Liane durch den Dschungel. Im Gegensatz zu dem Dschungelbewohner ging Frieder Bergmann jedoch jegliche Geschicklichkeit im Umgang mit dem Seil ab. Im nächsten Moment wurde er an die Bühnendekoration geschleudert und warf mit seiner kinetischen Energie zwei große Tafeln um. Bergmann selbst flog noch ein kleines Stück weiter und landete unsanft hinter der Dekoration. Durch die umstürzenden Kulissentafeln wurde jedoch eine unheilvolle Kettenreaktion in Gang gesetzt. Da die Teile der Kulisse miteinander verbunden waren krachten jetzt auch alle anderen um und verwandelten die Bühne in eine apokalyptische Landschaft aus zerborstenen und wild durcheinanderliegenden Holzteilen. Frieder Bergmann hatte sich aufgerappelt und wurde eiligst von zwei Leuten gepackt, sofort von der Bühne entfernt, und in einen Bereich hinter diese gebracht. Von dort aus hörte er Mephisto auf der Bühne brüllen:
„Ha, der feige Schreiberling ist in die Hölle befördert worden! Dort soll er grässlich schmoren!“
Frieder Bergmann konnte in diesem Moment trotz seiner Verwirrung eine gewisse Hochachtung für den Darsteller des Mephistos nicht leugnen, denn der Mann hatte blitzschnell improvisiert und auf die unerwartete Wendung durch Bergmanns Einlage ganz hervorragend reagiert.
Beim technischen Personal des Theaters herrschte aufgrund Bergmanns Wirken totale Konfusion, so dass man ihn nicht mehr weiter beachtete, schließlich mussten die Leute das Chaos auf der Bühne schnellstens entschärfen. Aufgeregtes hin- und her Gebrülle zeugte davon, dass die Typen dafür keinen richtigen Plan hatten.
Mephisto musste wieder seinen Senf zu der Situation dazugeben.
„Ha, sehet doch, der unnütze Schreiberling kann nur zerstörerisch wirken, zu einer schöpferischen That ist er wegen seines schwachen Geistes gar nicht imstande. Oh, hütet euch vor solchen Leut. So lasset uns jetzt eine Rast einlegen, denn den Schuft will ich mir greifen! Und wenn ich ihn aus der Hölle wieder herausholen muss! Ja, ich will dem Wurm am Pranger sehen. So begebe ich mich jetzt auf die Reise, um den Schreiberling zu packen. Wartet einen Moment, dann sollet ihr ihn bald am Pranger winseln hören.“
Der Bühnenvorhang rauschte herab.
Frieder Bergmann hatte eine ziemlich ungute Vermutung, was das Vorhaben von Mephisto anbetraf. Der Mann war unüberhörbar etwas auf Brass, und wie er aus dem Stehgreif heraus in eine Pause überleitet hatte, war schon beachtlich. Mephisto war zweifellos ein nicht zu unterschätzender Gegner. Ein klärendes Gespräch über die Umstände, die zur Zerstörung der Bühnendekoration geführt hatten, war aufgrund des wütenden Tonfalls des Schauspielers sicher nicht der richtige Weg. Frieder Bergmann musste also schnellsten Raum gewinnen, schlich sich weiter in den Hintergrund der Bühne hinein, und suchte nach einem Ausweg aus diesem Bereich. Da er eilige Schritte näherkommen hörte nahm er eine abwärtsführende Treppe um nicht entdeckt zu werden.
„Wo ist diese blöde Sau“ brüllte es etwas entfernt von ihm unbeherrscht „wenn ich den kriege kann er sich über blaue Augen freuen. Gerade heute zur Premiere schmeißt der uns die Vorstellung! So ein dummes Schwein! Los, sucht ihn mit. Den binde ich eigenhändig an den Pranger an. Und zwar splitterfasernackt!“
Frieder Bergmann wagte nicht sich vorzustellen, wie er vor hunderten von Zuschauern nackt auf der Bühne am Pranger angebunden wäre. Er lief leise aber schnell weiter. Der Gang schien unter der Bühne zu verlaufen und Bergmann sah zwei Möglichkeiten vor sich. Entweder fand er einen Ausgang nach draußen, über den vielleicht irgendwelche technischen Geräte angeliefert würden, oder, er musste sich solange irgendwo verstecken, bis die Vorstellung weiterging. Ewig konnte Mephisto die Pause ja auch nicht strecken. Am Ende des Ganges erkannte er tatsächlich eine massive Stahltür, sie war aber verschlossen. Sich umdrehend nahm Bergmann wahr, dass auf der linken Seite des Ganges ebenfalls Türen vorhanden waren. Als er meinte Schritte zu hören, klinkte er panisch an der ersten. Diese war unverschlossen und Frieder Bergmann schlüpfte dort schnell hinein. Die Tür zog er leise von innen zu. Er befand sich wieder in einem Gang. Schwacher Lichtschein erhellte den Gang. Bergmann ging weiter und dann wusste er wo er sich befand, denn vor sich sah er auf einem Podest einen Stuhl und so etwas Ähnliches wie ein Pult. Er stand vor dem Souffleurkasten.
Um den interaktiven Charakter der Theateraufführung zu unterstreichen, sollte der Souffleurkasten für dieses Stück unbesetzt bleiben. Das war aber nur die halbe Wahrheit gewesen, denn die Dinge lagen eigentlich ganz anders. Dass Theater hatte die letzten Jahre unter ständigen Budgetkürzungen gelitten, und in deren Folge waren etliche renommierte Schauspieler abgewandert und hatten damit Platz für die zweite Reihe der Bühnenkünstler gemacht. Diese kaum talentierten Mimen brachten den Regisseur aber wegen ihrer eklatanten Textschwächen erst zur Weißglut, und dann zu der bitteren Erkenntnis, dass er mit diesen Luschen niemals eine Aufführung im klassischen Sinne hinbekommen würde. Nach einigem Überlegen und etlichen Wutausbrüchen war er dann auf den Trichter gekommen, die Sache unter dem Deckmantel einer avantgardistischen Performance so hinzustellen, als würde er ganz bewusst und voller Risikofreude theatergeschichtliches Neuland betreten wollen. Da der Regisseur leider nur zu gut um das fehlende textliche Merkvermögen seiner Truppe wusste hatte er eingesehen, dass selbst ein Souffleur die Chose nicht retten konnte. Die Vorgabe an die miserablen Schauspieler lautete also, sich so gut wie möglich an der Handlung entlang zu hangeln, und wenn wieder einmal Leere im Kopf sein sollte was den Text anbetraf, sich einfach wahllos einen Zuschauer zu schnappen, diesen auf die Bühne zu holen und dann irgendwie plausibel mit in das Spiel einzubinden.
Für Frieder Bergmann war der Souffleurkasten momentan sein Fluchtpunkt, aber er machte sich nichts vor. Oben und hinter der Bühne würden mit Sicherheit die Theaterleute auf ihn lauern, er saß in der Falle. So gesehen blieb ihm nur die Flucht nach vorn, also aus dem Souffleurkasten heraus und über die Bühne in den Zuschauerraum. Der Vorhang rauschte nach oben und Bergmann vernahm Schritte auf dem Bühnenboden. Die Vorstellung ging weiter, Mephisto trat auf.
„Nun, edle Damen und Herren, so ist es mir nicht gelungen, den Schreiberling in der Hölle aufzuspüren, allzu schwer sind wohl seine Sünden. Aber wartet, er sitzt wie eine erbärmliche Maus in der Falle. Und irgendwann wird er sein Schlupfloch verlassen und als jämmerliche Gestalt ans Tageslicht kommen. Meine Rache wird furchtbar sein. So lasset uns aber jetzt sehen, wie es dem Doktor Faustus ergangen ist. Er zweifelt, so wie ich zweifle. Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust….ähm, das also war des Dackels Kern.“
Frieder Bergmann hatte bekannter Weise den Faust in der Schule mächtig pauken müssen und war sich ziemlich sicher, dass Mephisto jetzt Text vortrug, den eigentlich Faust sprechen sollte. Was er nicht wissen konnte war, dass der Darsteller des Fausts sein enormes Lampenfieber vor der Aufführung mit einem viertel Liter Schnaps etwas gedämpft hatte. Bis zu der von Bergmann veranlassten und unfreiwilligen Pause lief es auch ganz gut für ihn, und in der Unterbrechung legte er erleichtert nochmals mit Fusel nach. Mit einem halben Liter Schnaps im Blut stand der Mann dann aber nur noch selig lächelnd auf den Brettern und war vollkommen weggetreten, den Text beherrschte er ohnehin nur fragmentarisch. Auch als ihn Mephisto mehrmals umkreiste und ihm zu zischte „du bist dran, du Blödmann“ reagiert er nicht. Der teuflische Geselle musste nunmehr wutentbrannt beide Rollen übernehmen, wobei er textlich zwangsläufig ins Schleudern geriet.
„Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön“ setzte Mephisto aufgebracht fort „dann magst du mich am Hobel blasen, und ich werd‘ vor Lust vergeh‘n.“
Frieder Bergmann war etwas erleichtert. Nun konnte er in relativer Ruhe seinen Fluchtplan schmieden, da Mephisto wohl mächtig beschäftigt war. Bergmann hatte die Kapitel des Stückes noch ganz gut im Gedächtnis, in der Walpurgisnacht war mit einer abgedunkelten Bühnenkulisse zu rechnen und diese Chance wollte er unbedingt nutzen. Ab und an lugte er nach oben aber ging gleich wieder in Deckung. Nach ungefähr 10 Minuten war es dann so weit.
„Ein bisschen Diebsgelüst, ein bisschen Rammelei“ stammelte Mephisto „wenn‘s ums Vögeln geht, da bin ich doch gleich mit dabei. So lasst uns jetzt die Hühner hacken und sie an den Titten packen. Frisch heraus, die geile Buhlschaft naht.“
„Jetzt, Doktor Faustus, wird dir Hörn und Sehn vergehn“ fuhr Mephisto fort und trat dann ganz dicht an Faust heran um diesen leise anzublaffen „wenn du nicht sofort mitmachst du Arschloch, kriegst du dann später mächtig eins in die Fresse“, was seinen Kollegen aber überhaupt nicht anfocht.
Dieser war durch den Alkohol so euphorisch und enthemmt, dass er Mephistos Anweisungen wortwörtlich in die Tat umsetzte, und einer Darstellerin lüstern an den blanken Busen fasste.
„Hast du sie noch alle“ giftete die Frau ihn an, aber der betrunkene Faust knetete die Brüste begeistert weiter.
Einen Moment später landete die Faust der Frau auf dessen rechtem Auge. Das schien bei dem Mann ein Textstück freigelegt zu haben, denn er lallte:
„Ich glaub', der Teufel ficht! Was ist denn das? Schon wird die Hand mir lahm.“
Als er wieder nach der Frau grabschte wollte diese ihn auf Distanz halten und trat ihm in den Unterleib. Faust taumelte kräftig gegen Mephisto und dieser ging zu Boden. Geistesgegenwärtig rief Mephisto:
„Wo bist Du, Faust, des Stimme mir erklang? Ein furchtsam weggekrümmter Wurm!“
Mit einem Satz war der Mann wieder auf den Beinen und war so außer Rand und Band geraten, dass er vollkommen außer sich „Gib nur erst acht, die Bestialität wird sich gar herrlich offenbaren“ brüllte und Faust seine Rechte auf das linke Auge pflanzte.
Dieser blieb noch einen Augenblick auf den Beinen, aber fiel dann wie ein nasser Sack um.
Frieder Bergmann hörte es von seiner Untergrundposition her poltern. Auf der Bühne spielten sich jetzt tumultartige Szenen ab. Mephisto und die anderen Darsteller hatten sich um den am Boden liegenden Faust gescharrt.
„Der ist hinüber“ sagte eine der Frauen bestürzt.
„Quatsch“ herrschte sie Mephisto an „tragt ihn nach hinten. Los, macht schon! Ich mache hier jetzt allein weiter.“
Frieder Bergmann sah seine Chance als gekommen an. Er glitt aus dem Souffleurkasten auf die Bühne und schlängelte sich wie ein Aal und dicht an die Bretter gepresst zur linken Seite der Bühne hin. Im Zwielicht war er auch wegen seines dunklen Anzuges kaum zu erkennen. Eine gute Grundausbildung bei der Armee hat schon seine Vorteile dachte Bergmann beim Vorwärtsgleiten. Damals hatte er es verflucht, wieder und wieder an den schlammigen Boden gepresst vorwärts rutschen zu müssen, ohne seinen Hintern auch nur einen Millimeter anheben zu dürfen. Jetzt erwachten seine Reflexe wieder und er kam ganz gut voran.
Durch die fortlaufenden Budgetkürzungen war es über die Zeit hin zu einem erheblichen Reparaturstau im Theater gekommen. Der ehemals von einem starken Elektromotor auf und nieder bewegte schwere Bühnenvorhang wurde nunmehr durch einen Rentner, der sich ein paar Märker dazuverdienen wollte, bedient. Mithilfe einer simplen Kurbel konnte man den Vorhang nun hoch- oder herunterlassen. War der Vorhang hochgezogen, arretierte der Rentner die Kurbel mit einem Stahlstift. Sollte er ihn herunterlassen, entfernte er den Stift und drehte die Kurbel langsam gegen den Uhrzeigersinn. Die Laufstege der hoch über der Bühne und hinter dem Vorhang angebrachten Beleuchtungsanlage durften wegen Baufälligkeit schon lange nicht mehr betreten werden. Früher waren da oben zwei Beleuchtungstechniker postiert gewesen, die die Scheinwerferkegel punktgenau auf die Darsteller richten konnten. Als das nicht mehr möglich gewesen war hatte der technische Leiter des Theaters mächtig improvisieren müssen. Am linken Rand der Bühne war eine Art Verschlag aus Holz aufgebaut worden, der zum Bühnenhintergrund hin offen war, und in dem neben dem Rentner noch ein anderer Mann saß. Für die optische Abtrennung zum Zuschauerraum hin war mit einem ausgeblichenen Vorhang gesorgt worden. Der technische Leiter hatte wegen der zur Verfügung stehenden nur knappen Mittel auf eine ganz und gar mechanische Lösung gesetzt. Mittels Umlenkrollen an den Scheinwerfern und drehbaren Halterungen für diese sowie dorthin führenden Seilen konnte der Mann neben dem Rentner wie ein Marionettenspieler an einer Vielzahl von Seilen die entsprechenden Einstellungen vornehmen. Zur Befestigung der Seile war aus Kostengründen eine denkbar einfache Konstruktion zum Einsatz gekommen. Es handelte sich um einen handelsüblichen Tisch, auf dem ein Stahlgestell angeschraubt worden war. An dessen Oberseite befanden sich Zinken wie bei einem Rechen. Der Mann schlang die Seile einfach um die Zinken und befestigte sie so. Den Tisch hatte man sicherheitshalber nicht am Bühnenboden angeschraubt, da dieser schon ziemlich marode und morsch war.
Mephisto hatte sich nach dem Abtransport von Faust wieder einigermaßen gefangen und setzte zum Schlussmonolog an.
„Hier steh‘ ich nun, ich dummes Schwein, und wollte doch viel klüger sein.
Faust ist in das Grab gefahren, noch vor seinen besten Jahren.
Hat gebuhlt wie ein geiler Bock, und war flink her hinter jedem Rock.
Hat gebüßt mit Höllenqual, denn Kondom war ihm egal.
Hat die Pfeife sich verbrannt, Gretchen hat er schwer verdammt.
Nützt kein Klagen, nützt kein Jammern,
siehste Faust, das kommt vom Rammeln.
Nach Weisheit streben wolltest du, doch dann kam die dumme Kuh.
Hat den Kopf dir flugs verdreht, alles war nun schon zu spät.
Statt nach Göttlichem zu ringen, musstest sie zur Strecke bringen.
Was ist Lohn der Bumserei gewesen, dein Schwanz konnt‘ nie wieder genesen.
Brennt wie Feuer lodernd heiß, Schmerzen treiben massig Schweiß.“
Als Mephisto an dieser Stelle angekommen war erreichte Frieder Bergmann kriechend den Verschlag von der rückwärtigen Bühnenseite her. Der Rentner war weggenickt, und der Bediener der Beleuchtungsanlage hatte momentan auch nichts zu tun, da alle Scheinwerfer von ihm auf Mephisto eingestellt worden waren. Der Mann starrte einfach nur so vor sich hin. Bergmanns Blickwinkel war aufgrund seiner bodennahen Lage und der Lichtverhältnisse arg begrenzt. Er sah, dass er sich nunmehr in einem abgetrennten Raum befand, aber mehr konnte er nicht erkennen. Bergmann befand sich nun direkt unter dem Tisch mit den Seilbefestigungen.
Mephisto deklamierte:
„Faust, oh Faust, du bist mir ein Graus!
Wolltest in den Himmel steigen, um Gottgleichheit zu zeigen.
Doch statt Erleuchtung dort zu finden, alle Kräfte mächtig schwinden.
Früher war dein Schwanz wie Stahl, heuer gibt es nur noch Qual.
Und die Lehr‘ aus der Geschicht‘, ohne Kondom fickt man nicht!“
Frieder Bergmann ahnte, dass das Stück nun beendet war und er schleunigst Boden gewinnen musste solange Mephisto noch auf der Bühne war. Kurzentschlossen richtete er sich auf. Der unerwartete Widerstand des Tisches an seinem Rücken versetzte ihn so in Panik, dass er mit aller Kraft gegen das Möbelstück drückte. Wegen dessen fehlender Befestigung am Bühnenboden stürzte der Tisch polternd um. Da wäre noch hinnehmbar gewesen, aber unglücklicherweise strafften sich die Seile so stark, dass einige der drehbaren Befestigungen für die Scheinwerfer mitsamt dem Lichtspendern aus ihren Verankerungen gerissen wurden. Sekundenbruchteile später schlugen ein roter, ein blauer, ein gelber und ein grüner Scheinwerfer wie Bomben rings um Mephisto ein. Jetzt zeigte sich, trotz aller Textschwäche, die ganze Klasse des Schauspielers. Ohne mit der Wimper zu zucken stand die nervenstarke Rampensau unbeweglich inmitten des Infernos. Durch den ganzen Tumult war der Rentner erwacht und zog den Stift für die Arretierung der Kurbel hinaus. Da der Mann durch den Radau ziemlich durcheinander und noch schlaftrunken war bekam er die Kurbel nicht richtig zu fassen, wodurch der Theatervorhang mit Karacho herunterrauschte und nur wenige Zentimeter hinter Mephisto auf den morschen Bühnenboden krachte. Das machten die Befestigungen des Vorhanges oben am Bühnenhimmel nicht mehr mit. Mit einem hässlichen Reißen kam das schwere Stoffteil nun vollständig herabgestürzt und schlug mit all seinem Gewicht knapp hinter Mephisto auf dem Bühnenboden auf. Die Masse des Vorhangs und die Fallbeschleunigung sorgten dafür, dass nunmehr erhebliche kinetische Energie freigesetzt wurde und auf den Bühnenboden einwirkte. Dieser brach großflächig zusammen und auch Mephisto wurde mit in den Strudel der Zerstörung hineingerissen, er verschwand wie von Geisterhand von der Bühne und fand sich in der Nähe des Souffleurkastens, aber somit eine Etage tiefer wieder. Ohne zu zögern kletterte der furchtlose Mime wieder nach oben und fand noch ein Stück intakten Bühnenbodens, auf welchem er sich dem Publikum wieder präsentierte.
Noch herrschte Zwielicht auf der Bühne und im Saal. Als die Zuschauer begeistert aufsprangen und heftig applaudierten flutschte Bergmann nun wieder bäuchlings aus dem Verschlag und schlängelte sich zur linken Treppe hin. Er glitt diese immer noch in Bauchlage hinab und erreichte so den linken äußeren Gang. Da alle Blicke der Leute zur Bühne hin gerichtet waren konnte er dann in den Entengang wechseln und sich wenig später ganz aufrichten. Er schaute sich noch einmal kurz um. Mephisto empfing sich immer wieder verbeugend den Beifallssturm. Von seiner erhöhten Position im Zuschauerraum konnte Frieder Bergmann gut erkennen, dass der Bühnenboden zu mehr als der Hälfte eingebrochen war. Hinter dem Schauspieler lagen Teile des herabgestürzten Theatervorhanges, der Rest befand sich zusammen mit dem zersplitterten Holz des Bodens weiter unten und war nicht mehr zu sehen. Zwei Scheinwerfer waren dem Sturz in die Tiefe entgangen und lagen wie Bombenblindgänger nah bei Mephisto. Als Bergmann zwei Drittel des Ganges passiert hatte ging er in einen leichten Galopp über, verließ den Zuschauerraum, stürmte durch das Foyer und rannte zum Taxistand.
„Wie sehn Sie denn aus“ erkundigte sich der Taxifahrer bei Bergmann.
„Wieso“ blaffte dieser zurück „Sie sollen mich bloß nach Hause fahren und keine unerbetenen Fragen stellen.“
„Na ja“ meinte der Mann „ich wäre mit so einem schmutzigen Hemd niemals ins Theater gegangen.“
Frieder Bergmann richtete sich auf dem Rücksitz des Taxis ein wenig auf, um sich im Spiegel sehen zu können. Sei ehemals weißes Anzughemd war über und über mit schwarzen Streifen überzogen. Zu Hause angekommen nahm er sich als erstes ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann wartete er mit einem unguten Gefühl auf das Eintreffen seiner Frau. Aufgrund der wenig später folgenden wütenden und heftigen Reaktion von Petra Bergmann war Frieder Bergmann nun nicht mehr gewillt, seinen Fuß jemals wieder in einen Theaterraum zu setzen.